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WIR in Europa

Seit 30 Jahren können Studierende mit dem Austauschprogramm „Erasmus“ europäische Länder und Hochschulen kennenlernen. Doch nicht nur über das Austauschprogramm der EU und ein Büro in Brüssel ist die Freie Universität mit Europa verbunden.

26.06.2017

Am 25. März 2017 gingen Tausende Menschen in Berlin und ganz Europa beim „March for Europe“ auf die Straße. Studierende der Freien Universität hatten den europäischen Marsch mit organisiert.

Am 25. März 2017 gingen Tausende Menschen in Berlin und ganz Europa beim „March for Europe“ auf die Straße. Studierende der Freien Universität hatten den europäischen Marsch mit organisiert.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Susanne Schnüttgen war die Erste. Sie studierte Englisch und Sozialkunde auf Lehramt, als die Freie Universität sie mit Anfang 20 nach Colchester entsandte, zur Universität Essex. Ein Jahr zuvor, 1987, hatte die Europäische Gemeinschaft „Erasmus“ beschlossen, das Austauschprogramm für Studierende an europäischen Hochschulen. „Ich war sofort Feuer und Flamme“, erzählt Susanne Schnüttgen, die heute in Paris für die Unesco arbeitet, die Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur. Ihre Wohnetage auf dem Uni-Campus teilte sie sich mit zwölf Frauen aus neun Ländern. „Das war eine sehr bereichernde Zeit. Ich hatte das Gefühl: Ich kriege hier die Welt mit.“ Die aufregenden Gespräche mit ihren Kommilitoninnen, die typisch angelsächsische enge Begleitung durch Professorinnen und Professoren, ihre Feldstudien in Colchester und nicht zuletzt die Nähe zu London ließen Heimweh in den sechs Monaten gar nicht erst aufkommen. 

Susanne Schnüttgen war die erste Studentin der Freien Universität, die 1987 mit dem damals neu geschaffenen Programm „Erasmus“ für ihr Studium ins Ausland ging.

Susanne Schnüttgen war die erste Studentin der Freien Universität, die 1987 mit dem damals neu geschaffenen Programm „Erasmus“ für ihr Studium ins Ausland ging.
Bildquelle: Jens Köster

Gesa Heym-Halayqa ist die Erasmus- Hochschulkoordinatorin der Freien Universität.

Gesa Heym-Halayqa ist die Erasmus- Hochschulkoordinatorin der Freien Universität.

Fast 900 Erasmus-Studierende kommen jährlich an die Freie Universität, so wie die Politikstudentin Louise Saby aus Paris.

Fast 900 Erasmus-Studierende kommen jährlich an die Freie Universität, so wie die Politikstudentin Louise Saby aus Paris.

