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Gefühle sprechen viele Sprachen

Wie Kunstwerke uns emotional bewegen, ist einer der Schwerpunkte, mit denen sich Wissenschaftler des Clusters „Languages of Emotion“ beschäftigen

18.04.2011

Forschung unter dem Mangetti-Baum: Eine Probandin nimmt an einem Projekt des Clusters "Language of Emotion" teil, bei dem Gesichtsausdrücke mit einem Blickbewegungsmesser erforscht werden.

Forschung unter dem Mangetti-Baum: Eine Probandin nimmt an einem Projekt des Clusters "Language of Emotion" teil, bei dem Gesichtsausdrücke mit einem Blickbewegungsmesser erforscht werden.
Bildquelle: Katja Liebal/Daniel Haun, LOE

Von Nina Diezemann

Der Opernfan dokumentierte seine Begeisterung illegal: Mit der Handykamera filmte er die Szene mit der sogenannten Wahnsinnsarie der Lucia di Lammermoor, gesungen von der französischen Sopranistin Natalie Dessay. Doch der wackelige Film zeigt nicht nur den dramatischen Höhepunkt von Gaetano Donizettis Werk. Der namenlose Zuschauer hat in einer Loge der Pariser Oper auch die eigene physische Reaktion auf den Kunstgenuss festgehalten – ungewollt, aber deutlich hörbar: Seine Atemfrequenz wird schneller, der Atem heftiger bis zum Schnaufen und am Ende – kurz bevor die Diva zum dreigestrichenen Es ansetzt – folgt eine endlos scheinende Atempause.

Kunstwerke haben die Kraft, Menschen zu berühren. Sie können heftige körperliche Reaktionen hervorbringen: Gänsehaut, Herzrasen, Atemlosigkeit. Deshalb sind Literatur, Film, Malerei, Tanz und Oper ein zentraler Untersuchungsgegenstand des Clusters „Languages of Emotion“. Der Forschungsverbund wird im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder gefördert.

Seit Ende 2007 erforschen Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaftler gemeinsam das Zusammenspiel von Sprache und Gefühl. Dieses spielt nicht nur bei der Beschäftigung mit Kunstwerken eine Rolle, sondern in nahezu allen Bereichen des menschlichen Lebens – vom Spracherwerb bei Kleinkindern bis hin zur Parteitagsrede in der großen Politik. Entsprechend umfangreich ist das Spektrum der in Projekten untersuchten Fragen: So schauen sich Ethnologen und Entwicklungspsychologen gemeinsam an, wie unterschiedlich Kinder in verschiedenen Kulturen erzogen werden, etwa in Indonesien und Madagaskar. Sie untersuchen, wie sich dies auf die Prägung des Gefühlserlebens auswirkt. Ein weiteres interdisziplinäres Team aus Soziologen und Psychologen fragt nach den Nationalgefühlen bei Fußballländerspielen. In anderen Projekten erforschen Wissenschaftler, was passiert, wenn Menschen eigene Emotionen und die von anderen nicht wahrnehmen und mitteilen können. Mehr als 200 Wissenschaftler aus rund 20 Disziplinen arbeiten in dem Forschungsverbund zusammen. Der Großteil von ihnen sitzt an der Freien Universität, es gibt aber auch Kooperationen mit der Technischen Universität, der Humboldt-Universität und einigen Max-Planck-Instituten.

Wie das „Kraftwerk der Gefühle“ Oper im 19. Jahrhundert funktionierte, will der Musik- und Theaterwissenschafts-Professor Clemens Risi herausfinden. Gemeinsam mit der Wissenschaftlerin Anna Toewe hat er das illegal aufgenommene Selbstzeugnis musikalischer Berührung im Internet aufgespürt. Erste Ergebnisse dieses Projekts werden demnächst publiziert.

Während Clemens Risi eine bestimmte Epoche der Operngeschichte aus der Perspektive der Theater- und Musikwissenschaften erforscht, arbeiten in anderen Projekten Literaturwissenschaftler und Psychologen zusammen.

So konnte durch experimentelle Forschung das schon von Aristoteles beschriebene „Paradox der Tragödie“ erhellt werden. Traurige Geschichten – einmal als Zeitungsnachricht, einmal als Kurzprosa präsentiert – werden bei gleichem Wortlaut als „Literatur“ signifikant lustvoller gelesen. Sogar Bilder ekelhaften Inhalts werden – sobald sie als Kunst deklariert werden – weitaus positiver betrachtet. „Die psychologische Theorie der Prägung unseres Denkens und Fühlens durch erlernte kognitive Schemata und affektive Erwartungen – in diesem Fall: durch ein mit ästhetischer Lust verknüpftes Konzept der Kunst – erklärt diesen experimentell gemessenen Effekt", erklärt Winfried Menninghaus, Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität und Initiator des Clusters. In einer Studie mit melodramatischen Filmen konnte zudem ein psychologischer Mechanismus nachgewiesen werden: Unter bestimmten Bedingungen wird intensives Berührtwerden als positiv erlebt – unabhängig davon, ob es durch freudiges oder trauriges Geschehen auf der Leinwand ausgelöst wird. Darüber hinaus konnte in einer weiteren Studie gezeigt werden, dass ästhetisch ansprechende Darstellungsformen wie Metrum und Reim der affektiven Reaktion einen weiteren „Kick ins Positive“ geben.

