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Wie Ernst Reuter Mitbegründer der Freien Universität wurde

Die Gründung der Freien Universität geht maßgeblich auf die Initiative engagierter Studierender zurück. Doch dass das Vorhaben realisiert werden konnte, daran hatte auch der damalige Bürgermeister Ernst Reuter einen entscheidenden Anteil.

09.12.2018

Ernst Reuter, von 1948 bis 1953 Regierender Bürgermeister von West-Berlin.

Ernst Reuter, von 1948 bis 1953 Regierender Bürgermeister von West-Berlin.
Bildquelle: Fritz Eschen/Deutsche Fotothek

Am Anfang des Kalten Krieges steht auch eine Universitätsfrage. Die Berliner Universität Unter den Linden, die spätere Humboldt-Universität, soll nach dem Sieg über das nationalsozialistische Deutschland eigentlich unter der gemeinsamen Kontrolle aller vier alliierten Besatzungsmächte stehen. Doch die Universität im Ostteil der Stadt – und die dort regierende sowjetische Administration macht sich entgegen der Abmachung bald daran, die Professoren- und Studierendenschaft auf stalinistische Linie zu bringen. Wer nicht mitmacht, wird bald gnadenlos verfolgt. Im März 1947 eskaliert die Situation: Eine Studentin und zwei Studenten, die sich kritisch geäußert hatten, werden unter dem Vorwurf der Spionage verhaftet und in Geheimprozessen zu je 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Studierende, insbesondere im Umkreis des studentischen Magazins „Colloquium“, das unter amerikanischer Lizenz gedruckt wird, organisieren Widerstand. Im April 1948 versammeln sich rund 2.000 Studentinnen und Studenten auf dem damals noch in Trümmern liegenden Potsdamer Platz. Ihre Forderung: eine „freie Universität“ (damals noch mit kleinem „f “) im West-Sektor der Stadt.

„Wir waren fest entschlossen uns die sowjetischen Repressalien an der Universität nicht länger bieten zu lassen“, sagt Edzard Reuter. „Wir waren entschlossen, eine eigene Universität zu gründen.“ Der heute 90-jährige ehemalige Vorstandsvorsitzende von Daimler-Benz war damals – als 20-jähriger Student – auf dem Potsdamer Platz dabei. Es war schließlich sein Vater, der wesentlich mit dazu beitrug, dass dieses einzigartige Vorhaben – die Neugründung einer Universität auf studentischen Druck – gelingen konnte. Ernst Reuter, von 1948 bis zu seinem Tod im Jahr 1953 Bürgermeister von Berlin (West), stellte sich entschieden hinter die Forderungen der Studierenden. Auch Dank ihm konnte die Freie Universität ( jetzt mit großem „F“) so bereits im Wintersemester 1948/49 ihren Lehrbetrieb aufnehmen.

Im April 1948 ist Ernst Reuter bereits seit mehreren Monaten als Oberbürgermeister von Berlin gewählt – kann sein Amt aber nicht antreten, weil die Sowjets in der Alliierten Kommandatur ein Veto einlegen. Die Geschäfte führt deshalb kommissarisch Reuters Parteigenossin Louise Schroeder. Reuter, ein bestens vernetzter Charismatiker, zieht im Hintergrund die Fäden. In der Universitätsfrage wird er schnell eine treibende Kraft. „Mein Vater hat sofort verstanden, was auf dem Spiel stand“, sagt Edzard Reuter. „Die Freiheit von Lehre und Forschung war für ihn unverzichtbarer Bestandteil einer freien und demokratischen Gesellschaft.“

Ernst Reuter war einer der SPD-Abgeordneten, die am 23. März 1933 im Reichstag gegen das „Ermächtigungsgesetz“ gestimmt hatten. Wenig später wurde er verhaftet und mehrere Monate im Konzentrationslager Lichtenburg interniert, ehe er zuerst nach London, dann mit seiner Familie in die Türkei ausreisen konnte. Nach der Rückkehr aus dem 12-jährigen Exil ging er unmittelbar in die Politik zurück. „Er empfand es als seine Pflicht dazu beizutragen, dass aus Deutschland eine freiheitliche Demokratie wird“, sagt Edzard Reuter.

