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Manuskript des Festvortrags von Prof. Dr. Gesine Schwan anlässlich des 75. Gründungsjubiläums der Freien Universität Berlin am 1. Dezember 2023:


Was sollen Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit im Zeitalter von Fake News?

Festvortrag an der Freien Universität Berlin 1.12.2023

Gesine Schwan


Wahrheit, Gerechtigkeit und Freihheit - die drei Losungen der Freien Universität in verschiedenen historischen Kontexten

Vor 60 Jahren, im Juni 1963 hat der amerikanische Präsident John F. Kennedy bei seinem historischen Besuch in Berlin nicht nur am Schöneberger Rathaus die berühmten Worte gesprochen: „Ich bin ein Berliner“. Er hat danach auch an der Freien Universität eine Rede gehalten, in der er ihr eine wichtige Sinnstiftung nahelegte. Ich gehörte als Zwanzigjährige zu den Studenten (wie man damals ohne Gender-Gewissensbisse sagte), die sich in der Boltzmannstraße dicht drängten, um im Quasi-Innenhof des Henry-Ford-Baus vor dem Hintergrund von Professoren in Talaren den Präsidenten zu erleben und ihm zuzuhören.

25 Jahre nach der Gründung der FU nahm Kennedy die drei Losungen der FU: Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit als Orientierungspunkte in den Blick für eine gute Zukunft nicht nur der FU, sondern auch für Deutschland, für Europa, ja für die Welt. Als Absolventen sollten wir eben dieser Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit dienen:

„Diese Lehrstätte“, so Kennedy damals, „hat kein Interesse daran, nur Syndikusse und vereidigte Buchprüfer auszubilden. Woran sie Interesse hat, und das gilt für jede Universität, ist die Ausbildung von Weltbürgern – Menschen, die schwierige und heikle Aufgaben meistern, vor denen wir als freie Männer und Frauen stehen, sowie Menschen, die bereit sind, ihre Kraft in den Dienst des Fortschritts einer freien Gesellschaft zu stellen.“

Welch eine Zukunftszuversicht und Klarheit der Mission für unsere Universität! Mich haben diese Worte damals ermutigt und bestärkt, mein Studium im Zeichen von Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit in den Dienst einer freien Gesellschaft und einer guten Politik zu stellen. Fünf Monate später, am 22. November 1963 wurde John F. Kennedy ermordet. Sein plötzlicher Tod hat uns tief erschüttert.

Fünf Jahre danach, im Sommer 1968 war die FU im Streit um ihre politische Mission in erheblichem Aufruhr. Kennedy hatte den Leitspruch der Wahrheit 1963 wie folgt gleich am Anfang zugespitzt:

„Sie verlangt von uns, daß wir den Tatsachen ins Auge sehen, daß wir uns von Selbsttäuschung frei machen, daß wir uns weigern, in bloßen Schlagworten zu denken.“

1968 ging es weniger um Tatsachen oder um „Tatsachenwahrheit“, über die Hannah Arendt in ihrem berühmten Essay über „Wahrheit und Politik“ aus dem Jahre 1969 wichtige Überlegungen angestellt hat. Es ging vielmehr um Deutungen der politischen Situation nach dem Zweiten Weltkrieg, um Erbschaften des Nationalsozialismus in Deutschland, um den Vietnamkrieg, um multinationale Konzerne in der Dritten Welt. Dabei bestand allerdings der Anspruch vieler studentischer Rebellen ebenfalls darin, sich von Selbsttäuschungen über das eigene Land, über die USA und den Westen freizumachen. Freilich war das auch oft gepaart mit Selbstgerechtigkeit, mit Empirie ferner Polemik und Intoleranz. Leise Stimmen und faires Abwägen hatten es damals nicht leicht, obwohl das unabdingbar zur universitären wissenschaftlichen Wahrheitssuche gehört. Es war eine Zeit des Umbruchs und von leidenschaftlichen Auseinandersetzungen, die erhebliche Blessuren hinterließen.

Sie unterschied sich radikal von der Gründungssituation der Freien Universität 1948. Wahrheit brauchte die Voraussetzung von Freiheit, die klar politisch - anti-kommunistisch, anti-diktatorisch - konnotiert war. Aus diesem Kontext erfolgte die Gründung der FU. Es ging um die sog. westliche Freiheit, wie John F. Kennedy sie auch als Persönlichkeit idealtypisch vertrat. Der Vietnamkrieg begann erst ein Jahr später.

Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit heute

Heute, 55 Jahre danach sind die Themen von 1968 erneut auf der Tagesordnung: im Umgang mit der nationalsozialistischen Erbschaft in der AfD und im Rechtsextremismus, mit der unregulierten kapitalistischen Globalisierung, mit der Distanz vor allem im globalen Süden gegenüber dem Westen und den USA, im Spannungsfeld zwischen dessen missglücktem Abzug aus Afghanistan einerseits und der Unterstützung der Ukraine gegen den mörderischen russischen Angriff andererseits.

Und zugleich sehen wir uns mit der Renaissance diktatorischer, ja totalitärer und militärisch aggressiver Regime konfrontiert, die Anspruch auf globale Vorherrschaft erheben. Noch herausfordernder: mit dem Wiederaufleben autoritärer Stimmungen und rechtsextremer Strömungen innerhalb der liberalen Demokratien, die diese grundsätzlich zugunsten nationalistisch autoritärer bis völkischer Systeme und Kulturen aushebeln wollen.

Zugleich erleben wir ebenfalls innerhalb der liberalen Demokratien, dass wichtige Politiker mit ihren Anhängern die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge strategisch verwischen. Der amerikanische Präsident Donald Trump steht dafür prototypisch, aber auch das Aufblühen von Verschwörungstheorien in den westlichen, verfassungsmäßig freien und pluralistischen Gesellschaften. Sie negieren offensichtliche Tatsachen, die Kennedy so wichtig waren, und führen stattdessen abenteuerliche Konstruktionen und Weltverschwörungen an, in denen undurchsichtige, sog. alternative Fakten, Ursachen und Akteure zur Begründung von erfundenen oder erlogenen fake news beweiskräftig sein sollen.

Auf der Seite der Diktaturen, die zunehmend totalitäre Züge angenommen haben, steht Vladimir Putin für die systematische Leugnung und Verdrehung von Tatsachen, überhaupt für die Zerstörung der Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge zugunsten einer diffusen Vielfalt von allen möglichen Meinungen. Wobei dies, anders als in den USA, in einem politischen und medialen System geschieht, das Putin rigoros in den Dienst seiner Leugnung und Verdrehung der Realität stellen kann und stellt.

Es geht heute also wieder und weiter um Wahrheit und in der Folge auch um Gerechtigkeit und Freiheit, aber die Einstellungen dazu sind im Unterschied zur Zeit des Kalten Krieges komplizierter, umstrittener, unübersichtlicher und verwirrender geworden. Das hat potenziell zerstörerische Konsequenzen für unsere offenen Gesellschaften und Demokratien. Trägt die Universität, trägt zumal die Freie Universität in dieser Gemengelage eine besondere Verantwortung für ihre drei Losungen? Und wie könnte sie der gerecht werden?

Hannah Arendts Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge

Die anfangs genannte Hannah Arendt hat das 1969 jedenfalls für die Wahrheit ausdrücklich bejaht. In dem erwähnten Essay „Wahrheit und Politik“ arbeitet sie zur Präzisierung ihrer philosophischen zeitgenössischen Diagnose das für sie hier wichtige Wahrheitsverständnis heraus, für das Universitäten einstehen müssen. (Hannah Arndt, Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays, 2. Auflage München 1987)

Ihr geht es wie John F. Kennedy vorrangig um die Rettung der „Tatsachen“. Sie unterscheidet zwischen Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten. Vernunftwahrheiten sind mathematische, wissenschaftliche und philosophische Wahrheiten. Ihr entgegen stehen in der Wissenschaft der Irrtum, in der Philosophie die Illusion oder die bloße Meinung. Vernunftwahrheiten beruhen auf Prämissen (z.B. historischen Vorannahmen oder Axiomen), die ihre Perspektivität begründen. Hier gibt es auch legitime Interpretationsunterschiede (ebd. S. 48ff.). Man kann und muss sich nicht notwendig auf eine Vernunftwahrheit einigen. Eine pluralistische Gesellschaft lebt mit solchen verschiedenen Wahrheitsperspektiven, und wenn sie Glück hat, finden in ihr dazu lebendige Dialoge statt, mit Begründungen und in gegenseitiger Fairness und Wertschätzung. Beliebigkeit vermeiden sie u.a. durch die transparente Schlüssigkeit zwischen Prämissen und Ergebnissen der Forschung.

