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„Kultur ist die Hefe im Teig der Gesellschaft, nicht bloß das Sahnehäubchen“

Christian Bräuer ist Geschäftsführer der Yorck-Kinogruppe, Generalsekretär des europäischen Kinonetzwerks „Europa Cinemas“ und leitet den Weltverband der Programmkinos. Trotz Corona-Krise blickt er optimistisch in die Zukunft.

16.07.2021

Christian Bräuer, Geschäftsführer der "Yorck-Kinogruppe", kann die Türen der Kinosäle endlich wieder öffnen.

Christian Bräuer, Geschäftsführer der "Yorck-Kinogruppe", kann die Türen der Kinosäle endlich wieder öffnen.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

wir: Herr Bräuer, die Yorck-Kinogruppe betreibt in Berlin 14 Programmkinos. Wird es die alle nach der Pandemie noch geben?

Christian Bräuer: Das hoffe ich doch sehr. Das Land Berlin hat eine vorbildliche Soforthilfe speziell für Kultureinrichtungen aufgesetzt. Das war sehr wichtig, denn die Novemberhilfe des Bundes waren zum Beispiel bis Mitte Mai nicht bei uns angekommen. Aber ich bin optimistisch, dass auch die anderen Fördermittel bald greifen. Als Präsident des Weltverbandes der Programmkinos CICAE sehe ich, wie schlimm die Situation anderswo ist. Viele Länder haben schlicht keine Mittel, Kultur zu unterstützen, in anderen wird die Pandemie ausgenutzt, um Repressalien gegen kritische Kulturschaffende durchzusetzen. Dagegen haben wir es in unserer freien Gesellschaft gut. Deutschland könnte sich auch noch größere Hilfen für die Kultur leisten, wenn es nur möchte.

wir: Die Kinobranche wird nicht zum ersten Mal von einer Krise geschüttelt. Zuerst kam die Konkurrenz in Form des Fernsehens, dann kamen die Multiplexe. Heute sind es die Streaming- Dienste. Wieso ist eine Förderung der Kinos trotzdem eine Investition in die Zukunft?

Christian Bräuer: Kinos stehen für eine Filmvielfalt, die Streaming nicht bietet. Der Start eines Films im Kino, besonders bei Festivals wie der Berlinale, ist immer noch die größte Chance auf Sichtbarkeit und Erfolg für gesellschaftlich relevante Filme und kritische Stimmen. Das ist wichtig für eine Demokratie. Kultur ist die Hefe im Teig unserer Gesellschaft, nicht bloß das Sahnehäubchen.

wir: Sind es denn die deutschen Filme, nach denen das Publikum angeregt diskutierend Ihre Kinos verlässt?

Christian Bräuer: Die deutschen Filme, die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte und Gegenwart, Filme mit in unserem Kulturraum geprägten Erzählstrukturen und Erfahrungen, bilden ein wichtiges Fundament unseres Programms. Sie dienen der Selbstvergewisserung und dem gesellschaftlichen Diskurs. Damit haben sie auch eine wichtige Funktion in unserer Gemeinschaft. Den globalen Markt und alles, was Algorithmen belohnen, bedienen die großen Studios bestens. Doch die Menschen sehnen sich auch nach Geschichten, die sich mit unserer Lebenswirklichkeit befassen, die uns fremde Kulturen entdecken lassen oder neue Einsichten bieten. In einer Zeit der rasant wachsenden Zahl audiovisueller Inhalte ist allerdings die Qualität entscheidend. Es reicht nicht aus, hierzulande immer mehr Filme zu produzieren und dabei das Publikum aus dem Auge zu verlieren. Doch dazu hat die Struktur der deutschen Filmförderung geführt. Zukunftsträchtig ist das nicht. Dass die Zeiten, sich mit Mittelware durchzumogeln, vorbei sind, haben die US-Studios schon vor der Pandemie erkannt. Als Kinobetreiber würde ich mir mehr Filme wünschen, die ein Publikum gewinnen, das im Kino unterrepräsentiert ist. Wir sehen ja, was in unseren Kinos gut läuft: Filme mit starken Frauen, Filme für ein queeres Publikum, Filme für Menschen, deren Herkunft nicht deutsch ist. Es gibt so viele Menschen, die sich danach sehnen, dass Kino ihre Lebenswirklichkeit spiegelt. Die Filmbranche sollte hier gesellschaftliche Verantwortung übernehmen – und nebenbei ihre eigene Zukunft sichern.

wir: Einige Streaming-Dienste haben schon vor Corona auf Diversität gesetzt, um Zuschauerinnen und Zuschauer zu gewinnen. Sie glauben, dass die Kinos diesen Vorsprung wettmachen können?

