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Nummer 1

Im Oktober 2019 starb Stanislaw Karol Kubicki, die Matrikelnummer 1 unserer Universität. Ein Nachruf seines Freundes und Weggefährten Siegward Lönnendonker.

27.11.2019

Stanislaw Karol Kubicki

Stanislaw Karol Kubicki
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Stanislaw Karol Kubicki, der Student mit der Matrikelnummer 1 der Freien Universität Berlin, ist im Alter von 93 Jahren gestorben. Als einer ihrer Väter blieb er ihr bis zum Ende seines langen und erfolgreichen Lebens aufs Engste verbunden. Bis zu dem legendären Münzwurf, der darüber entschied, ob er oder sein Kommilitone Helmut Coper sich als erster an der neugegründeten Universität in Dahlem einschreiben durfte, hatte der damals 22-Jährige bereits schmerzliche Erfahrungen mit zwei totalitären Systemen hinter sich. Zeit seines Lebens kämpfte er leidenschaftlich gegen jede Form von Totalitarismus. Karol Kubicki erblickte 1926 als Sohn des expressionistischen Malerehepaars Margarete Kubicka und Stanislaw Kubicki das Licht der Welt. Seine Mutter engagierte sich Ende des Ersten Weltkriegs im Spartakusbund und später in linken Künstlerkreisen, unter anderen gehörte sie mit den jüdischen Malern Jankel Adler und Otto Freundlich zu den Mitbegründern der Gruppe „Kommune". Kubickas Bilder wurden in internationalen Ausstellungen der „Gruppe progressiver Künstler" 1926 in Moskau und 1930 in Chicago gezeigt. Der Vater von Karol Kubicki gehörte zum Umfeld der Berliner Dadaisten. Er verfasste außerdem in deutscher und polnischer Sprache avantgardistische Gedichte. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten emigrierte Stanislaw Kubicki nach Polen, blieb aber als Verbindungsmann zu Widerstandskreisen in Deutschland aktiv und kämpfte nach dem Einmarsch der Wehrmacht bis zu seiner Verhaftung 1941 im polnischen Untergrund. Das genaue Datum seiner Ermordung durch die Gestapo ist nicht bekannt. Die Familie erfährt im Juni 1942 von seinem Tod. Zu diesem Zeitpunkt gehörte sein Sohn Karol einer Schüler-Widerstandsgruppe am Kaiser- Wilhelm-Realgymnasium in Neukölln an. Dort legte er 1944 das Abitur ab. Es folgten Arbeitsdienst, ein Trimester Medizinstudium und die Einberufung in die Wehrmacht. Von Februar bis August 1945 befand sich Karol Kubicki in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Als „Opfer des Faschismus" (OdF) erhielt er die Zulassung für ein Medizinstudium an der Berliner Universität Unter den Linden und war dort Mitbegründer der „Vereinigung antifaschistischer Studenten". Nach dem Entzug der Studienerlaubnis für seine Freunde Otto Stolz, Otto H. Hess und Joachim Schwarz im April 1948 verfasste Karol Kubicki in der Studentenzeitschrift „colloquium" einen Artikel gegen die Sowjetisierung der Berliner Universität und die Denunziation von Andersdenkenden.

Karol Kubickis Foto für das Studienbuch. Er immatrikulierte sich für Medizin.

Karol Kubickis Foto für das Studienbuch. Er immatrikulierte sich für Medizin.
Bildquelle: Universitätsarchiv/Freie Universität Berlin

