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Eine schwere Entscheidung

Seit Beginn der Corona-Pandemie stehen Kulturschaffende vor besonderen Herausforderungen – so wie Anna Engel, ehemalige Studentin der Theaterwissenschaft.

20.02.2021

Anna Engel, 24, stellte sich während ihres Studiums die Frage: Wählt sie einen krisensicheren Job bei der Kriminalpolizei oder bleibt sie ihrer Liebe zum Theater treu?

Anna Engel, 24, stellte sich während ihres Studiums die Frage: Wählt sie einen krisensicheren Job bei der Kriminalpolizei oder bleibt sie ihrer Liebe zum Theater treu?
Bildquelle: Miriam Klingl

wir: Frau Engel, spricht man von Theater, denkt man vielleicht zuerst an Städte wie Berlin, Wien oder München. Sie stammen aus Anklam in Mecklenburg-Vorpommern. Wie hat diese kleine Stadt Ihre Liebe zum Theater entfacht?

Anna Engel: Die Vorpommersche Landesbühne hat viele Jahre großartige Jugendarbeit geleistet. Mittlerweile ist das ein bisschen schwieriger geworden, weil es auch in der Theaterpädagogik einen Fachkräftemangel gibt, aber in meiner Schulzeit konnte ich überall dabei sein: In der Grundschule und auf dem Gymnasium gab es Theater-AGs, und noch schöner fand ich die außerschulischen Angebote. Mit unserer Kinderund Jugendtheatergruppe habe ich immer beim Open-Air-Theater gespielt. Das ist bis heute ein echtes Erlebnis.

wir: Warum?

Anna Engel: Wir haben vier Open-Air-Bühnen, bei denen im Sommer mit all den Touristinnen und Touristen rund um Usedom immer eine tolle Stimmung ist. In Wolgast spielen wir Ostalgie- Stücke, die Vineta-Festspiele gehen eher ins Mystische und bei „Die Peene brennt“ in Anklam tobt sich das ganze Theater aus. Da brennen wir alle Pyrotechnik ab, die noch von der Saison übriggeblieben ist. Die Proben dauern fünf Wochen, und ab dem ersten September-Wochenende spielen wir dann für die Leute in Anklam. Wir sind wie eine eingeschworene Familie, mit vielen Freiwilligen, die immer wieder mitmachen. Eigentlich freuen wir uns das ganze Jahr auf diese sechs Wochen im Sommer.

„Diese Macht des Theaters, überzeugende Illusionen zu erschaffen, fasziniert mich bis heute.“

„Diese Macht des Theaters, überzeugende Illusionen zu erschaffen, fasziniert mich bis heute.“
Bildquelle: Miriam Klingl

wir: Ist denn Ihre richtige Familie auch theaterbegeistert?

Anna Engel: Eher nicht. Die erste Berührung mit dem Theater hatte ich durch meine Oma. Als ich vier oder fünf Jahr alt war, hat sie mich ins Anklamer Theater geschleppt.

wir: Geschleppt?

Anna Engel: Das war eine richtig schlimme Erfahrung! Es gab „Die Geschichte vom Kleinen Muck“, und ich habe mich unglaublich gefürchtet, weil der kleine Muck anderen Menschen Eselsohren zaubern konnte! Ich wollte rauslaufen, aber meine Oma hat mich nicht gelassen. Heute glaube ich, dass es diese Macht des Theaters ist, überzeugende Illusionen zu erschaffen, die mich bis heute fasziniert.

wir: Sie wussten also schon sehr früh, dass Sie zum Theater wollen?

Anna Engel: In irgendeiner Form, ja. Ich wusste allerdings auch, dass ich nicht Schauspielerin werden möchte.

wir: Warum? Das ist doch für viele Menschen ein Traumberuf.

Anna Engel: Es ist ein harter Beruf. Wenn man kein festes Mitglied in einem Ensemble ist, muss man sich alle paar Jahre an einer anderen Bühne bewerben. Man hat ständig Leistungsdruck, ist ständig in Prüfungssituationen. Hinter den Kulissen kann man sich wesentlich besser aussuchen, wann man sesshaft werden und irgendwann vielleicht auch eine Familie gründen möchte. Deshalb wollte ich nicht Schauspiel, sondern Theaterwissenschaft studieren. Und als es trotz Numerus Clausus bei meiner Wunsch-Uni, der Freien Universität Berlin, geklappt hat, war das super.

wir: Warum wollten Sie nach Berlin?

Anna Engel: Ich hatte, wie wohl viele junge Menschen in Deutschland, den Wunsch, eine Zeit in Berlin zu leben. Außerdem war es an der Freien Universität möglich, Theaterwissenschaft zu studieren, ohne das Fach mit Film- oder Medienwissenschaft koppeln zu müssen. Filme sehe ich mir auch an, aber so richtig interessiere ich mich nur für das Theater. Darüber wollte ich alles lernen: die Hintergründe, die Geschichte.

wir: Als Theaterstadt hat Berlin eine lange und reiche Tradition. War das für Sie wichtig?