„Erasmus hat mir ein anderes Europa gezeigt – diese prägenden Erfahrungen kann man nicht durch Bücher oder Filme ersetzen“, sagt sie. „Ich habe andere Standpunkte und Sichtweisen kennengelernt und fühlte mich als Botschafterin oder Übersetzerin meiner eigenen Kultur.“ Heute machen mehr als 600 Studierende der Freien Universität Jahr für Jahr ähnliche Erfahrungen, europaweit sind es jährlich hunderttausende. „Erasmus+ ist unser größtes Austauschprogramm“, sagt Gesa Heym-Halayqa, Erasmus- Hochschulkoordinatorin der Freien Universität. Aus ihrer Sicht ist das Programm ein großer Erfolg: „Es ist ein Instrument, mit dem Studierende ihren Horizont erweitern, ohne großen Aufwand andere Kulturen – vor allem aus Studiumssicht – kennen- und andere Lebenswelten einschätzen lernen.“ Die britischen Hochschulen werden nach dem Brexit wohl aus dem Erasmusprogramm aussteigen müssen – das ist bitter, denn unter diesen Hochschulen sind viele, mit denen die Freie Universität schon vor 1987 die ersten bilateralen Austauschprogramme vereinbart hatte. „Unsere britischen Partner-Universitäten haben aber schon Signale gesendet, dass sie nach 2019 auf jeden Fall auf bilateraler Ebene weiterhin mit uns kooperieren wollen“, sagt Gesa Heym-Halayqa. Unter den Studierenden der Freien Universität ist Großbritannien bislang jedenfalls ein gefragtes Erasmus-Zielland, ähnlich wie Spanien und nur übertroffen von Frankreich. Aus Frankreich kommen umgekehrt auch die meisten der circa 900 Erasmus-Studierenden, die die Freie Universität jedes Jahr auf ihrem Campus begrüßt – so wie Louise Saby. Die 21-Jährige studiert Politik an der renommierten Pariser Hochschule Sciences Po, dem „Institut d’études politiques“. Ihr drittes Studienjahr verbringt sie, wie dort üblich, im Ausland. Für den Erasmus- Aufenthalt an der Freien Universität hatte sie sich aus drei Gründen beworben: Erstens hat das Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft (OSI) der Freien Universität international einen guten Ruf, zweitens war Saby, die neben dem Studium als Profimusikerin auch Cello spielt, gespannt auf das Berliner Kulturangebot „Ich habe schon viel Zeit in der Philharmonie verbracht“, sagt sie. Und drittens wollte sie ihre Deutschkenntnisse verbessern. „Ich habe von Anfang an alle Kurse auf Deutsch belegt, auch wenn ich nicht immer gleich alles verstanden habe.“ Natürlich ist sie auch auf kulturelle Unterschiede gestoßen. Sie hat erfahren, wie schwer sich viele Deutsche mit ihrer nationalen Identität tun, und sie merkte, wie unterschiedlich Deutsche und Franzosen akademisch arbeiten. „Sie denken französisch“, sagte eine Dozentin einmal zu ihr, als sie mit ihr eine Hausarbeit besprach. Louise Saby wohnt noch bis zum Herbst in einer WG. Erasmus sei ein Privileg, findet sie. „Aber es ist wichtig, Europa zu erfahren und zu spüren, nicht nur für Studierende“, sagt sie – und hat einen Vorschlag: Warum nicht Erasmus schon in der Schule anbieten? 

Natalie Barth und David Böhme studieren Europawissenschaften, ein gemeinsamer Studiengang von Freier Universität und Technischer Universität. Zusammen mit ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen organisierten sie den „March for Europe“ in Berlin.

Natalie Barth und David Böhme studieren Europawissenschaften, ein gemeinsamer Studiengang von Freier Universität und Technischer Universität. Zusammen mit ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen organisierten sie den „March for Europe“ in Berlin.

Hans-Martin Meis leitet den Masterstudiengang Europawissenschaften, bei dem die Studierenden Praktika bei europäischen Institution absolvieren und dabei lernen, wie die EU juristisch, wirtschaftlich und politisch funktioniert.

Hans-Martin Meis leitet den Masterstudiengang Europawissenschaften, bei dem die Studierenden Praktika bei europäischen Institution absolvieren und dabei lernen, wie die EU juristisch, wirtschaftlich und politisch funktioniert.

