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„Wir wussten nie, wem wir vertrauen konnten“

Grenzerfahrungen, Fluchthelfer und Flüchtlinge – die Freie Universität würdigte das Engagement ehemaliger Studierender mit einem Podiumsgespräch

15.08.2011

Erinnerung an dramatische Tage: Bei dem Podiumsgespräch diskutieren Roland Exner, Eberhard Bolle, Moderator Jürgen Engert, Burkhart Veigel, Jürgen Schleicher und Hans Lechermann (v.l.).

Erinnerung an dramatische Tage: Bei dem Podiumsgespräch diskutieren Roland Exner, Eberhard Bolle, Moderator Jürgen Engert, Burkhart Veigel, Jürgen Schleicher und Hans Lechermann (v.l.).
Bildquelle: Christine Boldt

Dunkelheit umgibt die Frauen, Männer und Kinder, die im September 1962 durch einen Tunnel nach West-Berlin fliehen. Sie müssen Teile der etwa 130 Meter langen Strecke auf allen Vieren bewältigen, und beim Erklimmen der Leitern in Richtung Ausgang reichen sie sich helfend die Hände. Außer der Kleidung am Leibe haben sie keinen persönlichen Besitz bei sich. Ihre Gesichter sind nachträglich unkenntlich gemacht, die Kamera wackelt, der Kommentator schweigt. Die Bilder sprechen für sich. Es sind fragmentarische Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die an diesem Abend zur Einleitung einer Podiumsdiskussion über Mauerbau, Fluchthelfer und Flüchtlinge im Henry-Ford-Bau der Freien Universität zu sehen sind: Szenen aus dem Dokumentarfilm „Ein Tunnel“, jenem unterirdischen Gang, der später den Namen „Tunnel 29“ erhalten wird, weil 29 Menschen unter dem Todesstreifen hindurch die Flucht in den Westen gelang.

Unter ihnen sind Angehörige und Bekannte einer Gruppe Studierender, die im Frühsommer 1962 im Keller einer Fabrik in der Bernauer Straße mit dem Tunnelbau begonnen hatte. Weil immer wieder Wasser in den Schacht eindrang, drohte das Projekt mehrmals zu scheitern, und erst nach monatelanger Arbeit kamen die Tunnelgräber im Keller eines Wohnhauses in der Ost-Berliner Schönholzstraße wieder ans Licht.

Mit 25 Millionen Zuschauern bei der Erstausstrahlung im Dezember 1962 habe der Film „Ein Tunnel“ in den Vereinigten Staaten ein außergewöhnlich hohes Interesse erregt, sagt Jochen Staadt vom Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität. Dennoch ist der mit drei Emmys ausgezeichnete Dokumentarfilm nicht unumstritten: Die Aufnahmen aus dem Schacht gelangten damals nur an die Öffentlichkeit, weil einige der Tunnelgräber sie an den amerikanischen Sender NBC verkauft hatten. Ein Spiegel-Artikel von 1963 kritisiert, dass der Film in den Bürgern der DDR unerfüllbare Hoffnungen schüre und vor Pathos strotze. Zudem wird „den studentischen Kommerzien-Rettern“ ihr Handeln zur Last gelegt. „Lieber kein Zeitdokument als dieses“, urteilte der Spiegel damals.

Es ist eine Perspektive, die heute und angesichts der bewegenden Geschichten, die die fünf Zeitzeugen auf dem Podium zu erzählen haben, schwer nachvollziehbar erscheint. Und noch etwas anderes wird an diesem Abend deutlich: So sehr sich das öffentliche Interesse auch auf spektakuläre Fluchtaktionen wie den „Tunnel 29“ konzentriert, der Erfindungsreichtum der vom Mauerbau Betroffenen war um einiges größer.

Die Männer auf dem Podium waren damals Studierende der Freien Universität oder noch Schüler der Bertha-von-Suttner-Oberschule in Reinickendorf. Sie handelten durch ihren Widerstand gegen die DDR-Diktatur ganz im Sinne des Gründungsgedankens ihrer Hochschule, die die Freiheit im Namen trägt. „Angesichts der Tatsache, dass heutzutage ein Drittel der 30-jährigen Berliner nicht weiß, was am 13. August 1961 geschah, ist es eine Verpflichtung dieser Universität, die Geschehnisse von damals in Erinnerung zu rufen“, leitet Professor Werner Väth, Vizepräsident der Freien Universität, die Veranstaltung ein.

„Grenzerfahrung“ ist im Laufe dieses Abends ein Wort, das immer wieder fällt: in Bezug auf die bis heute unbegreifliche Teilung Berlins und das damit verbundene Auseinanderreißen von 50.000 Familien – ebenso wie in emotionalem Zusammenhang. Die Zeitzeugen berichten von Wut und Aufregung, von Angst, Fassungslosigkeit und von einer großen Hilflosigkeit angesichts der Vorgänge an der Sektorengrenze. Fluchthelfer und Flüchtlinge mussten nicht nur immer wieder neue Möglichkeiten zur Überwindung der Grenze finden, sie setzten sich auch selbst enormen Risiken aus.

