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Annäherung auf Spitzenschuhen

Ballett-Universität: Tanzwissenschaftler der Freien Universität kooperieren mit dem Staatsballett Berlin

12.12.2011

Zugang zum Tanz finden: Im Stück "OZ - The Wonderful Wizard" freundet sich die Protagonistin mit einem Löwen und einer Vogelscheuche an.

Zugang zum Tanz finden: Im Stück "OZ - The Wonderful Wizard" freundet sich die Protagonistin mit einem Löwen und einer Vogelscheuche an.
Bildquelle: Enrico Nawrath

Ballettstudio statt Hörsaal: Studentinnen der Freien Universität Berlin geben seit Beginn dieser Spielzeit Einführungen vor jeder Vorstellung des Staatsballetts Berlin.

Ballettstudio statt Hörsaal: Studentinnen der Freien Universität Berlin geben seit Beginn dieser Spielzeit Einführungen vor jeder Vorstellung des Staatsballetts Berlin.
Bildquelle: Svenja Klein

Akrobatik und Eleganz: Die Tänzer in dem Stück "OZ - The Wonderful Wizard" bewegen sich auf völlig unterschiedliche Weise.

Akrobatik und Eleganz: Die Tänzer in dem Stück "OZ - The Wonderful Wizard" bewegen sich auf völlig unterschiedliche Weise.
Bildquelle: Enrico Nawrath

Es dauert nur einen kurzen Moment, bis Agnieszka Witkowska die richtigen Worte findet. Ein kurzes Räuspern, dann spricht sie mit fester Stimme ins Mikrofon. Die Studentin des Masterstudiengangs Tanzwissenschaft an der Freien Universität Berlin hält im Foyer der Komischen Oper einen Vortrag vor Ballettbesuchern, darunter sind Kinder, Jugendliche, aber auch Interessierte aus der älteren Generation. Es ist ein anderes Publikum, als es Agnieszka Witkowska aus dem Universitätsalltag kennt. Die puristischen Ledermöbel, der rote Teppich und die verspiegelten Wände schaffen eine besondere Atmosphäre. Und auch ihr Thema – das moderne Tanzstück „OZ – The Wonderful Wizard“ – scheint meilenweit entfernt vom akademischen Kosmos.

In der Inszenierung kommt das Kinderbuch „Der Zauberer von Oz“ von L. F. Baum eher als bunte, humorvolle Revue auf die Bühne denn als traditionelles Ballett.

Trotz des ungewöhnlichen Themas strahlt Agnieszka Witkowska Selbstsicherheit aus – dass sie rhetorisch geschult ist, merkt man ihr an. 20 Minuten dauert die Einführung, in der sie den Bogen von der Handlung zum Bühnenbild zeichnet, Parallelen zur bekannten Verfilmung mit Judy Garland aufzeigt, um schließlich wieder bei der aktuellen Choreografie von Giorgio Madia zu landen. Die Studentin ermuntert die Zuschauer, besonders auf die ausdrucksstarke Mimik des heutigen Oz-Darstellers zu achten und verrät, dass etwa die Tänzerin der bösen Hexe mehr Zeit in der Maske verbringt als auf der Bühne.

Vorträge wie diesen werden acht Studentinnen der Freien Universität im kommenden Jahr vor jeder Vorstellung des Staatsballetts Berlin halten – ob an der Komischen Oper, der Deutschen Oper oder der Staatsoper, die wegen Bauarbeiten am Stammhaus ihr Übergangsquartier im Schillertheater hat. Verantwortlich für die Kooperation namens Ballett-Universität sind Gabriele Brandstetter, Theaterwissenschaftlerin der Freien Universität, und Christiane Theobald, Stellvertretende Intendantin des Staatsballetts Berlin. Theobald war lange Zeit selbst als Tänzerin aktiv und hat an der Freien Universität promoviert und gelehrt. Zu ihren erfrischenden Ideen gehört nicht nur die Zusammenarbeit mit den Tanzwissenschaftlern der Freien Universität, sondern auch der spontane Auftritt von Tänzern des Staatsballetts Berlin in Alltagssituationen, getarnt etwa als Mitarbeiter der Stadtreinigung. In orangefarbenen Overalls drehten sie vor dem Brandenburger Tor Pirouetten und überraschten die Passanten am Hauptbahnhof.