Anna Engel: Vor meinem Studium kannte ich natürlich die wichtigen Bühnen und Namen. Aber wenn meine Familie einen Ausflug nach Berlin gemacht hat, sind wir nicht ins Theater, sondern ins Musical gegangen. Dafür bin ich dann während meines Studiums von 2015 bis 2019 so richtig in die Berliner Theaterwelt eingetaucht und habe jeden Monat mindestens zehn Aufführungen gesehen. Das ging zwar trotz Ermäßigung ganz schön ins Geld, war aber eine tolle Erfahrung, weil wir in der Uni über viele Aufführungen sehr intensiv gesprochen haben. In einigen Seminaren haben wir auch hinter die Kulissen geschaut und uns zum Beispiel mit den Dramaturginnen und Dramaturgen getroffen.

wir: Welche Stücke haben Sie besonders beeindruckt?

Anna Engel: Die erste Inszenierung, die ich im Studium gesehen habe, war „Nathan der Weise“ am Deutschen Theater. Meine Kommilitoninnen und Kommilitonen mussten mich richtig überreden, denn in der Schule sind wir das Stück ein volles Jahr lang durchgegangen und ich hatte davon beinahe ein Trauma. Erst durch die Inszenierung wurde mir klar, was für ein gutes Stück das ist! Und in Berlin gehörte natürlich auch „Hamlet“ in der Schaubühne dazu. Der wurde total gehypt, den hatte jeder gesehen. Vier Semester lang habe ich versucht, Karten zu bekommen. Und als es endlich geklappt hat, war es wirklich sehr besonders.

wir: Das klingt alles so, als hätten Sie sehr zielstrebig Ihren Traum verfolgt, ans Theater zu gehen. Warum bekamen Sie plötzlich Zweifel?

Anna Engel: Je näher mein Abschluss rückte, desto stärker wurde meine Zukunftsangst. Alle in meiner Familie haben krisensichere und anerkannte Berufe. Wer dagegen Theaterwissenschaft studiert, wird oft mit der Frage konfrontiert, was man damit denn später machen will. Also habe ich angefangen, mich umzuhören: In welchen Jobs verdiene ich mehr Geld und habe trotzdem Spaß? Eine Freundin von mir war ausgebildete Schauspielerin, ist dann aber zur Kriminalpolizei gegangen. Das fand ich spannend.

wir: Was reizte Sie an der Kripo?

Anna Engel: Schon die Ausbildung ist sehr interessant. Man macht viel Sport und lernt viel über deutsches Recht. Der Beruf selbst ist dann sehr abwechslungsreich. In den ersten zwei Jahren kann es zwar sein, dass man nur Fahrraddiebstähle abarbeitet, aber später kann man sich aussuchen, in welchen Bereich man geht: Ob man zum Beispiel rassistische Verbrechen aufklärt, in die Mordkommission geht – oder doch lieber bei den Fahrraddiebstählen bleibt.

wir: Wie wird man denn Kriminalpolizistin?

Anna Engel: Man absolviert ein sehr aufwendiges Bewerbungsverfahren, das fast ein Jahr dauert. Zuerst gibt es ein paar Online-Tests, dann wird man zu Gesprächen eingeladen, macht Prüfungen auf Deutsch und Englisch, zu Maw the, zu Polizeirecht. Dann gibt es medizinische Tests, Reaktions- und Konzentrationstests, das Hör- und Sehvermögen werden geprüft. Die wichtigsten Prüfungen fanden im Sommer statt: zuerst Gespräche und Tests in Berlin-Mitte, danach schnell zum Sporttest in Spandau. Wir mussten bei 30 Grad in einer Halle einen Parcours absolvieren. Das hat auch alles super geklappt, nur bin ich danach zusammengebrochen, weil ich vor Aufregung zu wenig getrunken hatte.

wir: Das klingt sehr anstrengend. Haben Sie Ihr Studium dafür unterbrochen?

Anna Engel: Mein Plan war, alles parallel zu machen: Bachelorarbeit, Prüfungen, das Auswahlverfahren bei der Kripo und im Sommer nochmal Theater in Anklam. Dann hätte ich im Herbst meinen Abschluss in der Tasche gehabt und nahtlos meine Ausbildung bei der Kripo beginnen können.

wir: Und hat alles geklappt?

Anna Engel: Ja, die Zusage für meinen Ausbildungsplatz kam sogar früher als geplant. Ich bin also im Sommer nach Anklam gefahren, um mich nach acht Jahren endgültig zu verabschieden. Denn mir war klar: Wenn ich bei der Polizei in Berlin bin, nehme ich nicht meinen kompletten Jahresurlaub, um an der Ostsee Theater zu spielen. Ich habe also noch einmal sechs Wochen mit diesen lieben Menschen Theater gespielt. Und mich die ganze Zeit innerlich mit meiner Entscheidung herumgeplagt.

wir: Was haben denn Ihre Kolleginnen und Kollegen dazu gesagt?

