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Geschichten der Zuversicht

Armut, Blockade, Hunger: Wie die Berliner allen Widrigkeiten trotzten und halfen, die Freie Universität aufzubauen

23.05.2011

Dagmar Brocksien-Galin war Mitbegründerin der "Heinzelmännchen".

Dagmar Brocksien-Galin war Mitbegründerin der "Heinzelmännchen".
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Horst Meyer sammelte als Schüler Geld für die Freie Universität.

Horst Meyer sammelte als Schüler Geld für die Freie Universität.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Von Florian Michaelis

Jede Geschichte hat einen Anfang; diese hat so viele, dass sie sich kaum zählen lassen. Sie beginnt bei einem Schüler, der sich engagieren will, und sie beginnt bei einer jungen Frau, die an Tuberkulose erkrankt. Sie beginnt bei Studenten und Bauarbeitern, bei Professoren und Soldaten. Sie beginnt bei Hunderten Berlinern, die mithalfen, eine Universität aufzubauen, die es nicht geben dürfte, wenn es nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit gegangen wäre.

Der Schüler heißt Horst Meyer. Ihm ist wichtig, dass es nie um das Geld ging, das er gesammelt hat. Zwar hat Horst Meyer die Beträge ordentlich aufgelistet, Zeile für Zeile: Aus der Klasse 12 a kamen 79,09 Ostmark, 20,50 Mark Ost und 2 West aus der 8a – zwölf Positionen insgesamt, die sich auf 261,00 Ost- und 2,90 Westmark summieren.

Doch es ging um viel mehr als ums Geld. Über Meyers Liste steht in klarer Schülerschrift: „Wir bauen unsere Zukunft“, datiert auf den 4. Oktober 1948.

Horst Meyer, damals 18 Jahre alt, Abiturient an der Rheingauschule in Friedenau, Mitglied des West-Berliner Schülerparlaments, träumte davon, Journalist zu werden. Er wollte studieren, aber „nicht bei den Kommunisten“ , wie er sich noch heute erinnert. Zusammen mit seinem Mitschüler Manfred Bürger startete er eine der ersten Spendensammlungen für die Freie Universität, die damals aufgebaut wurde. „Uns war klar, dass nur Mini-Beträge zusammenkommen“, sagt er, „aber wir wollten unsere Unterstützung zeigen.“ Insgesamt sammelten sie 365,30 Ost- und 5,15 Westmark. Seine Liste, die er noch heute in einer kleinen Mappe aufbewahrt, ist ein buchhalterischer Nachweis für den Idealismus der Berliner Jugend nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Stadt lag in Trümmern, Flugzeuge brachten Lebensmittel, Benzin, Medikamente – es war die Zeit der Berlin-Blockade und der Luftbrücke. Die Mägen der Jugendlichen waren leer, aber ihre Köpfe voller Ideen und Träume.

Mehr als 60 Jahre später profitieren Studenten der Freien Universität erneut von der Unterstützung ihrer Mitbürger: Bei den Deutschlandstipendien, die vom kommenden Wintersemester an vergeben werden, kommt die Hälfte des Geldes von privaten Spendern. Zeit für einen Blick zurück zu den Anfängen, zu den Unterstützern von früher: Die Freie Universität hat sich auf die Suche gemacht und in ihrer Beilage im Tagesspiegel Aufbauhelfer gebeten, sich zu melden. Denn ohne die tatkräftige Unterstützung der Berliner von damals wäre das Experiment Freie Universität nicht geglückt. Schließlich waren die ersten Monate und Jahre ein stetiger Kampf gegen den Mangel: Es gab zu wenige Stühle – die Studenten brachten ihre eigenen mit und trugen sie von Raum zu Raum. Ein Teil der Möbel stammte von privaten Spendern, ebenso eine Vielzahl der Bücher. Professoren hielten Vorlesungen in Kinosälen, Seminare fanden bei Kerzenlicht statt.

