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Immer in Bewegung

Gretchen Dutschke, einst Theologiestudentin an der Freien Universität, blickt zurück auf die Studentenrevolte von 1968. „Worauf wir stolz sein dürfen“ heißt ihr Buch zum 50. Jubiläum.

09.12.2018

Gretchen Dutschke: „„Man hat sich seine Fächer auch danach ausgesucht, ob die Professoren ehemalige Nazis waren oder nicht.“

Gretchen Dutschke: „„Man hat sich seine Fächer auch danach ausgesucht, ob die Professoren ehemalige Nazis waren oder nicht.“
Bildquelle: Michael Fahrig

Gretchen Dutschke empfängt auf Socken. Ein bisschen zerstreut wirkt sie, aber nicht unvorbereitet. Zu Beginn des Gesprächs löffelt sie noch in ihrem Bananenmüsli. Rund um den Teller stapeln sich Bücher, Zeitungen, Fotos, Umschläge, Bahntickets. Gretchen Dutschke ist zurzeit viel unterwegs, auf Lesereise mit ihrem neuen Buch über 1968. Gestern war sie in Darmstadt, übermorgen geht es nach Bayreuth, hat sie gerade erfahren. „Jetzt muss ich den Termin zum Fensterputzen wieder absagen“, seufzt sie.

Seit 2009 lebt sie wieder in Berlin, in einem ziemlich neuen Haus, in dem ausschließlich Frauen die Wohnungen mieten oder besitzen. Sie hat gezielt nach so einer Wohnform gesucht, an die nicht zu denken gewesen wäre, als sie 1964 das erste Mal herkam und Rudi Dutschke kennenlernte. Die Rebellion keimte da gerade erst auf: Rudi war eins von vielleicht zehn Mitgliedern der „Subversiven Aktion“. Gretchen hatte am College in Illinois ihren Bachelor in Philosophie gemacht und sich vergleichsweise sachte gegen die Paranoia des „Komitees für unamerikanische Umtriebe“ aufgelehnt: Sie war dort einem Filmclub beigetreten, der sowjetische Filme zeigte. Als ihre Mutter ihr verbot, mit ihren schwarzen Beatnik-Strümpfen in die Kirche zu gehen, verkündete Gretchen Klotz, die später in Berlin Theologie studierte: „Dann gehe ich eben gar nicht.“ Auf einem Kohlefrachter kam sie nach Europa – sie wollte Deutsch und Französisch lernen und den Magister in Philosophie machen. Wenn man sie fragt, ob sie vor allem die Aufbruchsstimmung unter Berlins Studierenden faszinierte oder doch eher Rudi, dann sagt Gretchen Dutschke: „Beides“, dann grinst sie und schiebt nach: „Vielleicht ein kleines bisschen mehr Rudi.“ Sie zogen in eine „furchtbare“ Altbauwohnung am Nollendorfplatz, mit Blick auf die Hochbahn, zugig und so dunkel, dass Gretchen die Wände mit Zeitungspapier tapezierte, um sie etwas aufzuhellen.

An der Freien Universität schrieb sie sich für Theologie ein, bei Helmut Gollwitzer. „Man hat sich seine Fächer auch danach ausgesucht, ob die Professoren ehemalige Nazis waren oder nicht“, sagt Gretchen Dutschke. Gollwitzer, im Dritten Reich Mitglied der Bekennenden Kirche, die nicht mit dem Naziregime kollaboriert hatte, galt den rebellischen Studenten damals als engster Verbündeter – nicht nur im Hörsaal. Gretchen Dutschke saß mit beim allerersten Sit-In an der Freien Universität 1966, sie trug ein Transparent bei der berühmten Eierwurf-Demo vor dem Amerikahaus am Bahnhof Zoo und verteilte Flugblätter beim rebellischen Kudamm-Spaziergang.

Als Frau aber musste sie selbst gegen die Rebellen rebellieren. Sobald Frauen bei den SDS-Kongressen das Wort ergriffen, hörten die Männer nicht zu oder lachten sie aus. „So unversöhnlich sie sich ihren Vätern gegenüber gaben, so sehr repräsentierten sie ihr Objekt der Kritik in Zügen des eigenen Verhaltens“, schreibt Gretchen Dutschke in ihrem Buch.

Gretchen wünscht sich Gleichberechtigung

Sie wünschte sich eine stärker gleichberechtigte Art des Zusammenhalts, auch des Zusammenwohnens. Aus den USA hatte sie von Kommunen gehört, in denen Menschen Wohnungen, Hausarbeit und Ziele teilten; solidarisch, hierarchiefrei und mit gleichen Rechten und Pflichten. Sie diskutierte darüber mit Rudi und einem kleinen Zirkel, der schnell größer wurde – bis der notorische Provokateur Dieter Kunzelmann davon Wind bekam und die Idee okkupierte, wie Gretchen Dutschke sagt. Kunzelmanns „Kommune 1“ ging dann allerdings weniger wegen ihrer Verdienste um die Geschlechtergerechtigkeit in die Geschichte ein, sondern vor allem wegen des berühmten Foto mit den aufgereihten nackten Hintern.

Und trotzdem: Wenn man die Kommune 1 als Vorläufer heutiger WGs betrachtet, könnte man sogar behaupten, Gretchen Dutschke habe die WG nach Deutschland gebracht. Dass sie und Rudi selbst als Paar zusammenlebten und 1966 sogar heirateten, war vielen Genossen und Weggefährten mindestens suspekt. Kunzelmann – für Gretchen Dutschke „ein Pascha erster Ordnung“ – setzte zeitweise sogar zwei seiner Geliebten auf Rudi an.