Erste Muster des Kalten Krieges

Betrachtet man die damalige Gemengelage, so erscheint es dennoch keineswegs selbstverständlich, dass Ernst Reuter sich der Sache der Studierenden so schnell und so entschieden verschrieb. Politisch wie akademisch herrschte auch Gegenwind. Das konservative Professorenmilieu machte die Pläne einer „politischen“ Universitätsgründung verächtlich. Politische Gegner warfen Reuter vor, mit seinen Plänen die Teilung Berlins voranzutreiben. In der Universitätsfrage zeigten sich bereits die Muster, die im Kalten Krieg die politische Debatte bestimmten. Einige politische Kommentatoren plädierten zur Ruhe, wollten abwarten, ob sich die Lage an der Berliner Universität wieder beruhige – andere wollten die Universität mit harter Hand unter Kontrolle der West-Allierten bringen. Doch Reuter ließ sich nicht beirren. Gemeinsam mit Edwin Redslob, Kunsthistoriker und Mitbegründer des „Tagesspiegels“, richtete Reuter im Frühjahr 1948 einen vorbereitenden Gründungsausschuss ein. Mit dabei war auch Otto Hess, einer der Herausgeber der kritischen Studierendenzeitschrift „Colloquium“. Im Juli 1948 schließlich hält Ernst Reuter im RIAS, dem „Rundfunk im amerikanischen Sektor“, einen flammenden Appell im Namen des Ausschusses: „Es geht um die Errichtung einer freien Universität, die der Wahrheit um ihrer selbst willen dient. Jeder Studierende soll wissen, daß er sich dort im Sinne echter Demokratie frei zur Persönlichkeit entfalten kann und nicht zum Objekt einseitiger Propaganda wird. Jeder Dozent soll hier frei von Furcht und ohne einseitige Bindung an parteipolitische Doktrin lehren und forschen können. Aus dem Geiste der Selbstbehauptung heraus, mit der sich unsere Stadt gegen die Blockade erhob, soll diese Universität erstehen und als geistiger Mittelpunkt des freiheitlichen Berlins der Gesundung Deutschlands dienen.“

Jutta Kroening, Medienwissenschaftlerin und ehemalige Studentin der Freien Universität, erforscht den Rundfunk der Berliner Nachkriegsgeschichte: „Die Gründungsgeschichte der Freien Universität lässt sich auch über das Radio nachvollziehen.“

Jutta Kroening, Medienwissenschaftlerin und ehemalige Studentin der Freien Universität, erforscht den Rundfunk der Berliner Nachkriegsgeschichte: „Die Gründungsgeschichte der Freien Universität lässt sich auch über das Radio nachvollziehen.“
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Reuters Rede schlug in der Öffentlichkeit ein. „Er hatte ein großes demokratisches Gespür“, sagt Jutta Kroening, „und er war ein brillanter Redner. Seine eindringliche Stimme ging auch über das Radio unter die Haut.“ Die Medienwissenschaftlerin und ehemalige Studentin der Freien Universität kam 1989 zum RIAS. Als Wissenschaftliche Mitarbeiterin arbeitete sie jahrelang die Geschichte der Rundfunkanstalt auf – unter anderem betreute sie redaktionell eine vom RIAS herausgegebene Schallplatte mit den wichtigsten Reden Reuters. Heute forscht sie in ihrer Freizeit weiter über den Rundfunk in der Berliner Nachkriegsgeschichte. „Der RIAS war die zentrale öffentliche Plattform für Reuter wie für die Studierenden“, sagt Jutta Kroening. „Die Gründungsgeschichte der Freien Universität lässt sich über das Radio nachvollziehen.“ Im Jahr 1948 wird Ernst Reuter offiziell Oberbürgermeister von Berlin (West). Daneben hat er eine eigene Sendung im von den Amerikanern immer weiter ausgebauten RIAS. Bis zu seinem Tod im Jahr 1953 informiert er die Berliner Haushalte dort wöchentlich über die politische Situation in der Stadt. „Es ist heute schwer vorstellbar“, sagt Jutta Kroening. „Aber Reuter konnte als Bürgermeister beim RIAS einfach anrufen und hat so viel Sendezeit bekommen, wie er wollte.“

Wo uns der Schuh drückt

In der Sendung, die den Titel „Wo uns der Schuh drückt“ trug, redet Reuter über alles, was die Berlinerinnen und Berliner bewegt. Über Flüchtlinge aus dem Osten, das Verhältnis zu den USA, Berlin und die Bundesrepublik, über freiheitliches Denken und den Wiederaufbau. Er erzählt aber auch Anekdoten aus seinem Privatleben. „Reuter war gern ein Mann des Volkes“, sagt Jutta Kroening. „Er verstand es aber auch, die öffentliche Meinung einzusetzen, um seinen Forderungen gegenüber den Amerikanern Gewicht zu verleihen.“ In der Sendung „Studenten haben das Wort“ lässt der Rundfunk ab 1947 die Studierenden alle zwei Wochen eine Viertelstunde ihr eigenes Programm machen. Redaktionell betreut wird die Sendung zu Beginn vom späteren ZDF-Journalisten Gerhard Löwenthal. Doch was auf Sendung geht, bestimmt nicht er, sondern ein studentischer Redaktionsausschuss. „Das Programm der Studierenden ging ungefiltert über den Äther“, sagt Jutta Kroening. Ein Blick ins Archiv der Sendung offenbart, wie hart das Leben im zerstörten Berlin ist. Die Sorgen von Studierenden damals: Kilometerlange Fußmärsche zur Vorlesung. Nicht genug zu essen zu haben. Im Winter zu erfrieren. Trotzdem geht es aber im Studierendenfunk schnell auch um Politisches. Öffentlich die eigene Meinung formulieren, das wird, nach Jahren der nationalsozialistischen Gleichschaltung, im RIAS zum ersten Mal eingeübt.