Zahlreich haben sich die Helfer von damals gemeldet, Horst Meyer ist einer von vielen. Ein anderer heißt Edgar Pusch, mittlerweile 91 Jahre alt. Er ist zu sehen auf einem Bild von 1949, auf dem sich einige Studenten nach einer Vorlesung um den damaligen Rektor Edwin Redslob scharen. „Wir sind an Schulen gegangen und haben Bücher gesammelt“, erzählt Pusch. Auch an die Mensa von damals, die ihren Namen eigentlich nicht verdiente, erinnert er sich – es war eine Baracke in der Ihnestraße. Pusch studierte Archäologie und packte mit an, half bei Reparaturen und Bauarbeiten. Später leitete er das Bauamt der Freien Universität.

Die ersten Studenten hatten wenig bis nichts. Um ein bisschen Geld zu verdienen, jobbten sie als Möbelpacker, klopften Teppiche, verluden Zement oder – besonders begehrt, weil nicht so anstrengend – lasen alten Damen vor. Es war die Geburtsstunde der studentischen Arbeitsvermittlung „Heinzelmännchen“. Mit aufgebaut hat sie Dagmar Brocksien-Galin, Jahrgang 1927, die zu den ersten Ethnologie-Studenten in Dahlem gehörte. Sie erzählt, wie sie damals Fenster putzte, für ein Puppentheater Kasperleköpfe bemalte und blinden Menschen half beim Besuch auf dem Schwarzmarkt. „Unser Motto war: Studenten machen alles für Sie, Tag und Nacht“, sagt sie. Das Logo der Arbeitsvermittlung, ein laufendes Heinzelmännchen, habe sie gemalt. Auch sie ist zu sehen auf dem Foto mit Rektor Edwin Redslob. Dagmar Brocksien-Galin und ihr Kommilitone Pusch heirateten und gründeten eine Familie. Weil sie manchmal nicht wusste, wohin mit den Kindern, schob sie den Kinderwagen einfach in manche Vorlesung, erzählt sie. Nebenbei arbeitete sie als Assistentin im Völkerkundemuseum. „Jeder hat sich irgendwie durchgeschlagen“, sagt sie.

Was die Aufbauhelfer erzählen, sind Geschichten der Zuversicht, im Kleinen wie im Großen: Trotz aller Widrigkeiten gelang es, die Freie Universität zu gründen und am Leben zu erhalten. Und auch die Aufbauhelfer mussten kämpfen, um durch- und voranzukommen. Bei Dagmar Brocksien-Galin etwa wurde Tuberkulose diagnostiziert – an den Schock und die Angst erinnert sie sich auch noch Jahrzehnte später. „Die Ärzte hatten mich schon aufgegeben“, sagt sie. Doch nach einem halben Jahr Behandlung und Kur kehrte sie nach Dahlem zurück, schloss ihr Studium ab und wurde promoviert, mit einer Arbeit über den ersten Kontakt der Polynesier mit Europäern. Sie zog nach Paris, schrieb Romane, Sachbücher, Jugendbücher, gewann Preise und engagiert sich noch heute für Straßenkinder und Indianer-Völker Kolumbiens.

Horst Meyer, der Schüler von damals, bekam keinen Studienplatz an der Freien Universität – es gab einfach zu wenige. Aber einen Dankesbrief hat ihm der damalige Kurator und spätere Kanzler der Universität, Friedrich von Bergmann, geschrieben. „Darauf war ich natürlich mächtig stolz“, sagt Meyer. Den Brief hat er aufgehoben, zusammen mit der Spendenliste. Enttäuscht sei er nicht gewesen, sondern realistisch genug, um es zu verstehen. Er arbeitete sich hoch, ohne Studium oder Ausbildung, verfasste erst als Werbetexter Anzeigen, schrieb dann in einem kleinen Nachrichtenbüro Meldungen und fuhr sie mit dem Fahrrad noch selbst bei den großen Zeitungen vorbei. Schließlich wurde er Verleger.

Das mit dem Studienplatz klappte erst in den folgenden Generationen: Meyers älterer Sohn studierte an der Freien Universität Medizin, sein jüngerer Germanistik, sein Enkel studiert jetzt Jura. „Was will man mehr?“, fragt Meyer, „heute bin ich der Freien Universität sehr dankbar.“

Sie ist es ihm auch; so wie den vielen anderen, mit denen die Geschichte dieser Universität begann.