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„Die Leute sehnten sich nach Demokratie und Freiheit“

Edzard Reuter studierte Rechtswissenschatten an der Freien Universität – und erlebte als junger Mann, wie sein Vater, Ernst Reuter, maßgeblich dazu beitrug, dass in West- Berlin eine neue Universität gegründet wurde.

09.12.2018

Edzard Reuter: „An der Freien Universität lag Aufbruchsstimmung in der Luft.“

Edzard Reuter: „An der Freien Universität lag Aufbruchsstimmung in der Luft.“
Bildquelle: Bernd Weißbrod/dpa

wir: Herr Reuter, Sie waren fünf Jahre alt, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Ihr Vater wurde verhaftet und ins Konzentrationslager Lichtenburg deportiert. Konnten Sie damals begreifen, was da passierte?

Edzard Reuter: Meine Eltern waren immer ehrlich zu mir. Ich war zuhause, als mein Vater abgeholt wurde und meine Mutter hat mir keine Märchen erzählt. Es sind schreckliche Erinnerungen. Dieser Schrecken sitzt das ganze Leben in einem fest. Mein Vater wurde zweimal verhaftet. Das erste Mal im Sommer 1933. Nach einigen Monaten wurde er kurzfristig entlassen – aber schon kurze Zeit später erneut verhaftet. Er kam nur aufgrund der Intervention einer englischen Freundin aus dem Konzentrationslager frei. In einer Nacht- und Nebelaktion konnte er schließlich nach London ausreisen. Was ihm im Konzentrationslager widerfahren war, hat er mir nie erzählt. Ich denke, er hat nur mit seiner Frau darüber gesprochen.

wir: Ihr Vater war in Freiheit – aber ein Leben in Deutschland war fortan undenkbar. Wie ging es für Sie weiter?

Edzard Reuter: Wir blieben zunächst in Hannover. Mein Vater versuchte, in London eine Anstellung zu finden, was aber nicht gelang. Wir hatten dann das große Glück, dass die Türkei auf der Suche nach Experten war, die bei der Modernisierung des Landes halfen. So sind wir schließlich gemeinsam nach Ankara gezogen. wir: Wie war das für Sie, plötzlich in so ein fremdes Land zu ziehen? Edzard Reuter: Für mich war das ein großes Abenteuer. Auf der Straße vor unserem Haus fand ich sofort Freunde, noch bevor ich ein Wort Türkisch sprechen konnte. Ich war immer draußen und habe mit allen gespielt. Ich beherrschte die türkische Sprache bald so gut wie die deutsche und habe mich in Ankara ganz selbstverständlich heimisch gefühlt.

wir: Und wie erging es ihren Eltern?

Edzard Reuter: Für meine Mutter war es schwieriger. Sie hat die Sprache nie wirklich gut gelernt. Mein Vater kam besser zurecht. Er wurde Professor an einer Verwaltungshochschule in Ankara, an der er dazu beitragen konnte, dass der Städtebau in der Türkei modernisiert wurde. Diese Arbeit hat ihm viel Freude bereitet – er hatte immer Spaß daran, mit jungen Menschen zusammenzuarbeiten. Immer haben meine Eltern aber gehofft, nach Deutschland zurückkehren zu können. Niemand hatte gedacht, dass es zwölf Jahre dauern würde. Das hatte nichts damit zu tun, dass wir nicht gern in der Türkei gelebt hätten. Diese Sehnsucht rührte aus dem Gefühl einer politischen Verpflichtung gegenüber Deutschland.

wir: Wie sah Ihr Leben in der Türkei aus? Auf welche Schule sind Sie in der Türkei gegangen?

Edzard Reuter: Heute kann man sich das gar nicht mehr vorstellen, aber ich wurde tatsächlich von einer Art Hauslehrerin unterrichtet. Es war eine Deutsche, die mit einem türkischen Mann verheiratet war. Sie unterrichtete eine kleine Gruppe von deutschen Kindern, vielleicht zehn oder zwölf. Alle waren wir Kinder von Exilanten, die vor den Nationalsozialisten geflohen waren. Diese Frau hat mich in allen Fächern auf das Abitur vorbereitet, das ich dann 1946 nach der Rückkehr nach Deutschland abgelegt habe.

wir: Wie machten Sie in diesem vollkommen zerstörten Land das Abitur?

Edzard Reuter: Es gab sogenannte Abitur-Sonderkurse. Einen solchen musste ich zunächst ein halbes Jahr besuchen. Die waren eigentlich für Kriegsteilnehmer. Meine Mitschüler waren alles ehemalige Soldaten, die mit 15 oder 16 Jahren mit einem Notabitur eingezogen wurden. Es war eine seltsame Stimmung.

Edzard Reuter: „Die Gründung der Freien Universität war einer der großen Glücksmomente im Leben meines Vaters.“

Edzard Reuter: „Die Gründung der Freien Universität war einer der großen Glücksmomente im Leben meines Vaters.“
Bildquelle: Stiftung Ernst-Reuter-Archiv, Christel Willner

wir: Wie haben Sie die Rückkehr nach Berlin erlebt?