Anlässlich des 70. Jahrestags der Gründung der Freien Universität schrieb er über diese Zeit: „Für uns Studenten, darunter viele Juden, die während der NS-Zeit nicht hatten studieren dürfen, war der Naziterror gerade vorbei, als an der Linden-Universität der Terror aufs Neue begann – aber nun auf links gestrickt. Die Lage war dermaßen verdreht, dass es gar nicht so widersinnig erschien, in dieser Zeit auch noch eine Universität zu gründen. Und war nicht der Plan der Amerikaner, die mehr als zwei Millionen Menschen in den drei Westsektoren über eine Luftbrücke zu ernähren, noch um einiges verrückter? Als sich die Amerikaner für unseren Plan einer Universitätsgründung einsetzten, galt für uns das Problem schon als halb gelöst: Über ein Scheitern haben wir uns keine Gedanken gemacht." Karol Kubicki gehörte dann dem ersten AStA der Freien Universität an. Von 1948 bis 1951 studierte er parallel zu seinem Medizinstudium Kunstgeschichte und Klassische Archäologie. Nach der Approbation im Jahr 1953 begann er eine Ausbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Neurologie sowie zusätzlich zum Anästhesisten in der Neurochirurgie. Er promovierte 1955 über den Wert der Elektroenzephalographie bei Hirntumoren und habilitierte sich 1967 mit der Schrift „Die elektroenzephalographischen Erscheinungen im Verlauf akuter Schlafmittelvergiftungen". 1969 wurde er an „seiner" Freien Universität zum Professor ernannt, deren Akademischem Senat und Konzil er von 1971 bis 1973 als professorales Mitglied angehörte. Am FU-Klinikum Charlottenburg in Westend leitete er von 1975 bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand im Jahre 1991 als Geschäftsführender Direktor die Neurologisch- Neurochirurgische Klinik. Den Zielen der Studentenbewegung von 1968 widersprach Kubicki aus eigener Lebenserfahrung. So wurde er 1969 Mitbegründer der „Notgemeinschaft für eine freie Universität" und trat dem „Bund Freiheit der Wissenschaft" in dessen Gründungsjahr 1970 bei. Neben medizinischen Publikationen in deutsch-, englisch- und französischsprachigen Zeitschriften veröffentlichte Kubicki zahlreiche Beiträge zur Geschichte der Freien Universität und zur Kunstwissenschaft, der seine besondere Liebe galt. Auf seine Initiative hin gründete der Westberliner Kultursenator Adolf Arndt die „Neue Gesellschaft für Bildende Kunst". Dort gehörte Kubicki bis 1968 dem Vorstand an und war nach ihrer Auflösung von 1969 bis 1974 Vorstandsmitglied im „Neuen Berliner Kunstverein". Zudem war er 1976 Mitbegründer und anschließend langjähriger Präsident der Jeanne- Mammen-Gesellschaft in Berlin. Daneben kümmerte er sich um das malerische Werk der Eltern und stellte deren in seinem Besitz befindliche Exponate sowie die ihrer avantgardistischen Freunde aus Polen und dem Rheinland für deutsche und internationale Ausstellungen zur Verfügung. 1990 riefen mehrere „48er"-Gründungsstudierende und ehemalige „68er" auf Initiative des FU-Gründungsstudenten und Mitglieds des ersten FU-AStA als Referent für Internationales sowie späteren Leiters des FU-Außenamtes Dr. Horst Hartwich einen Diskussionskreis ins Leben, der zunächst bei ihm und später im APOArchiv in der Malteserstraße in Lankwitz tagte (daher der Name „Malteser Kreis"). Dort entstand der Gedanke, zum 50. Jahrestag der Gründung der Freien Universität eine Vortragsreihe über deren politische Geschichte unter Beteiligung von Zeitzeugen zu veranstalten. Den „Maltesern" Karol Kubicki und Siegward Lönnendonker gelang es, den damaligen FU-Präsidenten Prof. Dr. Peter Gaehtgens für dieses Vorhaben zu gewinnen, und so fand die Vortragsreihe als Universitätsvorlesung unter seiner Schirmherrschaft im Wintersemester 1998/99 statt; die Vorträge und Diskussionen liegen in Buchform vor. Hatte sich die Geschichtsschreibung der Freien Universität bisher allzu sehr auf die Geschichte einer aus politischen Erwägungen ins Leben gerufenen Universität beschränkt und eine Fülle von Darstellungen über die politischen Wirren und Unruhen in den 1960er- und 1970er-Jahren produziert, so entwickelte Karol Kubicki die Idee, auch die wissenschaftlichen Arbeiten der Freien Universität und ihre Stellung als herausragende nationale und internationale Forschungsuniversität zu dokumentieren. Das Echo auf dieses Vorhaben war sehr ermutigend, denn es gelang ihm, für die „Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte der Freien Universität Berlin", die ebenfalls in Buchform vorliegen, ein Redaktionskollegium unter seinem Vorsitz aus hochschulpolitischen Kontrahenten zu bilden und zur kontinuierlichen Zusammenarbeit zu bewegen, dessen Zusammensetzung in der Tat einzigartig war. So gehörten ihm außer Kubicki zu Beginn unter anderen folgende Mitglieder an: Prof. Dr. Siegfried Baske (ehemaliger Vizepräsident der Freien Universität, gest. 2008), Dr. Ursula Besser (CDU, ehemalige Vorsitzende des Wissenschaftsausschusses des Berliner Abgeordnetenhauses und Stadtälteste von Berlin), Willi Diedrich (Gründungsstudent der Freien Universität, ehemaliger Kanzler der Technischen Universität Berlin und ehemaliger Staatssekretär), Prof. Dr. Ursula Hennig (Germanistikprofessorin der Freien Universität, gest. 2006), Prof. Dr. Helmut Kewitz (Gründungsstudent der Freien Universität, Mitbegründer der Liberalen Aktion, gest. 2010), Dr. Siegward Lönnendonker (ehemaliges Mitglied der Deutsch-Israelischen Studiengruppe und des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, Begründer und Leiter des APOArchivs der Freien Universität), Ruth Recknagel (Gründungsstudentin der Freien Universität, ehemalige Richterin am Kammergericht und Direktorin der Wiedergutmachungsämter von Berlin) und Prof. Dr. Klaus Wähler (Juraprofessor an der Freien Universität).

