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DHC Lecture mit Ludwig Jäger (RWTH Aachen)


Saussures Erfindung. Anmerkungen zu einer Gründungslegende des Strukturalismus


  Auch noch mehr als hundert Jahre nach seiner letzten Genfer Vorlesung zur allgemeinen Sprachwissenschaft gilt Saussure als der ‚revolutionäre Begründer‘ der strukturalistischen Sprachwissenschaft und der Cours de linguistique générale als deren Gründungsschrift. Mit diesem unter dem Autornamen Saussure publizierten, wirkungsmächtigen Buch verbinden sich theoretische Überzeugungen wie die, dass die ‚Sprache an und für sich selbst betrachtet‘ der alleinige Gegenstand der Sprachwissenschaft sei, also die Sprache als Form und als System, nicht aber ihre Diskursivität und ihre Geschichtlichkeit. Saussure hat nun das Buch, das ihn berühmt gemacht hat, nicht verfasst. Seine Autorschaft ist eine wirkungsgeschichtliche Fiktion, hinter der als Palimpsest ein anderer Saussure sichtbar wird, ein ‚authentischer‘ Saussure, dessen semiologische Sprachidee gerade den Diskurs, den Zeichengebrauch sowie dessen Historizität und Sozialität in den Blick nimmt und sprachphilosophisch entfaltet. ‚Saussure‘ ist eine Erfindung des Strukturalismus, nicht dessen Erfinder. Er wäre ein entschiedener Kritiker ‚seines‘ Buches gewesen.