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WIR-Interview: „In meinem ersten Job wurde ich zur Türkin“

15.07.2015

Sie hat Reden für Minister geschrieben, als Journalistin gearbeitet, im Auftrag des Bundes gegen Diskriminierung gekämpft: Ferda Ataman, 35, Alumna der Freien Universität, leitet jetzt den Mediendienst Integration. Ein Gespräch über Herkunft, Aufstieg und Wut.

Ferda Ataman, 35, leitet den Mediendienst Integration. Sie hat Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut studiert.

Ferda Ataman, 35, leitet den Mediendienst Integration. Sie hat Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut studiert.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

WIR: Frau Ataman, kennen Sie die Veranstaltung „Hate Poetry“?

Ataman: Ja, dort lesen Journalistinnen und Journalisten, deren Namen nicht „klassisch deutsch“ sind, dem Publikum Leserbriefe und -Mails vor, die besonders hasserfüllt und beleidigend sind. Es ist ihre Art mit Zorn und Vorurteilen umzugehen.

WIR: In den Briefen werden Journalisten als „glubschäugige, neu-deutsche, habgierige Giftspritze“ beleidigt oder als „anatolische Nachgeburt“. Das sind noch vergleichsweise harmlose Zitate. Bekommen Sie auch solche Post?

Ataman: Wenn ich höre, was die bei „Hate Poetry“ so alles vortragen, dann muss ich sagen: Ich bleibe von diesem Ausmaß verschont. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich eben nicht mehr für große Zeitungen und Magazine schreibe wie die Kollegen bei „Zeit“ oder „Spiegel“. Früher, als Journalistin, bekam ich aber durchaus Droh- und Hassbriefe.

WIR: Wegen Ihres türkischen Namens oder wegen der Themen, über die Sie berichtet haben?

Ataman: Wahrscheinlich ein bisschen von beidem. Ich schrieb damals über entführte Deutsche im Osten der Türkei, über die PKK, über Aleviten in Deutschland, über andere Minderheiten, über Integration.

WIR: Gerade Integration scheint eines dieser Themen zu sein, zu dem jeder eine Meinung hat.

Ataman: Noch deutlicher ist das beim Thema Bildung – und ganz deutlich, wenn Bildung und Integration zusammenkommen. Viele Menschen fühlen sich da als Experten, manchmal nur, weil sie selbst mal zur Schule gegangen sind, und weil sie jemanden mit ausländischen Wurzeln kennen. Es sind emotionale Themen, zu denen man schnell eine Meinung entwickeln kann – anders als zum Fracking oder zum Europäischen Stabilitätsmechanismus. Dabei ist Integration nicht weniger komplex als der Euro-Rettungsschirm. Allerdings sind weit mehr Mythen sowie Falsch- und Scheininformationen im Umlauf, so dass viele glauben, sie wüssten Bescheid.

WIR: Welche Mythen?

Ataman: Dass als Flüchtlinge vor allem Afrikaner nach Europa kommen. Dabei sind es, jedenfalls im Moment, vor allem Menschen aus dem Nahen Osten, insbesondere aus Syrien, die den Umweg über Afrika nehmen müssen. Oder dass Schulen mit vielen Migranten per se Problemschulen sind.

WIR: Wie ist es denn dann?

Ataman: Zum einen: In manchen Ländern, in Kanada etwa, zählen Schulen mit vielen Migranten zu den Eliteschulen – dort suchen Eltern gezielt nach solchen Schulen. Zum anderen hat die Qualität einer Schule, auch in Deutschland, viel mehr mit dem sozialen Grad als mit einem Migrationshintergrund zu tun. In Neukölln finden Sie Schulen mit 80 Prozent Migrationsanteil, die wunderbar funktionieren, weil die Eltern bildungsorientiert sind und ihren Kindern den sozialen Aufstieg ermöglichen wollen. Ein paar Straßen weiter gibt es dann eine Schule, in der fast alle Schüler und deren Eltern von Hartz IV leben. Dort fällt es den Lehrern schwer, Kindern eine Perspektive aufzuzeigen.

WIR: Gibt es einen Mythos, der sich besonders hartnäckig hält?