Anders verhält es sich mit den „Tatsachenwahrheiten“. Ihr Gegensatz ist die vorsätzliche Unwahrheit, die Lüge. Hier geht es nicht um Interpretation, auch nicht um Kontextualisierung, die der Tatsache eine Bedeutung verleihen würde (ebd. S. 50 ff.). Eine Zugverspätung als Tatsache kann ganz unterschiedliche Folgen und also auch Bedeutungen haben, aber sie bleibt eine Zugverspätung. Tatsachen selbst sind „elementare Daten“. Das „klarste Zeichen der Faktizität eines Faktums ist eben dieses hartnäckige Da, das letztlich unerklärbar und unabweisbar alle menschliche Wirklichkeit kennzeichnet.“ (ebd. S. 84)

Anders als man zunächst denken könnte sind nicht Irrtum oder Meinung als Gegenteil von Vernunftwahrheit für die Gesellschaft besonders gefährlich, sondern die Lüge in Bezug auf Tatsachenwahrheiten. Die sind nämlich fragil und müssen deshalb besonders geschützt werden. Sie brauchen Zeugen. Man kann sie nicht beweisen, und Dokumente über sie können gefälscht werden. Nichts hindert einzelne oder eine Mehrheit von Personen daran, falsch Zeugnis über sie abzulegen. Tatsachenwahrheiten, die gegen Interessen stehen, sind gefährdet.

Lügen über Tatsachen finden sich allerdings, wenn sie konsequent und flächendeckend die Wirklichkeit negieren wollen, vor einer grundlegenden Herausforderung: Sie müssen sich immer wieder wandeln, um die jeweils negierte Wirklichkeit, die sich ja ihrerseits unaufhörlich ändert, in ihrem Lügen-System schlüssig zu benennen. Die sog. Militärische Spezialoperation in der Ukraine, die für wenige Tage angesetzt war, musste Putin jüngst zu einem globalen gigantischen Kampf der USA gegen die wahre Freiheit Russlands und des globalen Südens steigern, mit dem er die jugendlichen antisemitischen Krawalle auf dem Flughafen in Dagestan erklärte. Sie stellten nach Prigoschin seine absolute Kontrolle erneut in Frage. Mit diesem Zwang zur permanenten Revision geraten die Menschen, die sich nach ihnen richten wollen, allmählich in eine allgemeine Verunsicherung. Die stellt, so Hannah Arendt, schließlich auch die Quelle der Lüge in Frage und mündet in Zynismus. Zynismus weist die Möglichkeit von Wahrheit generell ab.

So kommt Hannah Arendt zu dem Schluss:

„Wo Tatsachen konsequent durch Lügen und Totalfiktionen ersetzt werden, stellt sich heraus, dass es einen Ersatz für die Wahrheit nicht gibt. Denn das Resultat ist keineswegs, dass die Lüge nun als wahr akzeptiert wird und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern dass der menschliche Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen, der ohne die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren kann, vernichtet wird.“ (83) „Konsequentes Lügen“ so Arendt, „ist im wahrsten Sinne des Wortes bodenlos und stürzt Menschen ins Bodenlose, ohne je imstande zu sein, einen anderen Boden, auf dem Menschen stehen könnten, zu errichten.“ (84)

War Hannah Arendt mit dieser sehr grundsätzlichen Aussage, die implizit die Resistenz der Wahrheit gegen die Lüge behautet, nicht zu optimistisch zugunsten der Wahrheit? Brauchen Menschen wirklich einen gemeinsamen Boden der „Tatsachen“, um gemeinsam zu überleben, erst recht um gemeinsam zu handeln, weswegen sie sich gegen die permanente Lüge schließlich wehren werden?