„Mit diesen Flashmob-Aktionen wollten wir das unnahbare Image abschütteln, das Ballett auf manche Menschen ausstrahlt“, sagt sie. Deshalb hat Theobald auch keine Scheu davor, den Akademikerinnen das Mikrofon und das Publikum ihres Hauses anzuvertrauen. „Die Studentinnen haben ein Wissen, das viel breiter in der Gesellschaft gestreut werden müsste“, sagt sie. „Wir haben im Publikum große ,Ballettomanen‘, die jedes Ballett und jeden Tänzer kennen – aber was vielleicht fehlt, ist ein fundierter wissenschaftlicher Hintergrund.“

Diese Fachkompetenz haben die Studentinnen unter anderem bei Gabriele Brandstetter am Institut für Tanzwissenschaft der Freien Universität erworben. Für ihr Engagement in den Einführungen werden sie nicht mit Leistungspunkten belohnt, sondern mit Erfahrung. Sie erleben den Alltag an der Oper, begleiten die Ballett-Ensembles bei Proben und lernen, sich zu präsentieren: „Für die Studierenden ist es auch eine Möglichkeit, spätere Berufsfelder kennenzulernen“, sagt Gabriele Brandstetter. Unter ihrer Anleitung haben die Studentinnen Konzepte erarbeitet, für die sie vor allem eine laienverständliche Sprache finden mussten. „Im Publikum gibt es manchmal doch eine Art Scheu vor der akademischen Annäherung“, sagt die Wissenschaftlerin, „aber wir möchten dem Publikum die Gelegenheit geben, zu ,begreifen, was einen ergreift‘, entsprechend einem alten hermeneutischen Grundsatz.“

Neben den Einführungen wartet die Ballett-Universität mit einer Vortragsreihe von Tanzwissenschaftlern auf, die, unabhängig vom aktuellen Spielplan des Staatsballetts Berlin, ein Mal im Monat Einblick geben in die Welt der Tanzwissenschaft. Von einer „Schule des Sehens“ spricht Gabriele Brandstetter und möchte damit auch weniger tanzaffine Zuschauer anlocken, die sich weiterbilden möchten. Am 14. Dezember etwa geht es in einem Vortrag um den Choreografen Jean Georges Noverre, der sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dafür stark machte, dass Ballettstücke mehr Handlungselemente aufweisen. „Der Wissenszuwachs auf allen Seiten – auch bei Dramaturgen, Choreografen und Tänzern – kann den künstlerischen Ausdruck verändern. Dass sich die unterschiedlichen Disziplinen gegenseitig durchdringen, das wäre mein Traum“, sagt Christiane Theobald.

Von antiquierten Vorstellungen müssen sich zumindest Besucher des fantasievoll inszenierten Stückes „OZ – The Wonderful Wizard“ entfernen. Darin wird das Mädchen Dorothy von einem Wirbelsturm erfasst und in das Land der Munchkins versetzt. Um den Weg zurück nach Hause zu finden, rät ihr eine gute Hexe, den Zauberer von Oz um Hilfe zu bitten. Unterwegs findet sie Freunde, die sich im Ballett durch völlig unterschiedliche Tanz- und Bewegungsarten auszeichnen: Zur Musik von Dmitri D. Schostakowitsch rutscht und wirbelt etwa die Vogelscheuche über die Bühne, die sich vom Zauberer mehr Verstand erhofft. Noch erinnern ihre unkoordinierten Bewegungen allerdings eher an die Slapstick-Einlagen eines Charlie Chaplin. Ein Herz erbittet der steife, leicht eingerostete Blechmann, mehr Mut der Löwe. Dieser wirft sich in Pose und schüttelt eitel seine Dreadlock-Mähne, anstatt sich Gefahren zu stellen. All diese Elemente der Geschichte, auch die Begegnung mit bösen Zeitgenossen, müssen die Tänzer ohne Worte vermitteln: „Wir lassen uns mitreißen von den Bewegungen und Gesten“, sagt die Studentin Agnieszka Witkowska vor der Vorführung. Nur manchmal muss die moderne Technik dabei aushelfen. Die Reise der Protagonisten etwa wird im Stile eines Navigationssystems durch wandernde Punkte auf einer Landkarte dargestellt. Und Dorothy zeigt sich zeitgemäß, als sie mit wischenden Gesten der Hand, wie beim Bedienen moderner Handys und Tablet-PCs, per Videoprojektion ihr Kleid für die nächste Szene aussucht.

„Geschafft!“ Agnieszka Witkowska seufzt erleichtert nach der Einführung. Auch wenn es nicht ihr erster Vortrag war, ein bisschen Nervosität ist dabei, wenn sie in ihre neue Rolle schlüpft. Langweilig wird den Studentinnen so schnell nicht, denn mit „Schwanensee“ und „La Péri“ sind es im Dezember und Januar wieder typische Ballettstücke, auf die sie das Publikum vorbereiten – mit echten Prinzen und auch dem ein oder anderen Tutu.

Die Einführungen durch Studentinnen der Freien Universität finden jeweils 45 Minuten vor Vorstellungsbeginn statt. In der Vortragsreihe spricht Professorin Sibylle Dahms am 14. Dezember um 19 Uhr im „Foyer de la danse“ des Staatsballetts Berlin.