Das europäische Engagement der Freien Universität beschränkt sich aber bei Weitem nicht auf Erasmus. Längst wird zu „Europa“ und der EU auch geforscht und gelehrt. Da wäre zum Beispiel die Arbeitsstelle Europäische Integration am OSI. „Die EU ist ein unglaublich spannender und vor allem dynamischer Forschungsgegenstand“, sagt Tanja Börzel, die die dortige Professur seit 2004 innehat. „Schon die Einführungsvorlesung zur EU, die ich einmal im Jahr halte, ändert sich jedes Mal.“ 2006 hat die EU-Kommission Tanja Börzel einen „Jean-Monnet-Lehrstuhl“ zuerkannt. Seit 2009 ist sie zudem Direktorin des Jean-Monnet-Exzellenzzentrums „The EU and its Citizens“, benannt nach dem französischen Unternehmer und geistigem Vater der EU. Die an der Arbeitsstelle angesiedelten Projekte untersuchen unter anderem, warum sich Mitgliedsstaaten nicht an europäisches Recht halten, welche Folgen der Populismus in den Mitgliedsländern für die EU und die europäische Integration hat – oder wie sich die „östliche Partnerschaft“ auf die sechs östlichen Nachbarländer der EU auswirkt – und wie diese die EU selbst beeinflusst. Ihre persönlichen Überzeugungen zur EU stellt Tanja Börzel bewusst zurück. „Wir sind Wissenschaftler“, betont sie. „Dass die EU wichtig ist, ergibt sich aus meiner Forschung.“ 1998 entstand auf Initiative des Auswärtigen Amtes zudem der Postgraduierten-Studiengang „Europawissenschaften“, den die Freie und die Technische Universität Berlin gemeinsam anbieten. Das einjährige Masterprogramm richtet sich an Absolventinnen und Absolventen, die schon eine Weile im Beruf stehen. Er soll Führungskräfte auf nationaler und internationaler Ebene auf wichtige europäische Positionen vorbereiten und „Europa stärker in der Gesellschaft verorten“, erläutert Geschäftsführer Hans-Martin Meis.

Der EU-Skepsis wissenschaftlich begegnen

Jedes Jahr nehmen 20 Bewerberinnen und Bewerber das Studium auf – unter anderem aus der Rechtswissenschaft oder dem Journalismus. Sie simulieren in Workshops Lobbyarbeit bei der EU-Kommission, lernen europäische Behörden kennen und absolvieren Praktika bei europäischen Institutionen. „Die Fellows lernen, wie die EU juristisch, wirtschaftlich und politisch funktioniert“, erklärt Hans-Martin Meis. Und nicht zuletzt sieht er den Studiengang auch als einen Beitrag zur europäischen Integration. „Wir wollen den zunehmenden EU-skeptischen Einflüssen kompetent etwas entgegensetzen“, sagt er. Diesen Geist leben auch die Studierenden – es ist kein Zufall, dass der „March for Europe“ im vergangenen März von Studierenden der Europawissenschaften initiiert wurde. Eine, die die Demonstration mitorganisiert hat, ist Natalie Barth. Gregor Gysis Eröffnungsrede zum Start des Studiengangs hatte die 24-Jährige aufgerüttelt. „Er sagte, er könne nicht als alter Mann dauernd für Europa kämpfen, während sich die Jugend ausruht“, erzählt Natalie Barth. Noch am selben Abend setzten sich 16 Studierende zusammen und entschieden beim Rotwein: Wir tun etwas. Einige durchdebattierte Abende später einigten sie sich auf drei Grundsatzpositionen, die sie in einer Demonstration vertreten wollten: „Erstens, wir sind für Europa und gegen Abschottung. Zweitens muss Europa demokratischer und drittens sozialer werden.“ Sie meldeten eine Demostrecke vom Bebelplatz zum Brandenburger Tor an. 6.000 Leute ließen EU-Luftballons steigen, tanzten zu Livemusik und DJ-Sets und sangen die Europahymne. Für Natalie Barth und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter steht fest: Der „March for Europe“ soll weitergehen. 

Die Politikwissenschaftler Tanja Börzel und Thomas Risse leiten an der Freien Universität unter anderem die Kolleg-Forschergruppe „The Transformative Power of Europe“. Deren Forschungsgegenstand: die Europäische Union.

Die Politikwissenschaftler Tanja Börzel und Thomas Risse leiten an der Freien Universität unter anderem die Kolleg-Forschergruppe „The Transformative Power of Europe“. Deren Forschungsgegenstand: die Europäische Union.
Bildquelle:  Jan Pauls 

Claudia Siegel (li.) leitet das Brüsseler Verbindungsbüro der Freien Universität. Beatrice Gründler, Arabistin und Leibnizpreisträgerin, wurde im April dieses Jahres mit dem „Advanced Grant“ des Europäischen Forschungsrates ausgezeichnet.