Dafür könnte die Initiative „Meldungen aus dem Reich“ sprechen, die die Nationalsozialisten Otto Ohlendorf und Reinhard Höhn kreierten, um der NS- Führung gegen Ende des Zweiten Weltkrieges einen Wirklichkeitsersatz über die Stimmung unter den Deutschen zu liefern, die sich nicht mehr frei äußerten. Diesen Wirklichkeitsersatz brauchte die NS-Führung, um ihre Manipulation der öffentlichen Meinung und der Gesellschaft trotz der permanenten Propagandalügen, erfolgreich weiterführen zu können. Der Wirklichkeitsersatz verlangte einen großen Aufwand, half Goebbels immerhin über einige Zeit, seine geschickte Kriegspropaganda weiter durchzusetzen, verhinderte allerdings die Selbsttäuschungen der Führung über den Krieg nicht, die schließlich in der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht endete, auch einer Form von Bodenlosigkeit.

Universitäten als Zeugen der Tatsachenwahrheit gegen die Lüge?

Selbst wenn man einbezieht, dass die umfassende Lüge in öffentlichen Angelegenheiten zur Selbsttäuschung und damit zu einem gestörten Wirklichkeitsverhältnis verführt, ist aber nicht ausgemacht, dass die beiden heute markantesten Fälle öffentlicher Lüge, die mit den Personen Donald Trump und Vladimir Putin verbunden sind, sich schließlich selbst zerstören, weil sie ihren Gesellschaften den Boden der Wirklichkeit entziehen.

Solange Trump bei seiner lügnerischen Behauptung bleibt, ihm sei seine Wahl 2020 gestohlen worden, und er dafür eine nennenswerte Anhängerschaft behält, sieht er mit einer aussichtsreichen Perspektive einer Wiederwahl zum Präsidenten der USA entgegen. Und dies obwohl es klare Zeugnisse von hochgestellten Republikanern und viele verlorene Gerichtsprozesse gibt, die seine Lüge dementieren. Wenn Tatsachenwahrheiten sich gegen Lügen dadurch halten und bekräftigen, dass für sie gezeugt wird, welche Zeugen können dann die Wirksamkeit bzw. Glaubwürdigkeit aufbringen, dass die Tatsache des rechtmäßigen Wahlergebnisses sich gegen die Lüge der sog. „gestohlenen Wahl“ wirksam durchsetzt?

Hannah Arendt führt dafür Universitäten und Gerichte an. Der Hauptgrund dafür, dass sie für die Wahrheit zeugen können, liegt in Ihrer Unabhängigkeit von politischer Macht. Dadurch gewinnen sie, „zumindest in konstitutionell regierten Ländern“(87f.) die Autorität, Lügen zu entkräften. Überdies glaubt Hannah Arendt, dass diese Länder „ein direktes Interesse an Menschen und Institutionen haben, über die sie keine Macht haben“ (88). Denn Macht verführt immer wieder zur Lüge.

Die Situation von Universitäten heute

Wie aber ist die Lage heute in „konstitutionellen Ländern“ mit Rechtsstaat, Gewaltenteilung und Forschungs- wie Lehrfreiheit? Können Universitäten – in ihrer wissenschaftlichen Arbeit, aber noch mehr in ihrer Wirksamkeit in die breite Gesellschaft hinein – als effektive Zeugen für Tatsachenwahrheiten auftreten und sie sichern?

Mein Eindruck ist, dass dies bisher keine zentrale Herausforderung in Bezug auf Einzelbegriffe oder Tatsachen in ihrer reinen Faktizität war. Anders verhält es sich, wenn Wahrheit als wissenschaftliche Wahrheit, also Vernunftwahrheit ins Spiel kommt, der ich mich deshalb jetzt zunächst zuwenden will. Wobei wir am Ende allerdings auf die „Tatsachenwahrheit“ am Beispiel Trumps, Putins und von Fake News zurückkommen müssen.

Die Verantwortung der Universitäten für die wissenschaftliche, philosophische und mathematische „Vernunftwahrheit“ ist im Übrigen auch für die Tatsachenwahrheit nicht ohne Belang. Da Universitäten immer in Finanznot sind, so dass Regierungen, gesellschaftliche Akteure, z.B. Stiftungen oder private Spender wie Unternehmen durch Finanzierungen Einfluss auf Forschungs- oder Lehrthemen nehmen können, kann es geschehen, dass unangenehme „Tatsachen“ im Kontext größerer Zusammenhänge gar nicht erst zur Sprache kommen, wenn sie machtvollen Interessen in die Quere geraten.

