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Tests an Zellen statt an Mäusen

Wissenschaftler der Freien Universität Berlin erforschen Alternativen für Tierversuche

12.12.2011

„Es gibt weltweit kein anderes Land, das so viel dafür tut, Ersatzmethoden für Tierversuche zu entwickeln, wie Deutschland“, sagt Professor Horst Spielmann vom Institut für Pharmazie der Freien Universität Berlin. Er muss es wissen. Denn Spielmann leitete 20 Jahre lang die Zentralstelle zur Erfassung und Bewertung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch (ZEBET) am Bundesinstitut für Risikobewertung – eine weltweit einmalige Einrichtung, die Methoden erforscht, mit denen Pharmazeutika, Lebensmittel und Chemikalien als gesundheitlich unbedenklich für den Menschen eingestuft werden können – ohne dass Versuchstiere dafür leiden.

Der Mediziner versteht sich auch als „wissenschaftlicher Diplomat“. Denn er ist Koordinator des EU-Projekts AXLR8 (gesprochen accelerate, englisch für beschleunigen), das sich zum Ziel gesetzt hat, die Forschungen zu alternativen Testmethoden innerhalb Europas und in Abstimmung mit den USA und Japan voranzubringen. In diesem Jahr trafen sich europäische und US-amerikanische Forscher in Berlin, um über aktuelle Entwicklungen zu diskutieren. „Seit 2004 ist es weltweit akzeptiert, sogenannte Phototoxizitäts-Tests an Fibroblasten der Maus, das heißt an entnommenen Bindegewebszellen der Tiere, und nicht mehr an Mäusen oder Ratten selbst vorzunehmen“, sagt Spielmann. So könne man häufige Nebenwirkungen von Antibiotika – etwa Hautrötungen bei UV-Einstrahlung – zuverlässig und ohne Tierversuch testen. Bis solche Methoden jedoch experimentell validiert und weltweit anerkannt und zugelassen sind, vergehen oft Jahre. Eines der Ziele von AXLR8 sei es, diese Prozesse zu beschleunigen. „Der größte Durchbruch für uns war es, mit menschlichen Zellen und Geweben oder aus menschlichen Zellen biotechnologisch aufgebauten, zum Teil sehr komplexen sogenannten rekonstruierten Organen arbeiten zu können und nicht mehr mit Ratten und Mäusen“, sagt Spielmann.

Die Pharmakologin Professor Monika Schäfer-Korting erforscht mit ihrer Arbeitsgruppe am Institut für Pharmazie nicht nur die Entwicklung von Alternativmethoden für Sicherheitsprüfungen, sondern auch für eine verbesserte Entwicklung von Arzneimitteln für Hautkrankheiten. „Die Haut ist einer der drei Wege, über den Giftstoffe in den menschlichen Körper gelangen können“, sagt die Pharmakologin. So würden etwa Pflanzenschutzmittel zu 90 Prozent über die Haut aufgenommen und nicht über die Lunge oder den Magen-Darm-Trakt. Erkrankungen der Haut oder eine erhöhte Sensibilität der Haut nehmen mit der steigenden Lebenserwartung an Zahl zu. „Wir schauen uns an, wie Stoffe von der Haut resorbiert werden, ferner ob und wie sie in tieferen Schichten der Haut umgewandelt werden“, erläutert sie. Um- und Abbauprodukte aus Stoffwechselvorgängen könnten Allergien oder auch Krebs erzeugen. Die Entstehung solcher Metabolite und deren Angriffspunkte zu erkennen, könne dazu beitragen, Risiken zu vermeiden, erklärt Schäfer-Korting. Gleichzeitig könnten mit diesem Wissen gezielt neue Medikamente gegen Hautkrankheiten entwickelt werden, die durch eine langsame Aufnahme über die Haut eine langanhaltende Wirkung entfalten.