Edzard Reuter: Es war ein Schock. Wir hatten zwar in der Türkei ununterbrochen Radio gehört und das Kriegsgeschehen beständig verfolgt – aber natürlich hatten wir den Krieg nicht vor Ort erlebt. Dann kamen wir in dieses Ruinenfeld. Nicht nur die Städte waren übel zugerichtet, sondern auch die Menschen. Ich erinnere mich an die vielen Flüchtlinge auf den Straßen. Sie waren verzweifelt, ausgehungert, teils nur in Lumpen gekleidet.

wir: War es für Ihren Vater sofort klar, dass er wieder in die Politik gehen wollte?

Edzard Reuter: Natürlich! Mein Vater war Politiker mit Leib und Seele. Es stand für ihn vollkommen außer Frage, dass er politische Verantwortung übernehmen wollte. Er verstand es als seine Pflicht, dazu beizutragen, Deutschland so schnell wie möglich in die Gemeinschaft der freien Länder zu integrieren.

wir: Sie haben ab 1947 an der Berliner Universität, der heutigen Humboldt-Universität studiert. Die Universität lag im Ost-Sektor der Stadt und kritische Studierende wurden von der sowjetischen Besatzungsmacht drangsaliert. Haben Sie das damals mitbekommen?

Edzard Reuter: Das spielte sich nicht auf offener Bühne ab – wir bekamen es aber mit. Wir hörten immer öfter von Studenten, die plötzlich verschwanden.

wir: Haben Sie sich an den Protesten gegen die kommunistische Einflussnahme beteiligt?

Edzard Reuter: Ja. Auf der großen Demonstration auf dem Potsdamer Platz im April 1948 war ich dabei. Wir waren entschlossen, uns diese Unterdrückung nicht bieten zu lassen. Wir wollten unsere eigene Universität. Dann entschieden meine Eltern aber, dass es für mich als Sohn des Bürgermeisters zu gefährlich war, weiter an der Berliner Universität zu studieren. Deshalb habe ich mein Studium zunächst in Göttingen fortgesetzt. Ich habe die Proteste und die Gründungsvorgänge der Freien Universität aber sehr genau verfolgt und war in ständigem Kontakt mit den Studentinnen und Studenten, die die Universität später gegründet haben.

wir: Ihr Vater war maßgeblich daran beteiligt, dass die Freie Universität gegründet werden konnte. Woher rührte sein Engagement?

Edzard Reuter: Mein Vater hat sofort verstanden, was auf dem Spiel stand. Für ihn war eine freie und unabhängige Universität unverzichtbarer Bestandteil einer freien und demokratischen Gesellschaft. Sein ganzes Leben war tief geprägt von seinen eigenen Studienerfahrungen in Marburg und München. So war er vom ersten Moment an auf der Seite der protestierenden Studentinnen und Studenten. Er hat es als seine Aufgabe angesehen, sich auch von deutscher Seite dafür einzusetzen, dass die Gründung der Universität gelingen konnte. Dass er sich so stark für die Gründung der Freien Universität einsetzte, war im damaligen politischen Klima keineswegs selbstverständlich.

wir: Inwiefern?

Edzard Reuter: Viele Universitätspersönlichkeiten haben die Gründung der Freien Universität mit großer Skepsis betrachtet – mit dem skurrilen Argument, es sei eine politische und keine akademische Gründung. Natürlich war es ein politischer Akt, aber das änderte ja nichts an dem Anspruch, eine wissenschaftliche Volluniversität zu gründen. Die Universitäten waren damals noch Orte elitären und reaktionären Denkens. In Göttingen habe ich damals hautnah miterlebt was das bedeutete, was man später den „Muff unter den Talaren“ genannt hat. An der Freien Universität war das dann ganz anders. Es lag Aufbruchsstimmung in der Luft. Die Leute sehnten sich nach Demokratie und Freiheit.

wir: Wie haben Sie Ihren Vater in der Rolle als Bürgermeister erlebt?

Edzard Reuter: Er war eine Führungspersönlichkeit. Das war seine Aufgabe und seine Rolle. Niemand hat in Frage gestellt, dass er die maßgebliche politische Kraft in Berlin war. Ich denke, gerade heute bräuchte es mehr solcher Persönlichkeiten, die sich überzeugt und glaubwürdig zu den Grundsätzen des freiheitlich demokratischen Denkens bekennen. Mein Vater hat seine Aufgabe als Bürgermeister mit jeder Faser seines Körpers gelebt. Natürlich war diese politische Verantwortung für meinen Vater aber auch mit ungeheuren psychischen und physischen Belastungen verbunden. Er hat sich sprichwörtlich totgearbeitet. Er starb mit 64 Jahren an Herzversagen. Eines aber kann ich sagen: Die Gründung der Freien Universität war eines der großen Glücksmomente seines Lebens. Er hat sie als sein Baby betrachtet.

Das Interview führte Dennis Yücel.