Unverzichtbar ist freilich hier die Thematisierung von Zusammenhängen, z.B. zwischen dem Agieren von europäischen – nicht nur chinesischen! – Fangflotten vor dem westlichen Afrika, die die Menschen dort in erheblichem Maße ihrer Ernährungsgrundlage berauben, und dem Erstarken von Flüchtlingsbewegungen von dort nach Europa. Forschung darüber ist bei uns sicher nicht verboten oder gar persönlich für Forscher gefährlich, wie dies in China der Fall wäre. Aber sie hat es finanziell schwerer als die Erforschung von Themen, die in einem Mainstream-Interesse von Staat und Wirtschaftsunternehmen stehen und mit dem nicht weiter diskutierten Argument favorisiert werden können, sie diene dem Wirtschaftswachstum, und damit dem „Gemeinwohl“.

Was hier aus dem Blick gerät sind nicht isolierte Einzeltatsachen, die Hannah Arendt nennt, sondern Kontexte und kausale Zusammenhänge. Sie sind im breiten möglichen Ursachengeflecht immer diskutierbar oder bestreitbar. Gibt es wirklich einen kausalen Zusammenhang zwischen den Fangflotten der EU und Fluchtbewegungen? Wenn man allerdings die Aufgabe von Universitäten, als „Wahrheitshüter“ zu wirken, ernst nimmt, muss man auch dieses Problem auf’s Tapet bringen und den Horizont des Wahrheitsverständnisses daher über Tatsachenwahrheiten hinaus erweitern.

Mit Blick auf die Losungen der FU beutet dies, dass Wahrheit für die Begründung von Fragestellungen und Thematisierungen die Losung der Gerechtigkeit braucht. Denn aus der „Gerechtigkeitslosung“ folgt tendenziell methodologisch, Perspektiven aller Menschen zu berücksichtigen und sich damit dem Gemeinwohl zu nähern. Sie darf die Situation der westafrikanischen Fischer nicht ausblenden.

Institutionelle Unabhängigkeit der Universitäten von staatlichen Vorgaben im Sinne von Hannah Arendt wäre daher zwar eine notwendige, aber keine zureichende Bedingung für den Dienst der Universität an der Wahrheit. Denn das Ergebnis dessen, was geforscht und gelehrt wird, wird nicht dadurch umso „wahrer“, je mehr die auslösenden wissenschaftlichen Fragen abgeschottet von der Gesellschaft quasi im Elfenbeinturm entstehen, sondern je mehr sie im Sinne der Gerechtigkeit unter einer Vielfalt von Perspektiven – gegen dominierende Partikularinteressen – formuliert werden. Genauer zu prüfen bliebe, ob das auch für Grundlagenforschung gilt, zumal für naturwissenschaftliche.

Transdisziplinarität

Damit sind wir bei dem, was neuerdings oft mit dem Begriff der Transdisziplinarität beschrieben wird und vom Wissenschaftsrat in einer Verlautbarung aus dem Jahre 2015 nach langen kontroversen Diskussionen als Antwort auf die sog. „grand challenges“, die „großen gesellschaftlichen Herausforderungen“ wissenschaftspolitisch befürwortet worden ist (Wissenschaftsrat (Hrsg.), Zum wissenschaftspolitischen Diskurs über Große gesellschaftliche Herausforderungen, 2015). In Berlin wird Transdisziplinarität mit der sog. „Berlin University Alliance“ als Ergebnis der letzten Exzellenzinitiative ausprobiert, in der sich Freie Universität, Humboldt-Universität, Technische Universität und Charité zusammenfinden. Ziel ist es, Wissenschaft in Forschung und Lehre nicht nur inneruniversitär interdisziplinär zu betreiben, sondern die Grenzen zum sog. gesellschaftlichen Erfahrungswissen hin zu überschreiten. Das gilt manchen als eine Art Verschmutzung der reinen Wissenschaft durch Interessen und Wertungen.

Wissenschaftstheoretisch kann man allerdings für Transdisziplinarität gute Gründe anführen: Zum einen verlangt die oft missverstandene Wertfreiheit von Max Weber nicht, Wissenschaft ohne Wertung zu betreiben. Das ist gar nicht möglich, weil bereits jede Themenwahl eine implizite Wertung über die Bedeutung und die Legitimation dessen enthält, was aus dem unendlichen Geflecht der Wirklichkeit als Thema gleichsam herausgeschnitten wird. Jede Masterarbeit oder Dissertation beginnt mit einer Einleitung, die das begründet. Die Begründung kann sich nicht ihrerseits wissenschaftlich legitimieren, ist aber wissenschaftlich nach Max Weber unabdingbar, damit sie transparent und diskutierbar wird.