Claudia Siegel (li.) leitet das Brüsseler Verbindungsbüro der Freien Universität. Beatrice Gründler, Arabistin und Leibnizpreisträgerin, wurde im April dieses Jahres mit dem „Advanced Grant“ des Europäischen Forschungsrates ausgezeichnet.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Aktionen wie diese zeigten, dass „die Pro-Europäer, die ja fast in allen EU-Staaten in der Mehrheit sind, sich mobilisieren lassen“, sagt Professor Thomas Risse, Direktor der Arbeitsstelle Transnationale Beziehungen, Außen- und Sicherheitspolitik (ATASP) am Otto Suhr Institut für Politikwissenschaft. Zusammen mit der Professorin Tanja Börzel leitet Risse seit 2008 auch die Kolleg-Forschergruppe (KFG) „The Transformative Power of Europe“, die sich ebenfalls mit der EU als Forschungsgegenstand befasst. Die Forschergruppe hat unter anderem über europäische Identität gearbeitet und dabei den anti- europäischen Populismus analysiert. Aktuell vergleicht sie die EU mit anderen Regionalorganisation wie etwa ASEAN oder NAFTA. Finanziert wird die Forschergruppe von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) „und ist vergleichbar mit einem Wissenschaftskolleg, aber auf eine bestimmte Thematik fokussiert“, erklärt Risse. Etwa 100 Doktorandinnen und Doktoranden, Post-Doktorandinnen- und Doktoranden sowie Gastwissenschaftlerinnen und Gastwissenschaftler haben die Gruppe mittlerweile besucht, die meisten für etwa ein Jahr. Forscherinnen und Forscher der Politikwissenschaft sind genauso darunter wie jene aus den Geschichts- oder Rechtswissenschaften. Sie haben Aufsätze geschrieben, Bücher veröffentlicht, Workshops organisiert und sich auf Konferenzen mit Kolleginnen und Kollegen vernetzt.

Wissenschaftliche Expertise nach Europa tragen

Die Vernetzung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Hochschulen und Forschungsinstitutionen treibt die Freie Universität auch im Herzen Europas voran – mit einem Verbindungsbüro in Brüssel, das 2009 gegründet wurde. Insgesamt gibt es weltweit sieben solcher Büros, als „Kinder der Exzellenzinitiative“, wie Leiterin Claudia Siegel sagt. Vernetzung bedeutet in Brüssel zum Beispiel, Alumni zusammenzubringen oder wissenschaftliche Expertise der Freien Universität nach Europa zu tragen – etwa zu Gesprächen mit der Europäischen Kommission oder dem Europäischen Parlament. „Außerdem bietet unsere Präsenz in Brüssel unseren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Vorteile bei der Antragstellung für Forschungsprojekte“, erläutert Claudia Siegel. Das Verbindungsbüro erfährt früh, welche Forschungsthemen das Europäische Forschungsrahmenprogramm „Horizont 2020“ ausschreiben will. „Dann kann ich sondieren, wer an der Freien Universität dafür in Frage kommt und eine frühe Antragsvorbereitung unterstützen“, sagt Claudia Siegel. Spitzenforschung auf EU-Ebene bekannt zu machen, kann sich auszahlen – so vergab der Europäische Forschungsrat (ERC) gerade zum neunten Mal einen „Advanced Grant“ an eine Wissenschaftlerin der Freien Universität: Die Arabistin Beatrice Gründler erhielt den renommiertesten europäischen Forschungspreis, der mit 2,4 Millionen Euro dotiert ist – für ein Projekt, in dem sie eines der wichtigsten Werke arabischer Prosa aus dem 8. Jahrhundert erforschen und als digitale kritische und kommentierte Edition herausgeben will. Beatrice Gründler trage damit zur Verständigung zwischen Kulturräumen bei, sagte Peter- André Alt, Präsident der Freien Universität. Und da hat europäische Forschungsförderung einiges gemeinsam mit einem Austauschprogramm wie Erasmus+, über das Susanne Schnüttgen, die erste Erasmus-Studierende der Freien Universität, sagt: „Erasmus ist ein starker Beitrag zur Friedensförderung und steuert dazu bei, dass wir Europa nicht nur ökonomisch, sondern auch kulturell begreifen.“