Springe direkt zu Inhalt

„Die Perspektiven vermischen sich“

Ein Gespräch mit dem Direktor der Stiftung „Topographie des Terrors“, Andreas Nachama

13.10.2011

Herr Nachama,was können Zeitzeugenberichte bewirken?

Sie können einen subjektiven und damit einen für jeden nachvollziehbaren Zugang zur Zeitgeschichte vermitteln. Ein Schüler zum Beispiel kann durch die Schilderung eines Zeitzeugen etwas mit dessen Augen betrachten und es so besser nachvollziehen.

Wo liegen die Grenzen?

Der persönlich geprägte Ausschnitt muss in den geschichtlichen Verlauf eingeordnet und aufbereitet werden. Ein Nutzer der Video-Interviews sollte erfahren, ob beispielsweise eine Schilderung aus dem Berlin der 1930er Jahre typisch ist für das ganze Deutsche Reich. Durch die Kooperation mit der Freien Universität können wir der subjektiven und der objektiven Sicht gerecht werden.

Wie wichtig ist es, Zugang zur Perspektive der Opfer an den früheren Schaltzentralen der Macht zu schaffen - also am Ort der Täter?

Tatsächlich vermischen sich hier die Perspektiven. Wenn Opfer schildern, was ihnen widerfahren ist, kann man immer auch das Tun der Täter und deren Absichten heraushören. Sinnvoll ist es, die Berichte der Opfer zu kontrastieren und zu ergänzen, etwa durch Schaubilder oder die Biografien von Tätern.

Sehen Sie die Gefahr, dass das Wissen über die Zeit von 1933 bis 1945 mit den Jahrzehnten verblasst?

Man hat schon 1995 - also 50 Jahre nach Kriegsende - vermutet, dass die NS-Zeit in Vergessenheit geraten würde, und es hat seither andere historisch bedeutsame Themen gegeben. Wenn man allerdings unsere Besucherzahlen zum Maßstab nimmt, so ist das Interesse an der Dokumentation der NS-Geschichte und des NS-Terrors über die Jahre deutlich gewachsen. Auch heute wollen die Menschen an diesem Beispiel erfahren, was in einem Land passiert, in dem polizeiliches Handeln nicht mehr kontrolliert wird und in dem nicht alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind.

Wie wichtig ist ein solches Bildungsangebot auch vor dem Hintergrund von Wahlerfolgen rechtsgerichteter Parteien?

Solange es politische Bewegungen gibt, die eine Diskriminierung Einzelner anstreben, behält das Thema politische Aktualität. Man kann an der Geschichte des Dritten Reiches sehr deutlich ablesen, in welche Gefahr eine Gesellschaft geraten kann, in der nicht alle vor Gericht gleich behandelt werden.

Sie sind Rabbiner in der Synagoge am Hüttenweg in Zehlendorf. Wie normal ist für Sie jüdisches Leben in Berlin und in Deutschland?

Solange man diese Frage stellt, gibt man die Antwort damit eigentlich gleich mit. Jüdisches Leben hat eine gewisse Alltäglichkeit bekommen, und man muss nicht mehr darum kämpfen. Doch so ungezwungen und normal wie in den Vereinigten Staaten ist es hier noch nicht. Wenn man allerdings bedenkt, dass das NS-Terrorsystem erst vor weniger als sieben Jahrzehnten beseitigt wurde, läuft es schon ganz ordentlich.

— Die Fragen stellte Carsten Wette.