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Wissenschaftler-Reise ins Ungewisse

Werner Gebhard startete am 13. August 1961 zu einer Exkursion nach Moskau

15.08.2011

Werner Gebhard wusste nicht, ob er nach dem Bau der Mauer wieder sicher aus Moskau nach Hause kommen würde.

Werner Gebhard wusste nicht, ob er nach dem Bau der Mauer wieder sicher aus Moskau nach Hause kommen würde.
Bildquelle: Privat

„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“ erklärt DDR-Staats- und Parteichef Walter Ulbricht am 15. Juni 1961 bei einer Pressekonferenz. Knapp zwei Monate später sitzen Werner Gebhard und seine aus 20 Studenten bestehende Reisegruppe am Morgen des 13. August 1961 beim Frühstück in Hannover. Sie hören Radio. Die gesendeten Lageberichte aus Berlin sind beängstigend und strafen Walter Ulbricht Lügen: Verrosteter Stacheldraht spannt sich quer über die Straßen, an den Sektorengrenzen werden Sperren errichtet, Pflastersteine zu Barrikaden aufgetürmt.

Gebhard ist zu diesem Zeitpunkt 31 Jahre alt und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Osteuropa-Institut der Freien Universität.

Von seinem Professor hat er den Auftrag, eine Reisegruppe zu einem zweiwöchigen kulturellen Austausch nach Moskau und Wolgograd zu begleiten. Da an der Exkursion nicht nur Studenten der Freien Universität teilnehmen, soll diese in Hannover starten.

Der seit Monaten geplante Abfahrtstermin der Reise in die Sowjetunion ist der 13. August 1961. Ungläubig hören Werner Gebhard und die Studenten die Berichte über die Abrieglung der Grenzen zum Sowjetsektor – und stehen mit einem Mal vor einer schwerwiegenden Frage: Die Reise nach Moskau antreten oder doch in der Bunderepublik bleiben?

„Ich habe zu den anderen gesagt, dass ich nicht fahren möchte“, sagt Werner Gebhard. Viel zu gefährlich erschien ihm, dem damals frisch verheirateten Mann und jungen Vater, die Reise ins Ungewisse. Auch die Biografie des heute 80-Jährigen spielte bei der Einschätzung der Situation eine wichtige Rolle: In Halberstadt, Sachsen-Anhalt, geboren, war er 1951 für ein Wirtschaftsstudium nach Ost-Berlin gekommen. Bis zum Volksaufstand am 17. Juni 1953 blieb Werner Gebhard an der Humboldt-Universität zu Berlin immatrikuliert. „Nach den Protesten hätte ich mich zum Wirtschaftssystem der DDR bekennen müssen, um mein Studium an der Humboldt-Universität fortsetzen zu können. Da bin ich nach West-Berlin an die Freie Universität gegangen“, sagt Gebhard, der später in Betriebswirtschaft promovierte.

Doch Werner Gebhards Argumente bleiben ungehört. Der Großteil der Studentengruppe möchte die Reise antreten - und setzt sich durch. Während in den ersten Tagen des Mauerbaus etliche Menschen versuchen, vom Ost- in den Westsektor zu fliehen, tritt die Gruppe um Werner Gebhard ihre Exkursion am 13. August 1961 mit der Bahn von Hannover über Berlin nach Moskau an.

Am Bahnhof Friedrichstraße angekommen, ist die Gruppe vollkommen fassungslos beim Anblick der Menschenmassen an den Bahnsteigen. „Die Stimmung war nervös und aufgeheizt“, erinnert sich Werner Gebhard heute, ein halbes Jahrhundert später. Überall aufgeregte Menschen, die mit der S-Bahn in den Westen fahren wollen – erlaubt ist es jedoch nur noch den Inhabern eines bundesdeutschen oder West-Berliner Passes.

Werner Gebhard besitzt einen Bundespass. Mit der rechten Hand hält er diesen über die Menschenmenge und ruft immer wieder „Delegation nach Moskau! Delegation nach Moskau!“ So bahnt sich die Gruppe ihren Weg durch die Masse und erreicht den sogenannten Ost-West-Express nach Moskau.

Anderthalb Tage und Nächte dauert die knapp 2000 Kilometer lange Fahrt in die sowjetische Hauptstadt, immer wieder unterbrochen durch Kontrollen. Kurz vor der Stadt Smolensk, schaut Werner Gebhard in der Nacht aus dem Fenster. Beim Anblick eines entgegenkommenden Zuges wird ihm mulmig: Die Güterwagen sind mit Planen bedeckt, doch deutlich zeichnen sich unter dem Verdeck die Umrisse von Panzern ab. Am Morgen des 15. August 1961 erreichen die Reisenden den Moskauer Bahnhof.

Die Gruppe macht sich auf den Weg zur Bundesdeutschen Botschaft in Moskau. Der Botschaftsmitarbeiter ist entsetzt: „Sind Sie verrückt? Wie konnten Sie diese Reise nur antreten?“, fragt er die Reisenden. Doch die erleben – allen äußeren Umständen zum Trotz – zehn angenehme Tage in Moskau und Wolgograd. „Die Begegnungen mit den jungen Russen waren wunderbar, wir wurden sehr herzlich aufgenommen“, sagt Werner Gebhard.

Nur ein Thema wird zwischen den deutschen und russischen Studierenden nicht angesprochen – der Bau der Mauer. Während der kompletten Reise hat die Gruppe um Werner Gebhard keinen Kontakt nach Hause. Umso schockierter sind er und die Studierenden, als sie am 27. August 1961 – ohne größere Zwischenfälle – wieder in Berlin ankommen. Die Berliner Mauer ist mittlerweile zur traurigen Realität geworden.

Am 13. Januar 1993 begibt sich Werner Gebhard wieder auf eine Reise. Diesmal allerdings weder per Bahn noch ins Ungewisse, allerdings mit einem Zwischenfall, der Erinnerungen wachruft. Mit dem Flugzeug soll es von Tegel nach Frankfurt am Main gehen, dort hat er einen Geschäftstermin. Der Abflug verspätet sich, der Pilot informiert die Fluggäste: Dies sei ein besonderer Flug, und er bitte alle, vor allem aber die Journalisten, während des gesamten Fluges sitzen zu bleiben. Werner Gebhard versteht diese Ansage zunächst nicht – bis ein verspäteter Passagier das Flugzeug betritt.

Gebeugt laufend kommt ein kleiner alter Mann mit Hut und Mantel herein. „Plötzlich stand da Erich Honecker“, erinnert sich Werner Gebhard. Honecker war wenige Stunden zuvor aus der Untersuchungshaftanstalt Berlin-Moabit entlassen worden, das aufgrund des Schießbefehls an der deutsch-deutschen Grenzen gegen ihn geleitete Verfahren eingestellt. „Vom Bau der Mauer bis zu ihrem Fall hat sich für mich mit dieser Begegnung der Kreis geschlossen“ sagt Werner Gebhard.