Anna Engel: Einige kennen mich ja schon, seit ich zehn Jahre alt war. Wolfgang Bordel, der damals noch unser Intendant war, hat mich irgendwann zur Seite genommen und gesagt: „Anna, so ganz kalt lässt dich das nicht. Bist du dir sicher mit der Polizei? Ich will dir nichts ausreden, aber du kannst auch wieder herkommen. Du weißt, dass du hier immer eine Heimat hast.“ Aber ich dachte: Ich bin ein Mensch, der zu Ende bringt, was er angefangen hat. Zu meiner Familie zu gehen, um ihr zu sagen, dass ich jetzt doch nicht zur Polizei gehe: Das kam mir vor, als wäre ich gescheitert.

wir: Gescheitert? Sie hatten doch zwei gute Optionen, aus denen Sie auswählen konnten.

Anna Engel: Ich hatte das Gefühl, dass ich einen gut bezahlten, sicheren Beruf aufgebe, um stattdessen meinem Hobby nachzugehen. Wenn ich mich für das Theater entscheide, weiß ich, dass ich mein Leben lang nicht angemessen honoriert werde, weil dafür einfach kein Geld da ist.

wirr: Wie hat Ihre Familie reagiert, als Sie von ihren Gewissensbissen erzählt haben?

Anna Engel: Alle haben gesagt: „Wir stehen hinter dir. Geh den Weg, der besser für dich ist.“ Und da ich in Berlin meine Familie und die Ostsee sehr vermisst habe, war die Entscheidung dann am Ende ganz leicht.

wir: Heute haben Sie eine feste Stelle am Theater, sind Dramaturgieassistentin an der Vorpommerschen Landesbühne und stellvertretende Schulleiterin der Theaterakademie Vorpommern. Und das ganze vergangene Jahr wurde darüber diskutiert, ob Kultur „systemrelevant“ sei oder doch eher in die Rubrik „Event“ falle. Setzen Ihnen diese Zweifel zu?

Anna Engel: Für Theater ist in Mecklenburg- Vorpommern das Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur zuständig. Und diese Zuordnung halte ich auch für richtig. Theater haben einen Bildungsauftrag. Das ist in einer ländlichen Gegend nicht immer einfach, weil viele Menschen einfach nur unterhalten werden wollen. Und gerade in der Corona-Zeit spielen wir bewusst Komödien, damit die Leute auch etwas zum Lachen haben. Aber wir stimmen unseren Spielplan zum Beispiel eng mit den Schulen ab. So können Schülerinnen und Schüler viele Stücke, die im Lehrplan stehen, auch bei uns erleben. Unsere Aufgabe ist es, Kinder und Jugendliche für das Theater zu interessieren und den Nachwuchs zu fördern. Das geht nur über Bildung.

„In der Corona-Zeit spielen wir bewusst Komödien, damit die Leute auch etwas zum Lachen haben.“

„In der Corona-Zeit spielen wir bewusst Komödien, damit die Leute auch etwas zum Lachen haben.“
Bildquelle: Miriam Klingl

wir: Bei der Forderung nach „Systemrelevanz“ schwingt auch mit, dass die Kultur mehr tun sollte: Sie soll eine gesellschaftspolitische, demokratiestützende Rolle übernehmen. Sehen Sie das auch so?

Anna Engel: Ich denke schon, dass wir eine gesellschaftliche Verpflichtung haben. Obwohl die meisten Theaterschaffenden wohl eher links sind, ist das Theater selbst neutral, ein bisschen wie die Schweiz. Wir vermitteln zwischen den Positionen. Wir zeigen, wo unsere Gesellschaft Defizite hat, was falsch läuft. Wir erziehen unser Publikum auch ein bisschen. Dafür ist Theater das richtige Medium.

wir: Wie sieht Ihr Alltag in Corona-Zeiten momentan aus?

Anna Engel: An der Theaterakademie dürfen wir derzeit nicht unterrichten, das sah im Dezember noch anders aus. Jetzt gilt es, neu zu planen, Zeiträume zu finden, damit die Elevinnen und Eleven ihren Unterricht nachholen können, und neue Dozentinnen und Dozenten zu akquirieren. Für das Theater war 2020 ein Jahr mit vielen Tiefschlägen. Besonders schlimm war, dass unser Weihnachtsgeschäft weggebrochen ist. Nicht, weil wir damit Geld machen, sondern weil es für Kinder einfach schön und magisch ist, wenn sie zu Weihnachten ins Theater gehen dürfen. Für die Saison 2021/22 versuchen wir, zu planen und zu proben. Das dürfen wir noch. Mittlerweile verschieben wir aber auch alle angesetzten Premieren schon auf den Sommer beziehungsweise auf die nächste Spielzeit. Theatermenschen sind Workaholics und für uns ist es schwer, wenn wir gezwungen sind, nichts zu tun. Am schlimmsten ist es für die Schauspielerinnen und Schauspieler, denn sie leben von den Reaktionen des Publikums.

wir: Wie oft wurden Sie im vergangenen Jahr gefragt, ob Sie jetzt nicht doch lieber den sicheren Job bei der Kripo hätten?

Anna Engel: Oft.

wir: Und? Bereuen Sie Ihre Entscheidung?

Anna Engel: Berlin vermisse ich manchmal. Aber meine Entscheidung für das Theater bereue ich nicht.

Das Interview führte Stefanie Hardick