Ataman: Nicht einen, sondern mehrere; die genannten gehören dazu. Perfide und nicht ganz leicht zu widerlegen, ist aber der Satz: Migranten kosten den Staat Geld.

WIR: Warum?

Ataman: Weil die Antwort komplex ist; es lässt sich nicht einfach antworten mit „Migranten bringen uns jeder Jahr 10 Milliarden Euro“. Es kommt darauf an, was man bei der Berechnung alles berücksichtigt. Aber Fakt ist, dass Deutschlands Wirtschaftsstärke ohne Einwanderung nicht machbar, noch nicht einmal denkbar gewesen wäre – das ist in der Wissenschaft unumstritten. Das hat auch mit der Freizügigkeit in Europa zu tun, ohne sie wäre der deutsche Arbeitsmarkt aufgeschmissen.

WIR: Was machen Sie mit diesen Fakten?

Ataman: Wir wenden uns mit dem Mediendienst Integration an ein Fachpublikum – vor allem an Journalisten. Wir versuchen sie zum Beispiel dazu zu bringen, dass sie weniger emotional über die Themen Integration, Migration, Asyl schreiben, sondern sachlicher und faktenorientierter.

WIR: Klingt ein bisschen wie Nachhilfe.

Ataman: Wir arbeiten an der Schnittstelle von Politik, Verwaltung, Medien und Wissenschaft. Wir wählen Themen aus, die wir für wichtig halten und machen darauf aufmerksam – insofern arbeiten wir politisch. Wir setzen kein Vorwissen voraus und versuchen, das Komplizierte verständlich zu machen – insofern arbeiten wir journalistisch. Wir kämpfen uns durch Studien, diskutieren mit Wissenschaftlern und veröffentlichen Informationen und Einordnungen – insofern arbeiten wir wissenschaftlich.

WIR: Ein Beispiel, bitte.

Ataman: Wenn die hundertste Vergleichsstudie zur Bildungssituation in Deutschland erscheint, dann arbeiten wir heraus, was daran wirklich neu, was wirklich besonders, was vielleicht umstritten ist. Wir debattieren die Ergebnisse mit Forschern und Experten, wir veröffentlichen Gastkommentare. Wir reduzieren Komplexität und stellen auf unserer Website all unsere Informationen für jeden zur Verfügung.

WIR: Wie messen Sie, ob Sie Erfolg haben?

Ataman: Naja, messen können wir nur die Presseanfragen und die Zugriffe auf unserer Website, die sind für ein Special-Interest-Thema sehr ordentlich. Nicht messen lässt sich unser Einfluss, aber wir haben unsere Arbeit gut gemacht, wenn ein Journalist oder Politiker die Phrase „Migranten sprechen schlecht Deutsch“ spontan widerlegen kann, indem er die einschlägigen Studien zitiert. Das Feedback, das wir bekommen, deutet darauf hin, dass wir uns einen Ruf als verlässliche Anlaufstelle erarbeitet haben.

WIR: Wie sind Sie zu diesem Job gekommen?

Ataman: Oh, wo soll ich anfangen?

WIR: Am besten beim Ihrem Studium: Sie haben Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität studiert, am OSI.

Ataman: Das Grundstudium habe ich noch in Erlangen absolviert, mit dem Schwerpunkt „Moderner vorderer Orient“, so hieß das damals. Eigentlich wollte ich schon vorher ans OSI, weil jeder Abiturient, der damals Politikwissenschaft studieren wollte, dahin wollte – zumal Berlin die tollste Stadt in Deutschland ist.

WIR: Was kam dazwischen?

Ataman: Der Numerus Clausus, der lag im Jahr 2000 bei eins komma irgendwas; ganz genau weiß ich das nicht mehr. Er war aber für mich unerreichbar, deshalb der Umweg über Erlangen. Am OSI gehörte ich zu den letzten, die noch regulär ein Diplom machen durften – es tobten die Proteste gegen die Umstellung auf Bachelor und Master.

WIR: Wie haben Sie das OSI und die Freie Universität damals erlebt?

Ataman: Ganz ehrlich?

WIR: Bitte.

Ataman: Ich war ein bisschen enttäuscht. Ich hatte mir das Institut und die Kommilitonen wilder vorgestellt, progressiver, linker, vielleicht extremer. Und dann saß ich da in Vorlesungen mit lauter Leuten, die einen Laptop auf dem Schoß hatten und so gestriegelt aussahen, als kämen sie gerade vom Praktikum im Bundestag.

