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Manuskript der Ansprache von Präsident Günter M. Ziegler anlässlich des 75. Gründungsjubiläums der Freien Universität Berlin am 1. Dezember 2023:


75. Gründungsjubiläum der Freien Universität Berlin

Ansprache am 1.12.2023

Präsident Prof. Dr. Günter M. Ziegler

Es gilt das gesprochene Wort.

Verehrte Gäste,

verehrte, liebe Frau Kollegin Schwan,

sehr geehrte Frau Kollegin Felser,

liebe Frau Kupferberg,

 

75 Jahre Freie Universität Berlin, dieses Jubiläum haben wir in den vergangenen Monaten immer wieder ausgiebig gefeiert. Ein feierlicher Auftakt im Juni hier vor dem Gebäude, ein Campus-Konzert vor der Holzlaube, eine große Veranstaltung zum ebenfalls in diesem Jahr begangenen 60-jährigen Kennedy-Jubiläum an der Freien Universität, daneben aber auch viele kleinere Aktionen, Podiumsdiskussionen, Ausstellungen, Besuche – es war eine Menge los im Festjahr 2023, und ich freue mich sehr, Sie heute hier zu unserem offiziellen Universitätsgeburtstag, den wir traditionell Anfang Dezember feiern, im Henry-Ford-Bau zu begrüßen.

In den vergangenen Monaten ist mir eines immer wieder deutlich klar geworden: Es gibt nicht die eine Geschichte der Freien Universität. Natürlich kennen wir alle die Namen und Begriffe, die untrennbar mit unserer Geschichte verbunden sind: Gründungsfeier im Steglitzer Titania-Palast am 4. Dezember 1948, Studentenrevolten in den späten sechziger Jahren, angeführt von Rudi Dutschke, oder die Geschichte der Freien Universität als Exzellenzuniversität seit 2007, um nur mal drei Dinge zu nennen. Vielleicht kennen Sie unsere Festschrift zum 75-jährigen Jubiläum, das kleine grüne Büchlein. Wir hätten 75 (und noch viel mehr) Geschichten über unsere Universität aufschreiben können, haben uns aber mit 75 Zeichnungen begnügt – von denen ja ebenfalls jede für eine Geschichte steht.

Die Geschichte der Freien Universität, das sind die Geschichten ihrer Fachbereiche und Institute, ihrer Einrichtungen und Gebäude, in erster Linie aber die ihrer Angehörigen, die sie über ein dreiviertel Jahrhundert geschrieben und mitgestaltet haben. Und so gibt es nicht die eine Geschichte der Freien Universität, doch haben alle Geschichten der Freien Universität eines gemeinsam: Es geht in ihnen um das Zusammenwirken von Menschen, um Kooperation, um Ziele – im Idealfall gemeinsame Ziele –, um den Wunsch und die Vision, etwas zu gestalten, einen Beitrag zu leisten, irgendwo eine Verbesserung zu implementieren.

Dieses Narrativ ließe sich tausendfach allein hier auf dem Campus anwenden, aber auch in den Beziehungen der Universität nach außen. Auf eine solche Geschichte bin ich kürzlich gestoßen und möchte sie wiedergeben, weil sie mich berührt, und zwar sowohl durch die Brille der damaligen Akteure gesehen als auch im heutigen Kontext.

Bereits 1957 – die Freie Universität war kein Jahrzehnt alt und der zweite Weltkrieg gerade einmal zwölf Jahre vorbei – hatte sich an der Freien Universität eine Deutsch-Israelische Studiengruppe gegründet, die erste ihrer Art in Deutschland. Man wollte sich mit Israel und dem Judentum auseinandersetzen und auch dem Problem des Antisemitismus aktiv entgegenwirken. Im selben Jahr, 1957, schrieb der damalige Rektor der Freien Universität, der Wirtschaftswissenschaftler Andreas Paulsen, mit Unterstützung des Vorsitzenden ebenjener Studiengruppe, dem damaligen Jura-Studenten Eckart Rottka, einen Brief an seinen Amtskollegen von der Hebräischen Universität Jerusalem mit dem Vorschlag, eine Partnerschaft zwischen beiden Universitäten aufzubauen – übrigens lange, bevor die Bundesrepublik im Jahr 1965 erste offizielle Beziehungen zum Staat Israel etablierte. Vielleicht war die Zeit dafür noch nicht reif – auch auf einen zweiten Brief erhielt die Freie Universität keine Antwort aus Jerusalem.

Wenn auch vorerst nicht offiziell – die Beziehungen begannen dennoch vorsichtig zu wachsen: 1962 kam der erste israelische DAAD-Stipendiat an die Freie Universität, er forschte in seiner Doktorarbeit zu den nationalsozialistischen Sicherheitsdienststrukturen, befragte hierzu ehemaliges Personal der NS-Apparate…

Umgekehrt fuhren Studierende des Bundesverbands der Deutsch-Israelischen Studierendengruppe 1963 erstmalig nach Israel. Während eines zweimonatigen Aufenthalts trafen sie zum ersten Mal KZ-Überlebende, bekamen auf Unterarme tätowierte Nummern zu sehen. Ein Zeitzeugenbericht von der Freien Universität erzählt, dass die jungen Deutschen damals bei der Apfelernte im Kibbuz Nahal Oz halfen und sich langsam Vertrauen und Freundschaften zwischen Deutschen und Israelis herausbildeten.