Die empirische Erforschung ästhetischer Phänomene kann nur durch die Zusammenarbeit von Geistes- und Naturwissenschaftlern gelingen, und erste Ergebnisse belegen, wie wissenschaftlich fruchtbar die Arbeit im Cluster „Languages of Emotion“ ist. Dass der dabei notwendige Verständigungsprozess zwischen den Disziplinen in den drei vergangenen Jahren manchmal eine besondere Herausforderung war, weiß Gisela Klann-Delius. Die Linguistik-Professorin war von Anfang an dabei: „Emotionen sprechen in vielen Zungen. Das war manchmal eine Last, denn die Sprache der anderen Disziplinen eröffnet sich einem nicht ohne Weiteres, meistens war die Arbeit über Fächergrenzen hinweg jedoch eine große Bereicherung.“

In der von Gisela Klann-Delius geleiteten Graduiertenschule des Clusters „Languages of Emotion“ werden Doktoranden deshalb von Anfang an darin geschult, ihre Dissertationsprojekte auch fachfremden Kommilitonen vorzustellen. „Das fand ich immer sehr hilfreich“, berichtet Sabine Aust, die als Psychologin zur Gefühlsblindheit arbeitet, der „Alexithymie“. „Da bekommt man Feedback von Leuten aus einer ganz anderen Fachrichtung. Die kommen auf Dinge, die einem selbst niemals aufgefallen wären.“ Sie schätzt es allerdings auch sehr, sich mit Wissenschaftlern auszutauschen, die sich mit demselben Thema beschäftigen. „Manche Fragen, etwa zur Auswertung von Daten, wären für die Doktoranden der anderen Fächer viel zu detailliert.“

Wie Literatur das Gefühlsleben von Lesern auch längerfristig verändern kann, hat Irina Rosa Kumschick in den vergangenen drei Jahren erfahren – zumindest wenn die Leser sieben bis neun Jahre alt sind und sich mit dem mehrfach ausgezeichneten Kinderbuch „Ein Schaf fürs Leben“ von Maritgen Matter beschäftigen. In diesem bändigt ein Wolf seine Instinkte und schenkt einem naiven Schaf das Leben, das er eigentlich reißen will. Die Psychologin und ehemalige Grundschullehrerin hat in einem Projekt unter der Leitung von Psychologie-Professor Michael Eid ein Programm entwickelt, mit dem die emotionale Kompetenz von Grundschülern gefördert werden soll. Nachdem die Kinder das Programm durchlaufen haben, sollen sie eigene und fremde Gefühle besser wahrnehmen, benennen, verstehen und darüber sprechen können. Erste Auswertungen zeigen: Jungen profitieren von dieser Intervention, und zwar fast stärker als Mädchen.

Es gibt verschiedene Wege, die Sprachen der Emotionen zu erforschen: Wie das Opernpublikum im 19. Jahrhundert emotional mitgerissen werden sollte, untersucht der Theaterwissenschaftler Clemens Risi mithilfe damaliger Operntheorien, Partituren und Libretti. In anderen Projekten – etwa denen von Literaturwissenschaftler Winfried Menninghaus – wird mit Experimenten die Rezeption von Kunst analysiert und gezeigt, dass Grundannahmen der ästhetischen Theorie empirisch nachweisbar sind. Das von Irina Rosa Kumschick und Michael Eid entwickelte Interventionsprogramm schließlich belegt, wie entscheidend Kinderliteratur auf das Gefühlserleben von Grundschulkindern einwirken kann.

Die vielfältigen Zugänge zum gemeinsamen Thema machten die Qualität des Clusters aus, sagt der Filmwissenschaftler Hermann Kappelhoff, seit Herbst vergangenen Jahres Cluster-Sprecher: „Warum ein Film zu Tränen rührt, der Refrain eines Liedes zum Ohrwurm wird oder ob eine Gruppe von Fußballfans tatsächlich das Gleiche empfindet – zu solchen Fragen wird es je nach Blickwinkel immer verschiedene Zugänge geben, aus denen sich wiederum neue, möglicherweise gemeinsame Perspektiven ergeben.“

Neben großen interdisziplinären Projekten bleibt also Raum für passionierte Einzelforschung. Auch ein Forschungsgegenstand kann begeistern – wenn sich das auch nicht immer so direkt dokumentieren lässt wie die Leidenschaft des Opernliebhabers für den Auftritt der Diva.

Im Internet:
www.languages-of-emotion.de/