Springe direkt zu Inhalt

Die Macht der Psychotechnologien

Antragstellende / Leitung

PD. Dr. Bernd Bösel, Prof. Dr. Julia Weber, Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft

Das Verhältnis von Technik und Psyche ist ein skandalöses. Wir sind gewohnt, das Psychische als etwas Subjektives, Authentisches, also tatsächlich von unserem Inneren Herrührendes aufzufassen. Dem steht heute die technologische Prätention gegenüber, dieses Subjektive von außen erkennen, erwecken, manipulieren oder modulieren zu können. Enorme Summen fließen in die Erforschung etwa der digitalen Emotionserkennung über die Analyse von Mimik, Stimme, Gang und anderer (angeblicher) Indikatoren. Auch das Gedankenlesen soll dank neurotechnologischer Erfindung bald realisierbar sein. 

Dass das Technische im weitesten Sinn auf psychische Phänomene wie etwa Gefühle, Gedanken, Imagination und Motivation gezielt einwirkt, ist allerdings kein neues Phänomen. Das praktische Wissen (techné im altgriechischen Sinn), wie man bestimmte psychische Effekte herstellt, gehört seit der Antike zum Kernbestand unterschiedlicher Disziplinen wie der Rhetorik, der Poetik und Musiktheorie, der Medizin und der Diätetik, der Ethik, der Lebenskunst und nicht zuletzt der Politik.

Gegenwärtig lässt sich jedoch eine Zuspitzung technischer und technologischer Möglichkeiten zur psychischen Einflussnahme beobachten, die auf der Ebene der Diskursivierung noch keine Entsprechung findet. Die auf der Grundlage von Algorithmen operierenden oder in biochemische Prozesse eingreifenden Psycho­technologien ermöglichen Manipulationen, die zugleich auch Vorstellungen über das Psychische selbst maßgeblich verändern. Die ständig zunehmende Vervielfachung medialer, technischer und digitaler Technologien führt zu völlig neuen Situationen der Automatisierung und Standardisierung, die der Frage, welche geplanten und ungeplanten Effekte diese Technologien zeitigen, eine neue Dringlichkeit geben. 

Das Netzwerk „Die Macht der Psychotechnologien“ möchte eine interdisziplinäre Diskussion über das gesamte Spektrum gegenwärtiger medialer, pharmakologischer und neurotechnologischer Beeinflussungstechniken eröffnen. Wir greifen hierfür das liegen gelassene semantische Potenzial des älteren Begriffs „Psychotechnik“ wieder auf – mit all seinen tiefgreifenden Ambivalenzen. Denn die Psychotechnik war einerseits ein affirmatives Projekt angewandter Psychologie in den 1920er und 1930er Jahren; sie wurde andererseits in der Nachkriegszeit zum Inbegriff von Propaganda und unerlaubter Einflussnahme. Erst seit den 1980er Jahren ist es fallweise zu einer Neubelegung der Semantik des Psychotechnischen gekommen: in der Literaturwissenschaft (Friedrich Kittler), der Medientheorie (Ute Holl, Stefan Rieger, Margarete Vöhringer) sowie der Technikphilosophie (Bernard Stiegler). An diesen Ansätzen interessiert uns besonders, dass sie technologische Entwicklungen immer auch aus der Perspektive der Kulturtechnikforschung betrachten. Zu einer eigenständigen Herausarbeitung der Frage, inwiefern auch Psychotechniken Kulturtechniken sind, ist es aber bislang noch nicht gekommen. 

Das Netzwerk adressiert diese und weitere Fragen in verschiedenen kleineren Formaten und Workshops. Ein erster Sammelband zur „Macht der Psychotechnologien“ (Campus Verlag) ist derzeit in Vorbereitung. 

Die Konzeption des Netzwerks knüpft an die bisherigen Forschungen der beiden Antragsteller an. Bernd Bösel hat sich in „Die Plastizität der Gefühle“ (Campus Verlag 2021) mit der Genealogie kulturtechnischer und hochtechnologischer Zugriffe auf das affektive Leben auseinandergesetzt. Julia Weber diskutiert in ihrer Monographie „Dynameis. Bausteine zu einer Geschichte der Virtualität“ (Habilitationsschrift, erscheint Frühjahr 2024 bei de Gruyter) den Umgang mit virtuellen Kräften, die eine funktionale Realität und Wirkung haben, ohne dass ihre Ursachen eindeutig bestimmt werden können. 

Der erste Workshop fand am 3. November 2023 an der Freien Universität Berlin statt.