Karol Kubicki und Ehefrau Petra.

Karol Kubicki und Ehefrau Petra.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Die Arbeiten des „Malteser Kreises" waren insbesondere in seinen letzten Jahren nur möglich durch die große Unterstützung von Kubickis Ehefrau Petra. 1959 hatten sich beide kennengelernt: Beim Vorstellungsgespräch für eine MTA-Stelle, das Petras Mutter vermittelt hatte, stellte sich die Studentin Petra so schlecht dar, dass Karol sie anschließend nach allen Regeln der Kunst „zur Schnecke machte", worauf sie sich bei einem weiteren Treffen unsterblich ineinander verliebten. Ziel des „Malteser Kreises" war es, Autorinnen und Autoren zu gewinnen, die an der Entwicklung der Forschung selbst Anteil hatten und aus ihrem durch viele Jahre der Zugehörigkeit zur Freien Universität geprägten Erfahrungsschatz berichten konnten. Den Herausgebern der „Beiträge" war bewusst, dass die Dokumentationen der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über ihre Institute bzw. Fakultäten und Fachbereiche nur wichtige Vorarbeiten für eine noch zu schreibende Wissenschaftsgeschichte darstellen konnten. Es ging deshalb vor allem darum, die Beschreibungen der Beteiligten im Original festzuhalten und wertvolle Quellen zu sichern. In der Einschätzung der Geschichte der Berliner Universitäten ließen sie keinen Zweifel an ihrer Überzeugung, dass nach dem Kriege die Universität im Ostsektor Berlins zu einer Parteihochschule sowjetisiert worden war, die mit Wilhelm von Humboldts Idealen von der Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden sowie der Freiheit von Lehre und Forschung nichts mehr gemein hatte; deren Namensgebung „Humboldt-Universität" im Jahre 1949 hielten sie für den größten Etikettenschwindel deutscher Hochschulgeschichte. Nach der 2006 erfolgten ersten Auszeichnung der Freien Universität im Exzellenzwettbewerb zogen sie diesbezüglich Bilanz: „Nur die Weiterführung der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität im Humboldtschen Geiste der Freiheit von Lehre und Forschung" an der Freien Universität „konnte die Fortführung der wissenschaftlichen Tradition mit ihren Spitzenleistungen garantieren." Die Freie Universität Berlin ist auch das Lebenswerk von Karol Kubicki. Er war ihr erster akademischer Bürger und lebte ihre Grundsätze veritas, justitia, libertas im wahrsten Sinne der Worte.