Christian Bräuer: Da habe ich keine Angst: Wenn wir tolle Filme zeigen, kommen die Leute. Das Jahr vor der Pandemie, 2019, war das erfolgreichste Jahr in der 40-jährigen Geschichte der Yorck-Kinos. Unser Leben ist vielfältig und Streaming-Dienste ergänzen das Kino, aber sie ersetzen es nicht. Im Kino lässt sich das Publikum ganz anders auf Geschichten ein. Das habe ich gerade in der letzten Zeit selbst gemerkt: Für viele Filme hätte ich zu Hause auf der Couch nicht die Ruhe gehabt. Im Kino bleibe ich sitzen.

„Wenn andere den Fernseher eingeschaltet haben, bin ich ins Kino gegangen.“

„Wenn andere den Fernseher eingeschaltet haben, bin ich ins Kino gegangen.“
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

wir: Saßen Sie denn in der letzten Zeit viel im Kino?

Christian Bräuer: Ich habe das große Privileg, dass ich sehr oft Filme in unseren Kinos sehen konnte, zum Beispiel bei der Berlinale oder bei Business Screenings. Dann sind maximal 20 Menschen im Saal. Außerdem mache ich sonntags gerne mit meinem Mann einen schönen Spaziergang zum Kino „Delphi Lux“. Eine halbe Stunde an der frischen Luft, dann sind wir da und sehen uns einen Film an. Es fühlte sich so gut an, etwas in dieser entbehrungsreichen Zeit vorzuhalten, auch wenn die Erfahrung des gemeinsamen Staunens oder Mitfieberns natürlich fehlte.

wir: Waren Sie schon immer so kinobegeistert?

Christian Bräuer: Der Lebensgefährte meiner Oma hatte ein Kino. So ein klassisches Landkino mit einem Saal für etwa 200 Personen in Burgkirchen an der Alz, im Landkreis Altötting. Das fand ich als Kind faszinierend. Manchmal durfte ich auch mithelfen, habe Karten abgerissen oder den Saal aufgeräumt. Wobei: Meine Oma war sehr streng mit dem Publikum und hat geschaut, dass die Leute selbst aufräumen. Als die beiden älter wurden, gab es nur noch am Wochenende Vorstellungen, und irgendwann wurde ihr Kino geschlossen, wie damals viele andere auf dem Land.

wir: Gab es Phasen, in denen Kino nicht zu Ihrem Leben gehörte?

Christian Bräuer: Eigentlich nicht. In Berlin hatte ich in den ersten Jahren gar keinen Fernseher. Ich habe ihn auch nicht vermisst. Wenn andere den Fernseher eingeschaltet haben, bin ich ins Kino gegangen.

wir: War das nicht sehr teuer?

Christian Bräuer: Da hat mir der Zufall geholfen: Als ich 1992 zur Wohnungssuche nach Berlin fuhr, stand am Kurfürstendamm eine Tramperin. Ich habe angehalten und bin mit ihr ins Gespräch gekommen. Sie hatte ein Zimmer frei: im Hinterhaus, mit Kohleofen und Dusche in der Küche, für 100 Mark. Ich musste noch ein Testfrühstück mit ihr und einem Freund absolvieren, dann bin ich eingezogen. Diese Mitbewohnerin arbeitete im Yorck-Kino, dadurch konnte ich immer kostenlos Filme sehen. Der Freund, den ich beim Frühstück kennengelernt hatte, studierte übrigens am Otto-Suhr-Institut. So hat sich direkt in den ersten Wochen in Berlin viel zusammengefügt.

wir: Haben Sie sich dann auch direkt für ein Studium am Otto-Suhr-Institut eingeschrieben?

Christian Bräuer: Ich bin nicht unmittelbar wegen des Studiums nach Berlin gekommen, sondern um hier die 12. und 13. Schulklasse und dann das Abitur zu machen.

wir: Warum haben Sie die Oberstufe nicht in Ihrer Heimatstadt Nürnberg absolviert?

Christian Bräuer: Dass ich nach Berlin musste, wusste ich seit der obligatorischen Fahrt in der 10. Klasse. Aber meine Eltern bestanden darauf, dass ich erstmal einen sicheren Beruf lerne. Ich habe also eine Bankausbildung angefangen. Ich liebe Zahlen, aber nach drei Wochen war mir klar, dass die Arbeit in der Bank nicht mein Leben ist. Ich habe die Ausbildung trotzdem abgeschlossen, sogar mit Auszeichnung. Für meine Eltern war es damit gut: Du hast was Vernünftiges gelernt, jetzt kannst du was „Unvernünftiges“ studieren.

wir: Das war dann Politikwissenschaft am Otto- Suhr-Institut der Freien Universität. Warum?

