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Für Abenteuerromane ist man nie zu alt

Literaturwissenschaftlerin erforscht an der Freien Universität Berlin ein oft unterschätztes Genre

12.12.2011

Die heutige Welt bietet dem modernen Menschen kaum noch die Möglichkeit echter Entdeckungen. Es gibt praktisch kein Fleckchen Erde, das nicht auf einer Karte verzeichnet ist. In Zeiten der Globalisierung und des Internets kann man zudem fast überall hinreisen oder weit entfernte Orte bequem vom Sofa aus virtuell besuchen.

Die Sehnsucht nach dem Unentdeckten könnte ein Grund dafür sein, warum das Thema Abenteuer in der deutschen Literatur gegenwärtig Konjunktur hat. Man denke hier nur an Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“ oder Raoul Schrotts „Tristan da Cunha“. Beide Romane verwenden klassische Abenteuer- und Entdeckungsmotive.

Kehlmanns „philosophischer Abenteuerroman“ – so die Kurzbeschreibung auf dem Einband – schildert beispielsweise die Expeditionen des Naturforschers Alexander von Humboldt in der Neuen Welt.

„In dem Roman geht es darum, etwas zum ersten Mal selbst zu sehen, das man sonst nur vom Hörensagen kennt und es gleich zu vermessen“, sagt die Literaturwissenschaftlerin Jutta Eming. Die Professorin für Ältere deutsche Literatur und Sprache erforscht an der Freien Universität Berlin unter anderem, wie sich das Abenteuermotiv im Laufe der Jahrhunderte literarisch verändert hat. Literatur und Abenteuer sind für sie eng miteinander verbunden. „Literatur entführt uns in ferne Welten, bereitet uns Abenteuer und tritt auch an die Stelle des Abenteuers, das wir nicht selbst erleben“, erläutert Jutta Eming.

Die Abenteuerliteratur ist dabei im Grunde so alt wie die Literatur selbst. Homer schuf bereits im 8. Jahrhundert v. Chr. im antiken Griechenland die „Odyssee“. In diesem Epos muss Odysseus auf der Rückreise aus dem Trojanischen Krieg gegen einen einäugigen Riesen kämpfen und viele andere gefährliche Situationen meistern. Im Mittelalter entsteht dann einer der vielen eigentlichen Vorläufer des modernen Abenteuerromans. Im sogenannten Artusroman kreist die Handlung um einen Ritter aus der Tafelrunde des sagenhaften britannischen Königs Artus – ein literarischer Stoff, der noch heute Filme wie „Excalibur“ oder „King Arthur“ inspiriert.

In den ursprünglichen Romanen muss sich der Ritter in einer Reihe von Âventiuren – das ist das mittelhochdeutsche Wort für Abenteuer – im Kampf gegen Drachen, Zwerge und Riesen bewähren. „Im Mittelalter geht es dabei meist weniger darum, dass jemand etwas entdeckt oder erlebt, was wir heute oft mit einem Abenteuer verbinden“, betont Jutta Eming. „Im Artusroman werden die gefährlichen Situationen stattdessen als eine Form von Bewährungsprobe aufgesucht“ , erklärt sie. In der weiteren literaturgeschichtlichen Entwicklung der Artusromane rückt dann zwar das Entdecken und Erleben phantastischer Welten immer mehr ins Zentrum. Ebenso erzählen bereits mittelalterliche Romane von dem „Welteroberer“ Alexander und seinen Erlebnissen im fernen, exotischen Indien. Doch erst in der Moderne werden Abenteuer endgültig mit positiven Werten wie Entdeckerlust und einer bewussten Erweiterung des Horizonts in Verbindung gebracht.

In der 1587 erschienenen anonymen „Historia von D. Johann Fausten“ wird beispielsweise das Abenteuer der Erkenntnis des später durch Goethes Tragödie unsterblich gewordenen Faust beschrieben. „Faust ist in dieser frühen Version auch ein Abenteurer“, erklärt Jutta Eming. „Er möchte die ganze Welt bereisen und strebt nach sinnlichen Erlebnissen.“

Wiederum etwas später in der Literaturgeschichte werden Abenteuer als Ausdruck des Erkenntnisdrangs und des Aufbruchs zu neuen Horizonten zwar weiterhin durchaus geschätzt, doch in der vermeintlich „höheren“ Literatur verliert sich das Reise- und Abenteuermotiv zusehends. Bei Goethe ist Faust vor allem ein Intellektueller. Nach 1800 gelten Romane, in denen Abenteuer im Vordergrund stehen, oft als minderwertig. Man zählt sie gerne zur Jugendliteratur. „Eine derartige Ansicht schließt mit ein, dass man solche Romane als Erwachsener nicht ernst nehmen könne“, sagt Jutta Eming. Dabei enthalte auch die spätere Abenteuerliteratur durchaus Ernstzunehmendes. Das gelte sogar für vermeintlich Anspruchloses wie etwa die Karl-MayBücher aus dem 19. Jahrhundert. „Der Leser bekommt in diesen Romanen immerhin vermittelt, wie falsch das Bild ist, das sich Weiße von der Indianerkultur gemacht haben“, sagt Eming mit Blick auf ihre eigene begeisterte Lektüre. „Darin steckt durchaus aufklärerisches Potenzial, gekleidet aber in aufregende, ungewöhnliche Herausforderungen.“ Für Abenteuer ist man also im Grunde nie zu alt, genauso wenig wie für Neues und Unbekanntes.