Das belegen die eingespielten Mitschnitte der Interviews, die der Schriftsteller Uwe Johnson ab 1963 mit den beiden bereits verstorbenen Fluchthelfern der Freien Universität, Detlef Girrmann und Dieter Thieme, geführt hat. Darin befragt Johnson, der die DDR 1959 selbst verlassen hatte, die beiden Studenten zu ihrem „Unternehmen Reisebüro“, dessen „Geschäftsprinzip“ so einfach wie wirkungsvoll war: Die beiden fälschten ausländische Pässe, mit denen sie in Ost-Berlin verbliebene Studierende über die Grenze nach West-Berlin brachten. Dabei liefen sie stets Gefahr, von der Staatssicherheit unterwandert zu werden. Wie konnten die jungen Männer wissen, wer vertrauenswürdig war? Was verstanden sie unter Gerechtigkeit und Moral? Diese Tonbänder hatte Burkhart Veigel, einst selbst Teil der Girrmann-Gruppe und nun auf dem Podium im Henry-Ford-Bau, für ein Buch transkribiert und damit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Veigel war damals einer von mehreren sogenannten „Läufern“, die dank ihrer westdeutschen Herkunft Besorgungen im Ostteil der Stadt unternehmen konnten. Als Württemberger mit auch heute noch unverkennbarem Akzent war er zum Studium nach Berlin gekommen, „weil dort der Bär brummte“, wie er sagt. Der Mauerbau sei für ihn eine unfassbare Einschränkung der persönlichen Freiheit gewesen, das Ausreiseverbot für Kommilitonen aus dem Ostteil der Stadt ein Schock.

Trotz der gebotenen Eile planten die Studenten ihre Aktivitäten minutiös: „Wir hatten Decknamen und geheime Codes, um uns zur Übergabe der Pässe zu verabreden“, sagt Burkhart Veigel und berichtet von überschwänglichen Umarmungen, bei denen die Dokumente unbemerkt den Besitzer wechselten. Außerdem mussten Fluchtwillige auf ihre neue Identität vorbereitet werden, damit sie bei der Ausreise detailliert über ihren angeblichen persönlichen Hintergrund Auskunft geben konnten. Veigel schildert Situationen großer Ungewissheit, etwa wenn angeblich Fluchtwillige sich nicht am vereinbarten Treffpunkt einfanden. Denn ob jemand überhaupt gewillt war, die DDR zu verlassen, wusste man meist nur von Dritten. Der Einzige, der damals das Angebot zur Flucht ausgeschlagen habe, sei der spätere Bundesverkehrsminister Manfred Stolpe gewesen, sagt Veigel.

Glücklicher Empfänger eines gefälschten Ausweises war hingegen Hans Lechermann, der zunächst an der Humboldt-Universität Medizin studiert hatte. Getarnt als Österreicher gelang ihm am 14. Dezember 1961 die Flucht nach West-Berlin: „Ich hatte alle Etiketten aus der Kleidung entfernt, und der österreichische Dialekt gelang mir ganz gut. Das Durchschreiten der Grenze war dann reine Nervensache“, erzählt er rückblickend. Für ihn sei es damals keine Frage gewesen, nach der eigenen Flucht der Gruppe um Veigel beizutreten. Mithilfe von Kommilitonen aus der Zahnmedizin und Abdruckmasse für Zahnmodelle gelang es ihnen damals, die Stempel in den Ausweisen kontrollsicher zu imitieren. „Doch die Gefahr des Verrats lauerte ständig - jemand der uns Pässe brachte, hätte genauso gut ein Stasi-Spitzel sein können.“

Und die Gefahr wuchs. Die Grenzkontrollen wurden schärfer und die Gesichter der Helfer bei Spitzeln und Grenzsoldaten mit der Zeit immer bekannter. Dennoch: An Aufhören sei nicht zu denken gewesen, antwortet Burkhart Veigel auf die Frage des Gesprächsleiters und früheren Moderators des Fernsehmagazins Kontraste, Jürgen Engert, warum er weiter gemacht habe: „Ich konnte mich nicht einfach aus dem Staub machen angesichts der vielen Kontakte zu Fluchtwilligen.“ Zweimal versuchte die Staatssicherheit, ihn in West-Berlin zu entführen – erfolglos. Von 1962 an agiert Veigel dann selbstständig als Fluchthelfer, obwohl es für ihn zu diesem Zeitpunkt bereits zu gefährlich ist, selbst in den Ostteil der Stadt zu fahren. Stattdessen hilft er, Tunnel zu graben, und er bringt Fluchtwillige in speziell umgebauten Autos über die Grenze, etwa in einem Versteck hinter dem Armaturenbrett eines Cadillac.