Um solche Effekte besser verstehen zu können, arbeiten die Forscher der Freien Universität mit einer im Labor rekonstruierten Haut, die Tierversuche ersetzt. Diese Gewebe werden aus menschlichen Hautzellen auf stützenden Membranen gezüchtet, die Zellen stammen aus „Hautresten“, die bei Operationen anfallen. Inzwischen gäbe es schon spezialisierte Firmen, die menschliche Haut herstellten, sagt Monika Schäfer-Korting. An solchen Modellen lassen sich verschiedene Wirkstoffe hinsichtlich ihrer Schädlichkeit auf zellulärer Ebene testen. Wenn ein Gift oder Arzneistoff an einem bestimmten Ort innerhalb des Körpers wirken soll, muss er zunächst die Hornschicht der Haut durchdringen. Diese Barriere, die uns vor Umweltgiften schützt, stellt für Arzneistoffe eine große Hürde dar. Mit geeigneten „Transportern“ lässt sie sich allerdings überwinden. So könnten Arzneistoffe zum Beispiel in Lipid-Nanopartikel eingebaut werden, winzige Fettkügelchen mit einem Durchmesser von 180 Nanometern (ein Nanometer entspricht einem milliardstel Meter), die die Hornschicht problemlos durchdringen und die Medikamente auf diese Weise effizient in die Haut einschleusen. Gefördert vom Bundesforschungsministerium entwickeln Wissenschaftler der Freien Universität Berlin und der ZEBET gemeinsam Tests, in denen die Aufnahme und Umwandlung von Arzneistoffen oder Giften an rekonstruierter Haut gemessen wird.

Dennoch: Die Anzahl der Tierversuche steigt derzeit wieder – weil zum Beispiel gentechnisch manipulierte Mäuse als Krankheitsmodell benutzt werden, um Erbkrankheiten besser verstehen und neue Therapien entwickeln zu können. Das brachte die Pharmazeuten der Freien Universität auf die Idee, solche Krankheitsmodelle auf die Zell-Ebene zu transferieren. „Durch das An- und Abschalten verschiedener Gene in Hautzellmodellen können wir kranke Haut erzeugen, die zum Beispiel einem Ekzem ähnelt“, erklärt Schäfer-Korting. An dieser „kranken“ Haut werden dann die Effekte geeigneter Pharmaka untersucht, etwa von Cortison. Es sei inzwischen auch möglich, solche Modelle für Hauttumore oder Hautinfektionen zu „bauen“, indem Tumorzellen oder Mikroorganismen mitkultiviert werden. An der Freien Universität Berlin wird mithilfe solcher Modelle zum Beispiel an der Entwicklung neuer Tumormittel gearbeitet. Mittlerweile halten die Wissenschaftler bereits ein Patent für ein solches Medikament. Vielversprechend ist auch eine Zusammenarbeit mit der Technischen Universität Berlin; dort arbeitet Professor Roland Lauster vom Fachgebiet Medizinische Biotechnologie an einem Bioreaktor im Chipformat, der zum Ziel hat, die Reaktion verschiedener rekonstruierter Organe, wie Haut und Leber beispielsweise beim Einwirken von potenziell gefährlichen Stoffen, gleichzeitig zu prüfen. Mit dem gewachsenen Verständnis der Stoffwechselprozesse in den verschiedenen Zellarten und Entwicklungsstadien gesunder und kranker Haut sollte es den Forschern auch gelingen, neue Therapien zu finden. Die Anzahl der Tierversuche, sagt Schäfer-Korting, lasse sich mit den neuen Methoden deutlich reduzieren. „Vollständig ersetzen kann man sie derzeit allerdings noch nicht.“ Zu komplex seien die Wege der Substanzen durch den menschlichen Körper. „Und bevor man eine neue Substanz erstmals am Menschen anwendet, ist eine Überprüfung am Tier notwendig.“

Um künftig Tierversuche dennoch weitgehend vermeiden zu können, forschen Wissenschaftler auf der ganzen Welt an neuen Versuchsansätzen. Selbst für den seit 1944 eingesetzten „Draize-Test“, bei dem die Toxizität einer Substanz geprüft wird, indem man sie in den Lidsack lebender Kaninchen träufelt, gibt es bis heute in Deutschland keine offiziell anerkannte Alternative. Und der Het-Cam-Test (Hühner-Ei-Test) an bebrüteten Eiern wird lediglich als Vortest anerkannt, um zu prüfen, wie verträglich ätzende Stoffe für die Schleimhäute sind. In Frankreich ist der Test allerdings für Kosmetika mittlerweile die offizielle Methode, um eine Substanz auf augenreizende Eigenschaften zu prüfen. Ein weiterer Beweis dafür, wie wichtig die internationale Abstimmung bei der Suche nach Ersatzmethoden für Tierversuche ebenso wie bei der behördlichen Anerkennung etablierter Verfahren ist.