Wenn Vertreter aus der Gesellschaft an der Formulierung von wissenschaftlichen Fragestellungen zur Annäherung an Fragen des Gemeinwohls teilnehmen, ist das also keine „Verschmutzung“.

Nimmt man die konventionelle wissenschaftstheoretische Annahme der Forschung hinzu, dass eine Theorie oder eine These umso haltbarer, stringenter, sprich „wahrer“ wird, je inklusiver sie Auskunft über die Wirklichkeit gibt, d.h. vereinfacht: je mehr sie aus der Wirklichkeit erklären oder deuten kann, dann macht es Sinn, Gerechtigkeit mit der Orientierung auf Inklusion als wichtigen Aspekt in die Formulierung der Fragestellung aufzunehmen. Denn die Inklusion in der Frage ebnet der Inklusion in der Antwort den Weg.

Transdisziplinäre Wissenschaft folgt dieser Idee, wenn sie außerwissenschaftliche Erfahrungen z.B. über die gesellschaftliche Dringlichkeit, die Machbarkeit oder die expliziten wie die impliziten Folgen von praktischen oder technischen Projekten in die wissenschaftliche Forschung einbezieht. Damit wird der Vorherrschaft staatlicher oder mächtiger sozialer Partikularinteressen vorgebeugt.

Stellen wir damit die Freiheit der Wissenschaft auf’s Spiel, die dritte Losung der Freien Universität?

Das wäre dann der Fall, wenn Wissenschaftler*innen staatlich-institutionell oder durch die Vorherrschaft machtvoller Interessen an der Verfolgung von Forschungsinteressen gehindert würden, die ihnen wichtig erscheinen. Das ist damit nicht verbunden und darf damit auch nicht verbunden werden.

Vorbeugen kann man dem gerade durch Transdisziplinarität: Je perspektivenreicher und inklusiver Forschungsfragen angegangen werden (auch wenn sie dann, um praktisch verfolgt werden zu können, oft wieder eingegrenzt werden müssen), desto größer ist die Chance, dass sich wissenschaftliche Freiheit durchsetzt, weil keine Perspektiven unterdrückt oder ausgelassen werden.

Die Idee dagegen, dass nur rein innerwissenschaftliche Forschung und Lehre den auszeichnenden „Stempel“ seriöser Wissenschaft verdienen, scheint mir ein Ergebnis von Standesdünkel und Vorurteil zu sein. Was methodisch und methodologisch begründet, transparent und nachprüfbar geforscht und gelehrt wird und sich der wissenschaftlichen Diskussion aussetzt, verstößt nicht gegen die Dignität von Wissenschaft.

Zurück zu Hannah Arendt

Ich habe mich mit diesen Überlegungen von Hannah Arendts Tatsachenwahrheit entfernt, um einer umfassenden Verantwortung von universitärer Wissenschaft für die Wahrheit nachzugehen. Dabei zeigt sich ein enger Zusammenhang zwischen Wahrheit und Gerechtigkeit. Die Klärung dessen jedoch, was die Philosophin uns dringlich vor Augen gestellt hat, nämlich dass wir den gemeinsamen Boden unter den Füßen verlieren, wenn sich Lügen über Tatsachenwahrheiten verbreiten und durchsetzen, liegt noch wie ein sperriger Stein vor uns.

Die Vereinigten Staaten von Amerika blicken auf eine lange, ehrwürdige, wenn auch sicher nicht makellose Tradition als Demokratie, als „konstitutionelles“ politisches System zurück. Aber Demokratie als Menschenwerk kann gar nicht makellos sein. Verlieren die US-Bürger den gemeinsamen Boden unter den Füßen, wenn Donald Trump sich, getragen von seinen Anhängern mit seiner „Wahl-Lüge“ durchsetzt und wiedergewählt wird? Auszuschließen ist das nicht. Konkret könnte das je nach den Wahlergebnissen 2024 zu einer Blockierung des politischen Systems und zu einer Anomie, einem Zustand der Gesetzlosigkeit, z.B. über den Haushalt führen. Könnten die amerikanischen Universitäten, nach Hannah Arendt die Hüter der Tatsachenwahrheit, dagegen erfolgreich angehen? Wenn ja, wie?