„Als Student hatte ich 50.000 Mark Schulden, weil die Organisation der Fluchthilfe immer ausgefeilter sein musste“, sagt Veigel. „Wir hatten gehofft, dass uns das Geld irgendwann erstattet würde – aber das ist leider nie passiert. Material, Begleitpersonen, Testfahrten zur Kontrolle... Der Aufwand war sehr groß, darum habe ich dann erstmals Anzahlungen verlangt.“ Erst 1970 beendet er seine Aktivität als Fluchthelfer. Insgesamt ermöglichte seine Gruppe etwa 650 Menschen den Weg in den Westen. Das Geld sei für ihn nie ausschlaggebend gewesen, sagt Veigel: „Sicherlich lockte die Notlage der Menschen auch Leute an, die Geld verdienen wollten und die vielleicht kriminell waren. Ich war professionell und kannte das Metier – das war wesentlich. Allein mit Idealismus wäre erfolgreiche Fluchthilfe nicht möglich gewesen.“

Eine Erfolgsgeschichte hätte beinahe auch Eberhard Bolle zu erzählen gehabt. Doch sein Versuch, einem Freund in Ost-Berlin den West-Ausweis eines Spandauer Kommilitonen zu überbringen, scheiterte nur wenige Tage nach der Grenzschließung. „Ein neuer Ausweis wäre der einzige Ausweg gewesen“, sagt Bolle. Es ist ein emotionaler Moment im Hörsaal des Henry-Ford-Baus, als der heute 73-Jährige seine Unerfahrenheit einräumt und seine Stimme in Erinnerung an die Panzer am Hackeschen Markt ins Stocken gerät. Am Bahnhof Friedrichstraße sei er in verschärfte Grenzkontrollen geraten, wobei der zweite Ausweis zum Vorschein kam. „Im Verhör wurde ich in die Enge getrieben, ich war unvorbereitet und habe schließlich auch den Namen meines Freundes verraten“, gesteht Bolle vor den etwa 300 Zuhörern, von denen etliche selbst ehemalige Flüchtlinge, Fluchtwillige oder -helfer sind – und erntet für seine Ehrlichkeit großen Beifall. Bolle musste, wie auch der Freund, dem er hatte helfen wollen, für lange Zeit ins Gefängnis, dauerhaften Kontakt zu ihm konnte er nie wieder herstellen.

Einen wesentlichen Einschnitt noch vor Studienbeginn gab es auch im Leben von Roland Exner, damals Abiturient der Bertha-von-Suttner-Oberschule in Reinickendorf. Er berichtet von seiner Politisierung schon in jungen Jahren, die nicht zuletzt durch sein Interesse an den Aktivitäten der studentischen Widerstandsbewegung „Weiße Rose“ geweckt worden war, die während der Zeit des Nationalsozialismus gewirkt hatte. Aufgewachsen in Ostdeutschland erlebt er früh „die Schizophrenie der geteilten Welt“, die er mit jugendlichem Idealismus hofft, heilen zu können. Gemeinsam mit Mitschülern geht er an diesem 13. August an die Sektorengrenze in der Oderberger Straße, wo er in den Sitzstreik tritt: „Ich war emotional völlig aufgewühlt“, sagt Exner, „ich diskutierte und wurde schließlich festgenommen." Es folgen dreieinhalb Jahre in der Haftanstalt Bautzen, bevor er 1964 von der Bundesrepublik freigekauft wird.

Ein Mitschüler Exners war damals Jürgen Schleicher aus Frankfurt/Oder. Der junge Schleicher erlebt bereits die unpassierbare Oder-Neiße-Grenze in seiner Heimatstadt als Einschränkung der persönlichen Freiheit. Mit 15 Jahren wird er aus politischen Gründen von der Schule verwiesen - und geht nach West-Berlin. „Diese Bestrafung war für mich ein Glücksfall“, sagt Schleicher rückblickend. Glück ist es ebenfalls, dass er sich zum Zeitpunkt der Grenzschließung im Westteil der Stadt aufhält, wo er dann auch bleibt. Da noch Mitschüler jenseits der Mauer im Osten waren, stellten auch Lehrer Kontakte her und organisierten mit den Schülern Fluchten in den Westen. Hierfür konnte eine Zeit lang die Kanalisation als Weg genutzt werden, berichtet Schleicher.

„Über der Erde singen die Kommunisten ‚Brüder, zur Sonne, zur Freiheit' - hier, unter Tage, hat dieser Text einen neuen Sinn gewonnen“, heißt es am Ende des Filmausschnitts „Ein Tunnel“. An diesem Abend im Henry-Ford-Bau wird deutlich, dass die Freiheit nicht nur über unterirdische Wege zu erlangen war. Alle, die auf ihre Weise Widerstand leisteten, sind Wegbereiter der späteren friedlichen Revolution.


Zeitzeugen gesucht

Sie haben an der Freien Universität studiert und waren ebenfalls in der Fluchthilfe aktiv oder sind selbst geflohen? Dann schreiben Sie uns. Der Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität möchte die damaligen Ereignisse und persönlichen Erfahrungen von Studierenden der Freien Universität in einem wissenschaftlichen Dokumentationsprojekt untersuchen. Die Universität sucht deshalb Zeitzeugen. Sollten Sie Interesse haben, melden Sie sich bitte unter der Kontaktadresse:

Freie Universität Berlin, Forschungsverbund SED-Staat, Stichwort: Fluchthilfe, Koserstr. 21, 14195 Berlin, E-Mail: zdf-sed@fu-berlin.de, Telefon: (030) 838-55853.