Der Kibbuz Nahal Oz liegt nur wenige Kilometer von Gaza-Stadt entfernt. Am 7. Oktober dieses Jahres überfielen Terroristen der Hamas die Siedlung, töteten viele Menschen und verschleppten weitere Bewohner. Die Folgen des furchtbaren Terrorangriffs auf die israelische Bevölkerung und die israelische Gegenreaktion im Gazastreifen beschäftigen seither die Welt. Auch auf dem Campus der Freien Universität spüren wir diese Spannungen, empfinden das Leiden der Menschen in Israel und Gaza, binnen kürzester Zeit hat der Nahostkonflikt auch unsere Hörsäle, Mensen und Korridore erreicht. Jüdische und israelische Studierende unserer Universität trauten sich zwischenzeitlich kaum, ihre Wohnungen zu verlassen, um zu Lehrveranstaltungen auf den Campus zu kommen, sie berichten von antisemitischen Anfeindungen, fühlen sich bedroht. Eine starke Belastung für alles Betroffenen und die Universitätsgemeinschaft. Das können wir so nicht hinnehmen.

Eine starke Belastung für uns alle ist gleichzeitig, wenn wir von palästinensischen und muslimischen Angehörigen unserer Universität hören, rassistische und diskriminierende Erfahrungen zu erleben, dass niemand das Leid und die Not ihrer Angehörigen im Gazastreifen sehe, und es machen wilde Gerüchte die Runde, dass das Tragen palästinensischer Symbole zur Exmatrikulation oder Kündigung führen könne. Auch das können wir nicht hinnehmen.

In den vergangenen Wochen haben wir viele Gespräche mit Angehörigen beider Gruppen geführt und haben dabei sehr viel gelernt. Wir haben aus erster Hand gehört, welch unermesslichem Schmerz Menschen ausgesetzt sind, die Angehörige in Israel oder in Gaza verloren haben. Wir haben gelernt, wie groß die Verunsicherung auf beiden Seiten ist, was nun passieren mag.

Wir haben gelernt, dass es leider auch Gruppen gibt, die keine Brücken gebaut bekommen wollen, sondern die Aufwiegelung für eigene Interessen nutzen wollen – wir sehen aber auch zugleich, dass das nicht viele Menschen sind! Die meisten zeigen Mitgefühl und möchten helfen. Wir haben gelernt, dass nicht alle Sichtweisen miteinander vereinbar sind, dass die Mehrheit aller Betroffenen beider Seiten sich aber erstaunlich einig ist in der Bewertung der Situation in Nahost und dass unser oberstes Ziel sein muss, Dialog und ein friedliches Zusammenleben hier bei uns auf dem Campus zu ermöglichen.

Bei aller Angespanntheit und bei allem Leid, das anerkannt werden muss und das wir nach unseren Möglichkeiten lindern wollen: Ich bin in den letzten Wochen immer wieder auch sehr stolz auf die Freie Universität und ihre Angehörigen gewesen.

Immer wieder habe ich beobachtet und gehört, wie es sich gegenüberstehende Gruppen doch geschafft haben, in einen ernsten Dialog miteinander einzutreten, sich zuzuhören und aufeinander einzugehen. Das berührt und gibt Hoffnung.

Die Gespräche mit unterschiedlichen Gruppen haben gezeigt, dass jüdische und palästinensische FU-Angehörige und die ihnen nahestehenden Gruppen im Koordinatensystem ihrer Werte letztendlich nah beieinander liegen; ich nehme Konsens darüber wahr, dass Terrorismus als solcher zu benennen und nicht zu relativieren ist; dass Antisemitismus nicht hinnehmbar ist, genauso wie Islamfeindlichkeit. Dass wir eine wissenschaftliche Einrichtung sind, in der Argumente und Fakten das Maß der Dinge und des Austauschs sind, dass sich hier jede und jeder sicherfühlen können muss. Und dass wir es schaffen müssen und können, den Konflikt hier bei uns nicht eskalieren zu lassen.

In diesen Momenten bin ich nicht nur stolz, sondern auch optimistisch, dass das gelingen kann. Hierbei hilft mir wiederum der Blick in die Geschichte – in die Zeitgeschichte wie auch in die FU-Geschichte. Im Kibbuz Nahal Oz ist es vor Jahrzehnten durch starken Willen und großes Engagement gelungen, vormalig sehr schwierige Beziehungen Stück für Stück zu entspannen und durch Bemühungen auf individuellem Level zu normalisieren.

Die Hebrew University ist heute eine unserer allerengsten Kooperationspartnerinnen, wir arbeiten in nahezu allen Fachgebieten miteinander, bei nur ganz wenigen Partnerschaften ist eine derart intensive Zusammenarbeit und eine solch tiefe freundschaftliche Verbundenheit an allen Ecken und Enden zu spüren.

Das geht also! Wie? Durch politische Weichenstellung und Entscheidungen auf Leitungs- und Gremienebene, aber vor allem durch das Engagement von Menschen, die sich hinter diese Beziehungen klemmen und sie mit Leben füllen. Miteinander reden, sich zuhören, in den Austausch kommen, sich gegenseitige verstehen und dann gemeinsam nach Ideen und Lösungen suchen: Auf diese Art und Weise haben wir in den vergangenen 75 Jahren unheimlich viel geschafft – und werden es auch in der Zukunft tun. Durch Menschen, die alle ihre Geschichten schreiben – ihre FU-Geschichten!