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Ost trifft West

Warum russische Nachwuchswissenschaftler für ihre Nordamerikastudien nach Berlin kommen

12.12.2011

Oft sind es die Details, die den Unterschied machen. Sicher, Artem Borisov, 25, konnte auch in seiner Heimat Archangelsk, einer Hafenstadt im Norden Russlands, in Bibliotheken recherchieren, Material sammeln, Seite um Seite kopieren. Er hat an der dortigen Universität seinen Abschluss gemacht, mittlerweile arbeitet er an seinem „Candidate of Sciences“, der russischen Version des englischen PhD, an der staatlichen Universität in St. Petersburg. In diesem Herbst aber kam Borisov nach Berlin, an das John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien an der Freien Universität (JFKI), um zur englischen und amerikanischen Geschichte von der Gründung der ersten Kolonien bis zum 18. Jahrhundert zu forschen.

Wie sich seine Arbeit in Dahlem von der in Russland unterschied, beschreibt er so: „In vielen Bibliotheken bei uns wird jedes Buch, das man liest, jede Seite, die man kopiert, registriert.“ Es sei zwar nur eine Kleinigkeit, aber in Berlin sei das nicht so gewesen – was zu einer völlig anderen Atmosphäre bei der Arbeit führe. „Es ist nur ein Eindruck“, sagt er, aber einer, den er mitnehme von seinem ersten längeren Auslandsaufenthalt. Mehr Freiheit, weniger Kontrolle.

Wie Borisov kommen immer wieder junge Russen an das JFKI; auch während des Deutsch-Russischen Wissenschaftsjahrs, das noch bis Sommer 2012 läuft, waren einige da, und weitere werden folgen. Unter dem Motto „Partnerschaft der Ideen“ veranstalten Wissenschafts- und Forschungsorganisationen, Hochschulen sowie Unternehmen beider Länder in Deutschland und Russland gemeinsame Konferenzen, Symposien und Workshops zu wichtigen Zukunftsthemen. Daran beteiligt sich auch die Freie Universität. Denn – ob Kalter Krieg, Eiserner Vorhang oder Ost-West-Konfrontation – nichts davon gefährdete die engen Kontakte der Freien Universität zu russischen Partner-Hochschulen ernsthaft, seit gut 40 Jahren pflegen beide Seiten die Beziehung. Da ist es auch selbstverständlich, dass russische Gäste am Nordamerika-Institut willkommen geheißen werden – und wiederum gerne kommen; einige gefördert durch ein Bibliotheksstipendium, meist für vier bis sechs Wochen. Bis zu 1300 Euro bekommen sie dann. Andreas Etges, Professor für die Geschichte Nordamerikas am JFKI, freut sich über das „große Interesse“ auf russischer Seite an der Zusammenarbeit mit seinem Institut.

In der Bibliothek des JFKI werden die Gastwissenschaftler betreut von Angelika Krieser, stellvertretende Bibliotheksleiterin. Sie hilft bei der Recherche und sorgt immer wieder dafür, dass die Wissenschaftler auf Schriftstücke stoßen, mit denen sie gar nicht gerechnet haben, etwa im umfangreichen Mikrofilm-Archiv. „Es macht großen Spaß, mit den Studenten, Doktoranden und Postdocs zu arbeiten“, sagt sie, „und zu erleben, wie vielfältig deren Forschungsinteressen sind.“ Auch für die Reputation des Instituts und der Bibliothek im Ausland seien die Stipendienprogramme wichtig.

Das kann Alexandra Urakova, 32, bestätigen. Sie kam im Sommer aus Moskau nach Berlin. Durch Kollegen in Russland erfuhr die promovierte Wissenschaftlerin vom JFKI; doch ihre Bewerbung für ein Stipendium war ein Vorschlag von Stefan Brand, Privatdozent am JFKI. Urakova beschäftigt sich mit kultur- und literaturwissenschaftlichen Studien, vor allem mit Textformen aus der Zeit vor dem amerikanischen Bürgerkrieg. Zu diesem Forschungsschwerpunkt führte sie ihre Begeisterung für die Texte von Edgar Allan Poe. Auch sie schwärmt von der „Atmosphäre der Freiheit“ und von den umfangreichen Bibliotheksbeständen. Klar, sie hätte sich an einer amerikanischen Universität bewerben können, doch für einige Wochen Recherche-Arbeit lag Berlin – im Wortsinn – näher: „Von Moskau aus ist es einfach nicht so weit.“

Auch für Artem Borisov war die relative Nähe ein Argument. Zudem riet ihm ein Professor in St. Petersburg, statt in die USA für seine Recherchen ans JFKI zu gehen. Gelohnt habe es sich, sowohl von der persönlichen Erfahrung her als auch wissenschaftlich: Er habe es genossen, in einer freundlichen Umgebung höchst ergiebig arbeiten zu können. Allein die Bibliotheksrecherche: Einige Tausend kopierte Seiten konnte er mit zurück nach Russland nehmen. Das JFKI intensiv kennengelernt hat auch Natalia Klimina, 27, mittlerweile Doktorandin, die ebenfalls aus St. Petersburg nach Berlin kam. „Am JFKI konnte man nicht nur Sprache und Literatur studieren, sondern auch Soziologie, Wirtschaft und Geschichte“, sagt sie. Genau nach dieser Interdisziplinarität habe sie sich gesehnt.