Christian Bräuer: Ich habe mich immer schon leidenschaftlich für Politik interessiert und hatte mir in Berlin extra eine Schule ausgesucht, in der ich den Leistungskurs Politik belegen konnte. Für mich war klar: Nach dem Abitur müssen es die Freie Universität und das Otto-Suhr-Institut sein. Es hatte einen guten Ruf, nirgendwo sonst in Deutschland konnte man in dieser Vielfalt Politik studieren. Ich habe mir auch schon als Schüler ab und zu Vorlesungen angehört, obwohl ich wenig Zeit hatte, weil ich weiter parallel in einer Bank gearbeitet habe, um mein Abitur zu finanzieren. Eine Zeit lang habe ich mich immer bei Karstadt in Steglitz in der Umkleide umgezogen: In der Bank war Anzug obligatorisch, aber andere Leute in meinem Alter hätten mich ja für bekloppt erklärt, wenn ich in der Schule oder in der Uni so aufgetaucht wäre.

wir: Wie haben Sie Ihr Studium neben dem Job organisiert?

Christian Bräuer: Durch das Arbeiten hatte ich mir eine gewisse Effizienz angeeignet. Ich wollte das Studium zügig abschließen, aber gleichzeitig nicht auf Veranstaltungen zu Themen verzichten, die ich liebte. Ich habe mir also zugestanden, mich bei einem Drittel der Seminare richtig reinzusteigern, bei den anderen Veranstaltungen ging es um das Studienziel.

„Für einen Kinobesuch empfehle ich den Oskar-Gewinner ‚Nomadland‘, weil der Film Hoffnung macht in Zeiten wie diesen.“

„Für einen Kinobesuch empfehle ich den Oskar-Gewinner ‚Nomadland‘, weil der Film Hoffnung macht in Zeiten wie diesen.“
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

wir: Für welche Themen haben Sie sich begeistert?

Christian Bräuer: Ich erinnere mich an ein tolles Seminar zu China, das mein Verständnis für Asien gefördert hat. Auch für Europafragen war es eine spannende Zeit: Damals wurde der Euro beschlossen und eingeführt. Ich habe früh meine Liebe zu Frankreich entdeckt und versuche bis heute, so oft wie m glich nach Paris zu reisen. Dass ich ein Auslandssemester an der Sorbonne machen konnte, war fantastisch. Meine Schwerpunkte habe ich schließlich auf das politische System im Parlamentarismus und auf den Föderalismus gelegt. Ein großer Glücksfall für diese Spezialisierung war Siegfried Mielke, Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut.

wir: Inwiefern?

Christian Bräuer: Ich hatte mir überlegt, statt einer Hausarbeit im Hauptseminar direkt mein Vordiplom zu machen. Siegfried Mielke bot einen Kurs zum Föderalismus an und war einverstanden, dass ich meine Vordiplomarbeit über dieses Thema schreibe. Etwas später habe ich ihn zufällig auf der Straße getroffen. Wir kamen ins Gespräch, und dann sagte er plötzlich, er würde sich freuen, meine Diplomarbeit zu betreuen. Das war ein Traum: Dein Professor fragt dich, ob er deine Arbeit betreuen kann. Er hat mir auch empfohlen, das Thema direkt so anzugehen, dass ich eine Promotion anschließen kann. Ich habe dann über die Verhandlungen zur Finanzierung der Deutschen Einheit promoviert. Die war viel teurer als alle Corona-Hilfen, und trotzdem konnten sich Bund und Länder einigen. Deshalb bin ich auch heute optimistisch. Dass ich dieses Thema vertiefen konnte, verdanke ich jedenfalls Siegried Mielke. Er ist für mich ein Vorbild, etwa in seiner Forschung zur Verfolgung der Arbeiterbewegung während des Nationalsozialismus, oder wie er sich in der Lehre auf Menschen einließ. Ich glaube allerdings, er war ein bisschen enttäuscht, dass ich keine Habilitation angestrebt habe.

wir: Sie hatten kein Interesse, Ihre Themen weiter zu vertiefen?

Christian Bräuer: Die 1990er waren eine Zeit, in der im Hochschulwesen viele Stellen abgebaut wurden. Für eine wissenschaftliche Laufbahn hätte ich die Universität irgendwann wechseln müssen, aber ich wollte Berlin nicht verlassen. Und dann hatte sich in der Zwischenzeit eine ganz andere Laufbahn ergeben: Nachdem ich zwei Jahre lang als Gast ins Kreuzberger Yorck- Kino gegangen war, hatte ich als Kassierer angefangen und wurde in den Betriebsrat der Yorck-Kinos gewählt. Als dann das Ende meiner Promotion abzusehen war, fragte mich der Yorck-Geschäftsführer Georg Kloster, ob ich die Kinos nicht mit ihm zusammen leiten wollte.

wir: Fiel Ihnen die Entscheidung schwer?

