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Spur der Sprache

Christiane von Stutterheim, Professorin für germanistische Linguistik an der Universität Heidelberg, war eine der Ersten, die 1985 mit dem Ernst-Reuter-Preis ausgezeichnet wurden.

20.02.2021

Als Forscherin interessierte sich Christiane von Stutterheim für den Zusammenhang zwischen Sprache und Denken. Was passiert in unserem Kopf, wenn wir sprechen? Wie bestimmt unsere Muttersprache die Art und Weise, wie wir die Welt sehen?

Als Forscherin interessierte sich Christiane von Stutterheim für den Zusammenhang zwischen Sprache und Denken. Was passiert in unserem Kopf, wenn wir sprechen? Wie bestimmt unsere Muttersprache die Art und Weise, wie wir die Welt sehen?
Bildquelle: Frank Stefan Kimmel

An den Tag der Preisverleihung kann sich Christiane von Stutterheim noch gut erinnern. Sie war damals 32 Jahre alt, wohnte in einer Wohngemeinschaft in der Nähe des Tiergartens und wusste, dass sie unbedingt Wissenschaftlerin werden wollte. Dem bevorstehenden Festakt habe sie mit Skepsis entgegengesehen: „Ich gehörte zu einer Generation, die allem Zeremoniellem gegenüber grundsätzlich misstrauisch war“, sagt von Stutterheim, die heute Professorin für germanistische Linguistik an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg ist. Abschlussfeiern mit Pomp und Pathos gab es in den 1980er-Jahren nicht. Die Promotionsurkunde holte man sich einfach in einem Büro ab. Sie wusste also nicht so recht, was auf sie zukommen würde, als sie an jenem 4. Dezember 1985 als eine der ersten Promovierten den neu gestifteten Ernst-Reuter-Preis der Freien Universität für ihre Dissertation „Temporalität in der Zweitsprache: Eine Untersuchung zum Erwerb des Deutschen durch türkische Gastarbeiter“ erhielt.

„Am Ende habe ich mich doch sehr über die Auszeichnung gefreut“, sagt sie heute. Zur Verleihung war ihr Vater eigens aus München angereist, ein Streichquartett spielte, und Dieter Heckelmann, der damalige Präsident der Freien Universität, hielt eine Ansprache. „Es war keine Rede auf die Karriere, sondern es ging wirklich um die wissenschaftliche Leistung“, sagt Christiane von Stutterheim. „Das hat mir gefallen.“

135 Preisträgerinnen und Preisträger in 35 Jahren

Noch heute werden, bis auf wenige Ausnahmen, jedes Jahr am Gründungstag der Freien Universität Berlin die besten Dissertationen mit dem Ernst-Reuter-Preis ausgezeichnet. Das Preisgeld von derzeit je 5000 Euro stiftet die Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen; in 35 Jahren wurden bislang 135 Preisträgerinnen und Preisträger von einer interdisziplinär besetzten Kommission ausgewählt.

Wie es nach einer solchen Auszeichnung weitergehen kann, zeigt die Karriere von Christiane von Stutterheim. Geboren 1953, wuchs sie in München auf, hatte aber immer schon eine besondere Beziehung zu Berlin. Ihre Großmutter war „Unter den Linden“ groß geworden, ein Teil ihrer Familie kommt aus Berlin und Umgebung, der leichte Berliner Zungenschlag ihrer Mutter begleitete ihre Kindheit. Sie studierte zunächst an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Philipps-Universität Marburg auf Lehramt: Germanistik, Geschichte, Politik, Philosophie und Soziologie. Nach Referendariat und Zweitem Staatsexamen zog Christiane von Stutterheim 1980 nach West-Berlin.

Pendeln zwischen Berlin und den Niederlanden

Sie kam zu einer Zeit, zu der niemand ahnte, dass am Ende des Jahrzehnts die Mauer fallen würde. Die Stadt war geteilt, auf der Glienicker Brücke wurden DDR- und US-amerikanische Agenten ausgetauscht, das Nachtleben war berühmt, die Subkultur blühte, Häuser wurden besetzt, es gab Punks und Wehrdienstverweigerer. Berlin war eine Stadt der lebendigen politischen Diskussion. „Auch die Freie Universität Berlin war ein Ort des kritischen Reflektierens über die Gegenwart und die Vergangenheit“, sagt Christiane von Stutterheim.

Die Sprachwissenschaftlerin arbeitete damals nicht nur in West-Berlin, sie hatte zwei Doktorväter: Norbert Dittmar von der Freien Universität Berlin und Wolfgang Klein, damals Direktor am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen. Sie pendelte zwischen Berlin und den Niederlanden: Am Max-Planck- Institut für Psycholinguistik in Nijmegen hatte sie ein Promotionsstipendium. Sie erinnert sich noch gut an ihren zu dieser Zeit mit Stempeln übersäten Pass: „Die Fahrt von Ost nach West dauerte damals natürlich um einiges länger als heute.“ An der Freien Universität Berlin lehrte sie am Fachbereich Germanistik und war in der Weiterbildung für Lehrerinnen und Lehrer auf dem Gebiet Deutsch als Fremdsprache engagiert.

Als Forscherin interessierte sich Christiane von Stutterheim damals für den Zusammenhang zwischen Sprache und Denken. Was passiert in unserem Kopf, wenn wir sprechen? Wie bestimmt unsere Muttersprache die Art und Weise, wie wir die Welt sehen?