Direkt vermutlich nicht, weil sie in der gegenwärtigen amerikanischen Gesellschaft nicht die Autorität haben und auch nicht haben können, Trumps Anhänger zu überzeugen. Denn wenn in der Gesellschaft keine gemeinsamen nachprüfbaren und anerkannten Kriterien, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden, anerkannt werden, wenn diese Unterscheidung vielmehr sogar strategisch von Trump und seinen Anhängern verwischt wird, dann kann es keine verbindliche intersubjektive Einigung geben. Dann können auch Universitäten wenig dazu beitragen.

Zur Frage steht, ob eine wissenschaftliche Analyse dieses Verhaltens weiterhelfen kann. Warum machen Trumps Anhänger, ohne die Trump keine Macht hätte, die strategische Verwischung von Wahrheit und Lüge mit, die ja ihre Verankerung in der Wirklichkeit gefährdet. Könnten sie auch in ihrem Alltag auf diese Unterscheidung verzichten? Vermutlich eher nicht, weil eine Verständigung im unpolitischen Bereich dann unmöglich würde. Wann fängt die Schule morgens an? Haben wir noch etwas zum Essen im Kühlschrank? Von Fake News wird man nicht satt.

Was bringt Trumps Anhänger dann dazu, Tatsachen im öffentlichen Bereich und im politischen Machtkampf in einer Weise freiwillig, ohne staatliche Einschüchterung zu bestreiten, die wir bisher als Zeichen eines psychischen Ausnahmezustands gedeutet hätten?

Das führt uns auf das Feld individual- und sozialpsychologischer Annahmen. Wenn man hier nicht Spekulationen anheimfallen will, wäre es eine dringliche Aufgabe von Universitäten im Dienste der kostbaren Tatsachenwahrheit die Gründe für dieses neue massenhafte Phänomen, überhaupt die Macht von Fake News herauszufinden und Wege der Abhilfe dagegen zu ermitteln. Möglicherweise handelt es sich einfach um ein Machtinstrument, möglicherweise trauen sich aber die Anhänger von Fake News auch nicht mehr zu, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen, so dass sie sich für ihre Wirklichkeitssicht lieber einer Person unterwerfen, die sie dann um ihrer eigenen Stabilität willen nicht infrage stellen dürfen. Seine Macht gewinnt Trump nicht mit intellektuellen Mitteln, sondern offenbar, weil er für schwache Menschen außergewöhnliche Stärke ausstrahlt, indem er sogar an einer widerlegten Behauptung festhält, auch wenn die Tatsachen gegen ihn sprechen. Der Wirklichkeit mit der Lüge die Stirn zu bieten, gilt dann als Stärke. Da können Universitäten nicht gegen an. Aber sie können die Voraussetzungen dessen aufklären.

Neben ihnen baut Hannah Arendt auch auf die Gerichte, die bisher in den USA mehrheitlich sehr konstruktiv an der Unterscheidung von Wahrheit und Lüge mitgewirkt haben, und dies weiterhin tun. Auch sie werden Trump, wenn sie ihn überführen, nicht überzeugen können. Er weiß intuitiv, dass er politisch und wohl auch persönlich verloren ist, wenn er seine Lügenstrategie aufgibt. Es käme dennoch darauf an, ihn als Lügner zu überführen. Denn wenn das seine Möglichkeit, erneut gewählt zu werden, mindert, tragen sie zur Aufrechterhaltung der Wahrheit bei, weil sie ihn effektiv schwächen. Aber nur, wenn seine Anhänger im Falle eines Machtverlusts von Trump ihre Anhängerschaft aufkündigen und damit einen Weg finden, von der kollektiven Lüge zurückzukehren auf den gemeinsamen Tatsachenboden der Gesellschaft.