Bei der Demo gegen den Schah am 2. Juni 1967 war Gretchen nicht dabei – sie war schwanger und blieb auf Bitten von Rudi zu Hause. So blieben ihr die Prügel der Jubelperser, die Leberwursttaktik der Berliner Polizei und der Anblick des verblutenden Benno Ohnesorg erspart. Der Tod Ohnesorgs wirkte wie ein Brandbeschleuniger auf die Studentenbewegung und ihre Gegner. Heiligabend trug Rudi eine Platzwunde davon, nachdem er mit ein paar Kommilitonen beim Weihnachtsgottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Transparente gegen den Vietnamkrieg entrollt hatte. Ein Wehrmachtsveteran zog Rudi seine Krücke über den Schädel. Drohungen gegen ihn und seine Familie und auch Übergriffe nahmen zu. Mehrfach wechselten die Dutschkes die Wohnung.

Gretchen und Rudi Dutschke lebten als Paar zusammen und heirateten 1966. Vielen Genossen und Weggefährten war das damals mindestens suspekt.

Gretchen und Rudi Dutschke lebten als Paar zusammen und heirateten 1966. Vielen Genossen und Weggefährten war das damals mindestens suspekt.
Bildquelle: Michael Fahrig

Am 11. April 1968 schoss Josef Bachmann auf dem Kudamm Rudi Dutschke zweimal in den Kopf und einmal in die Brust. Rudi überlebte schwer verletzt. Während Studenten an jenem Abend und dem folgenden Osterwochenende Steine auf das Springer-Hochhaus warfen und Lieferwagen anzündeten, bangte Gretchen Dutschke im Klinikum Westend um die geistige Gesundheit ihres Mannes. Rudi erkannte zwar auf Anhieb Gretchen, an Lenin erinnerte er sich aber – zum „Schrecken“ seiner Angehörigen – nur mit Mühe.

Die Dutschkes ziehen in die Schweiz

Zur Rehabilitation zogen sie zunächst in die Schweiz, dann nach Italien, Großbritannien und schließlich nach Aarhus in Dänemark. Die epileptischen Anfälle, die Rudi seit dem Attentat immer wieder erlitt, ließen mit der Zeit nach, und so konnte Gretchen ihren Magisterabschluss machen und Rudi seine Promotion abschließen. Bald fuhr er wieder zu Lesungen und Kongressen, während Gretchen an der Universität Aarhus Seminare gab und das Thema Ernährung für sich entdeckte. Am ernährungswissenschaftlichen Institut in Aarhus erforschte sie zum Beispiel, inwiefern religiöse Speisevorschriften eine gesunde Ernährung fördern. Fast hätte die Evangelische Studierendengemeinde sie sogar als Pfarrerin nach Hannover berufen. Doch der Name Dutschke verhinderte das. Heiligabend 1979 ertrank Rudi Dutschke nach einem epileptischen Anfall in der Badewanne. „Das hat mich aus der Bahn geworfen“, sagt Gretchen.

Als das Institut in Aarhus 1985 geschlossen wurde, brach sie ihre Zelte dort ab. „Noch einen dunklen Winter in Dänemark hätte ich nicht ausgehalten“, sagt sie. Sie zog nach Boston, betrieb dort eine kleine Pension. Ihr ältester Sohn Hosea, damals 17, blieb in Dänemark, ihre Tochter Polly kehrte nach der Highschool nach Aarhus zurück. Gretchen Dutschkes jüngster Sohn Marek wohnt heute in Berlin bei ihr um die Ecke. Immer wieder kehrte Gretchen Dutschke auch nach Deutschland zurück. In den Neunzigern schrieb sie in Hamburg an Rudis Biografie, später tourte sie auf Lesereisen durch die Bundesrepublik, und mit Hilfe einer Freundin beantragte sie schließlich erfolgreich die deutsche Staatsbürgerschaft. 2007 besuchte sie Vietnam – das Land, an dem sich einst die Revolte entzündet hatte. Sie unterrichtete für einige Monate Englisch in Ho-Chi-Minh-Stadt und Hanoi, gelangte aber bald zur Erkenntnis, „keine gute Lehrerin“ zu sein: „Ich konnte die Kinder überhaupt nicht bändigen.“

Wenige Monate, bevor sie sich in Berlin niederließ, benannte der Bezirk Friedrichshain- Kreuzberg einen Teil der Kreuzberger Kochstraße in Rudi-Dutschke-Straße um. Gretchen muss bis heute darüber kichern, dass die Axel Springer AG kurzerhand einen Eingang zu ihrem Verlagshaus sperrte, weil der nun plötzlich an der Dutschke-Straße lag. Seit Gretchen Dutschke wieder in Berlin ist, hat sie sich ein wenig Programmieren beigebracht, ein paar Computerspiele für ihre Enkelinnen gebastelt und auf der Seite „webforgirls. net“ hochgeladen. Sie sind nie fertig geworden, stattdessen hat sie zum 50. Jubiläum von 1968 noch einmal ein Buch geschrieben: „1968 – Worauf wir stolz sein dürfen“. Und worauf ist sie stolz? Auf die antiautoritäre Erziehung, sagt sie. Auf die Befreiung der Frauen auf vielen Gebieten. „Wir haben den Gehorsam abgeschafft.“ Das Erreichte sieht sie derzeit in Gefahr, doch die Voraussetzungen seien gut, um es gegen den neurechten Zeitgeist zu verteidigen: „Bewegungen können sich heute viel besser vernetzen“, sagt sie. „Und das demokratische Bewusstsein in Deutschland ist sehr stark.“