„Studenten haben das Wort“

Als die Repressalien und Unruhen an der Universität im sowjetischen Sektor zunehmen, wird die Radio-Sendung ein wichtiges Organ kritischer Studierender. Die drei Studenten Otto Hess, Joachim Schwarz und Otto Stolz, denen wegen ihrer Mitarbeit an der kritischen Zeitschrift „Colloquium“ die Studienerlaubnis an der Universität im sowjetischen Sektor entzogen wird, erlangen in „Studenten haben das Wort“ erstmals Bekanntheit über die Hörsäle hinaus. Die Sendung berichtet damals aus dem Inneren einer Studentenratssitzung, in der über die Exmatrikulation der drei entschieden wird – bis den studentischen Reportern von einem Unbekannten das Kabel durchgeschnitten wird. Später gehören Hess, Stolz und Schwarz zu den Organisatoren der Großdemonstration am Potsdamer Platz und schließlich zu den studentischen Mitbegründern der Freien Universität. „Die West-Berliner Politik wurde entscheidend durch das Flechtwerk zwischen SPD, Studierenden, der amerikanischen Militärregierung und dem RIAS geprägt“, sagt Jutta Kroening. „Ernst Reuter war dabei eine entscheidende Führungsfigur – politisch kam niemand an ihm vorbei.“ Die Zusammensetzung des Gründungsausschusses ist geschickt gewählt, bindet von vornherein Studenten, zukünftige Professoren und Vertreter anderer Parteien mit ein.

Die Familie als Rückhalt: Ernst Reuter mit seiner Frau Hanna und Sohn Edzard im Garten ihres Hauses in der Bülowstraße 33 (circa 1950).

Die Familie als Rückhalt: Ernst Reuter mit seiner Frau Hanna und Sohn Edzard im Garten ihres Hauses in der Bülowstraße 33 (circa 1950).
Bildquelle: Stiftung Ernst-Reuter-Archiv/Christel Willner

Im Hintergrund trifft Reuter sich mit Vertretern der West-Alliierten. Er genießt hohes Ansehen, insbesondere beim Kommandanten des amerikanischen Sektors, Frank L. Howley. Ein gutes Verhältnis pflegt Reuter auch zur Ford Foundation, die die Freie Universität später maßgeblich finanziell unterstützt. „Es war meinem Vater außerordentlich wichtig, dass auch die deutsche Seite sich offiziell an der Gründung beteiligt“, sagt Edzard Reuter. „Er wollte ein Zeichen setzen.“ Zeit seines Lebens habe Ernst Reuter von seinen eigenen Studienerfahrungen in München und Marburg – wo er unter anderem die berühmten Neukantianer Paul Natorp und Hermann Cohen gehört hat – geschwärmt.

Der Geist der Jugend

„Es gehörte zu den großen Glücksmomenten in seinem Leben“, sagt Edzard Reuter, „dass er seinen Teil dazu beitragen konnte, jungen Menschen in West-Berlin eine freie Studienerfahrung zu ermöglichen.“ Auf der Gründungsfeier der Freien Universität am 4. Dezember 1948 protestieren die Studierenden erneut – sie wollen sich, so berichtet Paul Nolte, Historiker der Freien Universität, nicht auf die hinteren Ränge des Titania-Palasts verbannen lassen, sondern beanspruchen einen Platz auf dem Podium. Unter ihnen ist auch der zwanzigjährige Klaus Heinrich, der später als Professor für Religionswissenschaft an der Freien Universität die deutsche Geisteswissenschaft maßgeblich prägt und an internationale Diskurse anschlussfähig macht. Als Ernst Reuter ans Rednerpult tritt, als, wie er sagt „Mann, der selber leider schon im vierundachtzigsten Semester steht“, dankt er – noch vor den Vertreten der alliierten Militärregierungen – den Studierenden: „[Ich muß] das erste Wort des Dankes an Sie, meine jungen Studenten, richten. Aus dem Geist der Jugend ist diese Universität geboren, der Geist der Jugend ist es gewesen, der mit der schönen Begeisterungsfähigkeit, die nun einmal, wie wir hoffen, für alle Zeiten das Vorrecht der Jugend ist, diese Universität eigentlich geschaffen, ich möchte sagen, ihr Entstehen erzwungen hat.“