Zudem engagierte sie sich an ihrem Institut – wie viele Studierende und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu dieser Zeit – für die Förderung der Sprachkenntnisse von „Gastarbeitern“, wie man sie damals noch nannte: türkische Einwanderinnen und Einwanderer, die von den 1960er-Jahren an nach Deutschland gekommen waren, weil die Bundesrepublik sie angeworben hatte. „Sie bekamen hier Arbeit, waren aber ansonsten sich selbst überlassen“, sagt Christiane von Stutterheim, die an der Freien Universität Türkisch lernte und ihre Kenntnisse auf längeren Reisen durch die Türkei vertiefte.

Recherche in Kreuzberg und im Wedding

Mit dem Thema ihrer Doktorarbeit konnte sie ihr wissenschaftliches mit ihrem politischen und sozialen Interesse verbinden. Für ihre Recherche verbrachte sie viel Zeit in den Berliner Bezirken Kreuzberg und Wedding, wo sie türkische Familien besuchte. „Viele von ihnen lebten unter sehr schlechten Bedingungen“, erinnert sie sich. Sie sei in heruntergekommenen Wohnungen gewesen, sah Schimmel und kaputte Fensterscheiben, die mit Plastikfolie notdürftig verklebt waren. Umso mehr habe sie die Gastfreundschaft und Großzügigkeit der türkischen Familien beeindruckt. „Ich wurde immer unglaublich freundlich aufgenommen, und es wurde weit mehr aufgetischt, als ich essen konnte.“

Mit ihren türkischen Gesprächspartnerinnen und -partnern sprach sie Türkisch und Deutsch, zeichnete die Gespräche auf und analysierte sie, um der Frage nachzugehen: Wie spiegeln sich Konzepte des Türkischen im Deutschen dieser Probandinnen und Probanden wider? Da es damals kaum Deutschkurse für Migrantinnen und Migranten gab, lernten diese die Sprache ohne Unterricht, nur durch das Sprechen im Alltag. Dadurch schufen sie Formulierungen, die es im Deutschen nicht gibt, die sich aber auf sprachliche und grammatische Kategorien im Türkischen zurückführen lassen.

Nach ihrer Promotion ging Christiane von Stutterheim 1984 nach Heidelberg an die Ruprecht- Karls-Universität, wo sie bis heute am Institut für Deutsch als Fremdsprachenphilologie forscht und lehrt. Nach wie vor ist ihr Schwerpunkt die Psycholinguistik. In Experimenten untersucht sie zum Beispiel, wie die Wahrnehmung der Welt durch die Muttersprache beeinflusst wird. Im Labor zeichnet sie die Blickrichtung von Probandinnen und Probanden unterschiedlicher Muttersprachen auf, während sich diese Kurzfilme mit Bewegungsereignissen anschauen.

Dabei geht es darum, ob sich Menschen mit unterschiedlicher Muttersprache in ihrer visuellen Aufmerksamkeit, ihrer Informationsaufnahme und ihrer Gedächtnisleistung unterscheiden. So fokussieren Sprecherinnen und Sprecher des Englischen oder Arabischen eher die sich bewegende Person und damit den Verlauf eines Geschehens, Deutsch sprechende Personen dagegen eher ein mögliches Ziel der Bewegung. Dies wird auf grammatische Kategorien zurückgeführt, die im Verb obligatorisch zum Ausdruck gebracht werden.

Auch in der akademischen Selbstverwaltung hat sich die Sprachwissenschaftlerin engagiert, sie war Dekanin, Institutsdirektorin, ist aktuell Senatorin des Akademischen Senats der Universität Heidelberg. „Ich fand es immer schon wichtig, sich in den universitären Strukturen zu engagieren und zu versuchen, sich auch in größere Zusammenhänge einzubringen“, meint von Stutterheim.

Forschungsvorhaben mit der Universität Ankara

Eine Verbindung zur türkischen Sprache hat sie in ihrer Arbeit weiterhin. Bevor sie 2022 in Pension gehen wird, will sie noch ein Forschungsvorhaben in Zusammenarbeit mit der Universität Ankara verwirklichen: Darin wird am Beispiel von türkischen Kindern untersucht, ob zweisprachige Schülerinnen und Schüler eine größere kognitive Anstrengung aufbringen müssen als Kinder, die nur mit einer Muttersprache aufgewachsen sind. So nimmt man an, dass das Gehirn bilingualer Kinder mehr Energie aufbringen muss, weil beim Sprechen der einen Sprache immer auch die andere mitaktiviert und unterdrückt werden muss. „Wir wollen wissen, ob der Unterricht, der ja sehr stark auf sprachlichem Austausch beruht, dadurch für türkische Kinder schneller ermüdend ist“, erklärt Christiane von Stutterheim. „Das ist bisher nie betrachtet worden.“

Während ihrer wissenschaftlichen Karriere hat die Linguistin zwei Kinder großgezogen: „Es ist mir immer wieder wichtig, jungen Wissenschaftlerinnen zu sagen, dass sich eine Karriere an der Universität mit Familienplanung vereinbaren lässt“, sagt sie. Eine ihrer Töchter wohnt seit einiger Zeit in Berlin, so dass sie auch heute noch regelmäßig und sehr gerne an den Ort ihrer Promotionszeit zurückkehrt.