WIR: Und das Studium an sich?

Ataman: Vieles lief sehr anonym ab, damit musste ich erst umzugehen lernen. Dass es niemanden zu interessieren scheint, ob du deinen Reader durchgearbeitet hast oder nicht, daran musste ich mich erst gewöhnen. Aber ich habe es geliebt, nach Dahlem rauszufahren und mich dort mit anderen in den Seminaren zu streiten. Und während der Streiks und Protestsemester habe ich viele Engagierte kennengelernt, die Vorlesungen in U-Bahnen und an anderen Orten in Berlin organisiert haben – die ganze Stadt hat uns unterstützt. Das waren tolle Momente.

WIR: Welche Dozenten haben Sie besonders beeindruckt?

Ataman: Da denke ich vor allem an Friedemann Büttner, Professor für Politik und Zeitgeschichte des Vorderen Orients. Er hatte immer ein offenes Ohr, interessierte sich ehrlich für deine Gedanken und deine Meinung. Das motiviert so sehr. Als Student stellst du ja im Zweifel zum hundertsten Mal dieselbe dumme Frage, die schon so viele vor dir gestellt haben. Wenn dir dann ein Professor gegenüber sitzt, der dich ernst nimmt, ist das unheimlich viel wert. Leider ist Herr Büttner vor einigen Jahren gestorben.

WIR: Konzentrierten Sie sich schon an der Uni auf das Thema „Integration“?

Ataman: Ja, mich haben vor allem Migration und Integration interessiert; ich habe viele Seminare dazu belegt und ein Austauschsemester in Istanbul verbracht. Das war noch, bevor die Türkei bei Erasmus mitmachte – ein Professor hat das aus Eigeninitiative organisiert.

WIR: Woher kam das Interesse an diesen Themen – wegen der Herkunft Ihrer Eltern? Beide stammen aus der Türkei.

Ataman: Witzigerweise war mir während des Studiums nicht bewusst, dass Außenstehende mein Interesse mit meiner familiären Herkunft in Verbindung bringen könnten. Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen, Deutsch ist eine von zwei Muttersprachen für mich – ich schreibe und spreche sie perfekt. Keines der Integrationsprobleme, über die ich las oder debattierte, hatte mit mir zu tun. An der Uni war ich Ferda Ataman, die Deutsche, bis zu meinem Abschluss im Jahr 2005, dann war ich auf einmal Ferda Ataman, die türkische Kollegin.

WIR: Wieso das?

Ataman: Ich hatte mich auf gut Glück bei einem grünen Politiker um einen Job beworben. Damals gab es nicht so viele, die sich mit dem Thema Integration beschäftigten. Er hatte keine Stelle, aber versprach mir, sich umzuhören. Ein paar Wochen später rief mich Armin Laschet von der CDU an, gerade ganz frisch ernannter Integrationsminister in Nordrhein-Westfalen – der erste, der diese Zuständigkeit offiziell im Titel trug.

Absolventin Ataman: Auf einmal war ich Ferda Ataman, die türkische Kollegin.

Absolventin Ataman: Auf einmal war ich Ferda Ataman, die türkische Kollegin.

WIR: Was wollte er?

Ataman: Er suchte explizit jemanden mit türkischem Background, ich durfte mich bei ihm vorstellen und wurde tatsächlich seine Redenschreiberin. Also wurde ich in meinem ersten Job zum ersten Mal zur Türkin.

WIR: Klingt so, als seien Sie sehr weit oben eingestiegen.

Ataman: Ich habe jedenfalls unheimlich viel gelernt. Und weil ich die einzige Türkin im Team war, durfte ich ihn unheimlich oft begleiten bei Terminen und Auftritten.

WIR: Nicht alle Politiker wollen von ihren Mitarbeitern hören, wenn sie mal einen Auftritt vergeigt oder Quatsch erzählt haben. Wie war das bei Armin Laschet?

Ataman: Er war ein sehr progressiver CDU-Politiker, offen für die Meinung seiner Mitarbeiter und ein vergleichsweise junger Minister. Es hat mich nicht viel Überwindung gekostet, ihm meine Meinung zu sagen, obwohl ich erst 25, 26 Jahre alt war.