Christian Bräuer: Es war ein Risiko, denn der Kinomarkt war schon damals im Umbruch. Die Multiplexe kamen auf, das Internet wurde wichtiger, die Raubpiraterie machte uns zu schaffen. Die Besucherzahlen waren massiv eingebrochen. Aber vielleicht hat mich unbewusst eine Mission angetrieben, etwas zu verändern. Ich kannte die Yorck-Gruppe, habe sie geliebt und ich wusste viel über die Filmwirtschaft. Da haben Herz und Bauch entschieden.

wir: Ihre Arbeit hat die Yorck-Kinos geprägt: Das Logo, die Abo-Karte, die Kooperation mit dem „Tagesspiegel“, „Berlinale goes Kiez“ und vieles andere wurde in Ihrer Zeit als Geschäftsführer entwickelt.

Christian Bräuer: Die meisten Ideen entstehen in der Zusammenarbeit mit anderen Menschen. Die Yorck-Gruppe ist sicher eines der innovativsten Kino-Unternehmen. Schon 2009 haben wir das Kino-Abo eingeführt. Wir waren die ersten, die mit datenbasierten Analysemodellen versucht haben, ein besseres Programm für unser Publikum zu machen – und gleichzeitig den persönlichen Austausch zu intensivieren. Es ist schön, wenn man in anderen Ländern als Best Practice erwähnt wird. Aber noch schöner ist es, wie kollegial die Branche damit umgeht und sich inspirieren lässt. Wenn unsere Kinos im selben Kiez liegen, sind wir Konkurrenten, aber wir haben dieselbe Mission. Jeder versucht, das Kino zu machen, von dem er überzeugt ist. Deshalb sage ich gerne: Jedes Programmkino für sich ist nur ein winziger Stern im Medienuniversum, aber zusammen strahlen wir wie die Milchstraße.

wir: Würden Sie sich als Cineasten bezeichnen?

Christian Bräuer: Nicht im engeren Sinne. Das sind für mich Leute, die sich auch wissenschaftlich und theoretisch mit Film auseinandersetzen. Aber ich habe Filme einfach immer schon geliebt. Und ich liebe es, sie rauf und runter zu diskutieren.

wir: Dann würde ich Sie bitten, kurz einige Fragen zu klären, über die viele Menschen rund um einen Kinobesuch regelmäßig diskutieren: Lieber eine Komödie oder ein Drama?

Christian Bräuer: Komödie. Wenn sie gut ist.

wir: Synchronisiert, mit Untertiteln oder Originalfassung?

Christian Bräuer: Untertitelt oder Originalfassung. Solange nicht zu viel Dialekt gesprochen wird, komme ich bei englisch- und französischsprachigen Filmen gut mit.

wir: Frühe oder späte Vorstellung?

Christian Bräuer: Früh. Am liebsten gehe ich in die Sonntagsmatinee.

wir: Großer oder kleiner Saal?

Christian Bräuer: Ein schöner Saal. Das kommt ganz aufs Kino an. Die kleinen Säle im Kino „Delphi Lux“ sind ein Traum.

wir: Popcorn, süß oder salzig?

Christian Bräuer: Süß.

wir: Sitzplatz vorne oder hinten?

Christian Bräuer: Ich bin Vornesitzer, ohne zu wissen, warum. Und ich sitze am Rand, typisch für Kinobesitzer.

wir: Nach dem Film schnell raus oder bis zum Ende des Abspanns sitzenbleiben?

Christian Bräuer: Der Film ist aus, wenn er aus ist. Also: schnell raus. Aber da bin ich in der Minderheit.

wir: Jetzt sind wir für den nächsten Kinobesuch gut vorbereitet. Können Sie uns dafür einen Film empfehlen, der im wissenschaftlichen Milieu spielt? Die Leserinnen und Leser von „wir“ sind ja Ehemalige der Freien Universität.

Christian Bräuer: Bei der diesjährigen Berlinale hat mich die Komödie „Ich bin dein Mensch“ von Maria Schrader begeistert. Es geht um eine Berliner Wissenschaftlerin, die sich für ein Forschungsprojekt bereit erklärt, mit einem Androiden zusammenzuleben. Und für den zweiten Kinobesuch empfehle ich den Oscar-Gewinner „Nomadland“. Weil der Film Hoffnung macht, in Zeiten wie diesen.

Das Interview führte Stefanie Hardick