Wahrheit ist keine unabhängige Aussage, sondern ein Geschehen zwischen Sendern und Empfängern

Damit wird deutlich, dass der Schutz der Tatsachenwahrheit nicht nur vom Sender, sondern auch vom Empfänger abhängt. Um sie zu schützen und der Gesellschaft den gemeinsamen Boden zu erhalten, müssen Universitäten ihr Augenmerk auf diesen Zusammenhang nicht zuletzt in Bezug auf Social Media richten und Wahrheit als ein umfassendes Geschehen begreifen, das es zu hüten gilt. Zum Schutz der „Tatsachenwahrheit“ braucht es also eine Wirklichkeitsfähigkeit nicht nur der Sender, sondern auch der Empfänger, die verloren gehen kann, wenn diese sich der Wirklichkeit nicht mehr gewachsen fühlen und sie deshalb negieren.

Das gilt vielleicht auch für Putins Reich, wenn auch in anderer Form. Wie kann in Russland die Tatsachenwahrheit geschützt werden? Politisch unabhängige Institutionen oder Personen als „Wächter“ werden innerhalb Russlands nicht geduldet. Junge Menschen informieren sich immerhin alternativ über das Internet. Vor allem aber muss Putin offenbar der von Hannah Arendt unterstrichenen Notwendigkeit folgen, seine Lügen einer permanenten Revision zu unterziehen, um auf den Wandel der von ihm geleugneten Wirklichkeit zu reagieren, der nicht in seiner Macht steht. Das gelingt ihm offenbar bisher für einen erheblichen Teil der Gesellschaft, aber man weiß nicht, wie lange.

Immerhin war innerhalb von gut vier Monaten seine Kontrollfähigkeit zweimal herausgefordert – durch Jewgeni Prigoschin im Juni diesen Jahres und durch aufständische Jugendliche auf dem Flughafen in Dagestan in diesem Oktober. Deshalb musste Putin für ein neues Narrativ zur Erklärung der randalierenden Jugendlichen die sog. „militärische Spezialoperation“, die in der Ukraine nur für einige Tage vorgesehen war, zu einem globalen und epochalen Konflikt mit den USA gigantisch ausweiten, in dem er angeblich zusammen mit dem globalen Süden die wahre russische Freiheit gegen die amerikanisch-ukrainische Aggression auch in Dagestan schützen muss. Wenn sich solche Eruptionen des Kontrollverlusts mit der Folge von ständig neuen Verrenkungen in den Narrativen beschleunigt wiederholen, könnte eine Verunsicherung der Gesellschaft eintreten, die sich vor der Orientierungslosigkeit mehr fürchtet als vor der Wirklichkeit und neue Führer verlangt.

Diese Erfahrung rückt umgekehrt die auch in liberalen Demokratien zunehmende gefährliche Mode ins Licht, sich für politische Probleme wahltaktisch vorteilhafte Narrative auszudenken, anstatt wirklichkeitstaugliche Lösungen für sie zu finden. Damit begeben wir uns auch in der demokratischen Politik und im Rechtsstaat in eine allgemeine Täuschungssituation, für die manche Kommunikationsindustrie bereitwillig den Weg ebnet, ohne sich um Hannah Arendts Tatsachen- oder Vernunftwahrheit zu scheren.

Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit

Was sollen Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit also in Zeiten von Fake News?

Sie bieten als Begriffe keinen direkten erfolgreichen Weg, Fake News zu entlarven und zu entkräften. Aber wenn man ernst nimmt, dass konsequentes Lügen in die Bodenlosigkeit führt, liefern sie weiterhin einen unverzichtbaren Kompass, die komplexen inneren Zusammenhänge von Wahrheit als Geschehen zwischen „Sendern“ und „Empfängern“ besser zu durchschauen. Sie zeigen nicht nur die Gefahren der Bodenlosigkeit, wenn man die Suche nach intersubjektiv nachprüfbarer Tatsachenwahrheit aufgibt. Sie schärfen auch das Bewusstsein dafür, dass die gesuchte Wahrheit nie absolut oder unumstößlich gefunden oder behauptet werden kann. In dieser selbstreflektierten Spannung helfen sie, der Wahrheit verpflichtet und verantwortlich gegen Fake News, gegen Lüge, und für das Ernstnehmen des Wahrheitsauftrags von Universitäten auch öffentlich zu streiten.

Dieser Wahrheitsauftrag kann auf Gerechtigkeit nicht verzichten, um für freiheitliche Gesellschaften den gemeinsamen Boden, wo er verloren gegangen ist, wieder zu gewinnen und ihn zu bewahren. Das gelingt nicht von selbst. Wir müssen es wollen. Es ist anstrengend, aber möglich!