WIR: Kaum vorstellbar, dass Ihnen erst in dieser Zeit aufgefallen ist, dass manch einer Sie als Migrantin wahrnimmt.

Ataman: Naja, ich bin nicht aus allen Wolken gefallen, aber ich habe es mir vorher kaum bewusst gemacht. Mich interessierte Integration einfach – manchmal habe ich mir schon gedacht: Vielleicht hat es damit zu tun, dass meine Mutter als Gastarbeiterin nach Deutschland gekommen ist. Aber mir war tatsächlich nicht klar, dass Außenstehende mein Interesse immer mit meinem türkischen Namen in Verbindung bringen würden.

WIR: Während des Studiums hat das keine Rolle gespielt?

Ataman: An der Uni wird meist differenzierter diskutiert, nicht so sehr an Einzelfällen. Da hatten die Integrationsprobleme, über die wir sprachen, nichts mit mir persönlich zu tun. Aber wenn man anfängt zu arbeiten, merkt man auf einmal: Man wird immer wieder als Beispiel für gelungene Integration genannt. Dabei hatte ich nie das Gefühl, mich zu integrieren.

WIR: Während des Gymnasiums ist Ihnen nicht aufgefallen, dass es nicht viele andere Kinder mit türkischen Namen gab?

Ataman: Als Abiturientin machst du dir doch nicht bewusst, dass du eine der ganz, ganz wenigen türkischen Migrantenkinder in Bayern bist, die das Abitur schaffen. Ich habe einfach keine Widerstände gespürt, ich war gut in der Schule, ich hatte Freunde, ich habe das Leben einer Jugendlichen gelebt wie viele andere auch. Es gab an meiner Schule Kinder aus dem früheren Jugoslawien und aus Italien – ich habe darüber nicht nachgedacht. Dass ich in der Grundschule in die türkische Muttersprachenklasse geschickt werden sollte und später keine Empfehlung fürs Gymnasium bekam, hat meine Mutter von mir so gut es ging fern gehalten.

WIR: Sie haben als Redenschreiberin aufgehört, um an die Berliner Journalistenschule zu gehen; danach arbeiteten Sie in mehreren Redaktionen. Spielte da die türkische Herkunft eine Rolle?

Ataman: Manchmal. Beim „Tagesspiegel“ stellte uns eine Kollegin ihren Eltern einmal so vor: „Das ist meine Kollegin Claudia, das ist meine Kollegin Rita und das ist meine türkische Kollegin Ferda.“

WIR: Sie lachen darüber.

Ataman: Ach, ich finde es nach wie vor merkwürdig, aber es hat sich verdammt viel getan in den vergangenen zehn Jahren. Als ich während meiner Ausbildung bei der „Süddeutschen“ ein Praktikum absolvierte, war ich die erste türkischstämmige Journalistin dort – Sekretärinnen haben mich damals mit den Worten begrüßt: „Schön, dass endlich mal jemand von Ihnen hier ist.“ Ich glaube, das passiert heute nicht mehr und ich habe nie wirklich darunter gelitten. Aber es ist sicher kein Zufall, dass ich mich gegen Diskriminierung engagiere.

WIR: Vielen Dank für das Gespräch.


Die Multitaskerin

Ferda Ataman, 35, leitet den Mediendienst Integration. Sie hat Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut studiert und ihr Diplom im Jahr 2005 gemacht, ihre Schwerpunkte: Moderner vorderer Orient und Migration. Danach schrieb sie zunächst Reden für den nordrhein-westfälischen Integrationsminister, absolvierte dann die Ausbildung an der Berliner Journalistenschule, arbeite als Redakteurin unter anderem für „Tagesspiegel“ und „Spiegel Online“ und wechselte schließlich in den Öffentlichen Dienst: In der Antidiskriminierungsstelle des Bundes leitete sie das Referat Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation. Sie ist in Stuttgart geboren, in Nürnberg zur Schule gegangen und lebt heute in Berlin. 2009 gründete sie das bundesweite Journalistennetzwerk Neue deutsche Medienmacher mit.

Mehr im Netz: http://mediendienst-integration.de/