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Wissen mehren, Vielfalt retten

Im Botanischen Garten Berlin erforschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die komplexen Zusammenhänge der biologischen Vielfalt auf unserem Planeten. Und versuchen zu retten, was noch zu retten ist.

17.12.2021

Ort der Wissenschaft und Besuchermagnet: Der Botanische Garten Berlin zieht Jung und Alt an.

Ort der Wissenschaft und Besuchermagnet: Der Botanische Garten Berlin zieht Jung und Alt an.
Bildquelle: Christiane Patić

„Es ist fünf nach zwölf.“ „Die Situation ist katastrophal.“ „Das Artensterben direkt vor unserer Haustür ist so dramatisch wie im tropischen Regenwald.“ Wer einen Tag mit den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Botanischen Gartens Berlin verbringt, hört Sätze, die noch lange im Ohr bleiben. Es ist die zweite große Katastrophe neben der Klimakrise, die hier ständig präsent ist: der rasante Verlust der Biodiversität auf der Erde. Der 2019 veröffentlichte Bericht des Weltbiodiversitätsrates geht davon aus, dass rund eine Million Tier- und Pflanzenarten akut vom Aussterben bedroht sind. Jeden Tag verschwinden etwa 130 Arten – viele, bevor sie entdeckt werden.

Die rund 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Gartens, der seit 1995 eine Zentraleinrichtung der Freien Universität ist, wollen dem Aussterben von Pflanzen, Algen und Pilzen etwas entgegensetzen. Sie versuchen, möglichst viele Arten zu erhalten und ihre genetische Vielfalt zu sichern. Sie erforschen die komplexen Grundlagen für den biologischen Reichtum auf unserem Planeten. In Zukunft wollen sie dieses Wissen noch prominenter und verständlicher an die Besucherinnen und Besucher des Botanischen Gartens und des angeschlossenen Botanischen Museums vermitteln. Für die kommenden zehn Jahre haben sie deshalb ein Zukunftskonzept erarbeitet, das kürzlich der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. 

Weltweit führend in der 
Biodiversitätsforschung

Thomas Borsch ist seit 2008 Direktor des Botanischen Gartens und des Botanischen Museums Berlin.

Thomas Borsch ist seit 2008 Direktor des Botanischen Gartens und des Botanischen Museums Berlin.
Bildquelle: Michael Fahrig

„Es ist ein guter Moment, um unsere Arbeit noch stärker in das öffentliche Bewusstsein zu bringen“, sagt Professor Dr. Thomas Borsch, der seit 2008 Direktor des Botanischen Gartens und des Botanischen Museums Berlin ist. „Vielen Menschen ist klar geworden, dass sich etwas verändern muss. Das gesellschaftliche Interesse an biologischer Vielfalt, Klima und Nachhaltigkeit ist enorm. Das sind genau unsere Kernthemen, zu denen wir noch viel mehr anbieten und vermitteln könnten.“ Enorm dynamisch haben sich auch die Wissenschaften entwickelt: „In der Evolutionsbiologie überschlagen sich die Neuentwicklungen, bei der Genomik beispielsweise, die zentral ist für die Erforschung der Biodiversität.“

Aus dem Botanischen Garten wird „BO Berlin – Internationales Wissenszentrum der Botanik“

Das Zukunftskonzept für den Botanischen Garten setzt deshalb auf vielen Ebenen gleichzeitig an, um ihn als „BO Berlin – Internationales Wissenszentrum der Botanik“ neu zu positionieren. Im Garten und in den Gewächshäusern wird es künftig mehr Informationen zu Pflanzen und Ökosystemen geben. Das Botanische Museum, einzigartig in Westeuropa, wird komplett neu konzipiert. Mit 30 Millionen Euro Fördermitteln vom Bund und vom Land Berlin werden außerdem ein neues Besucherzentrum, neugestaltete Gartenanlagen und eine modernisierte Infrastruktur den Aufenthalt noch angenehmer machen und mehr Touristinnen und Touristen anlocken, ohne dass der Charme der 1910 eröffneten Anlage verloren geht. 450.000 Menschen besuchten Garten und Museum vor Corona im Schnitt pro Jahr. Borsch: „Als größter Botanischer Garten Deutschlands werden wir noch attraktiver – als Highlight im Südwesten Berlins, auch für unsere internationalen Gäste.“

Dass der Botanische Garten eine weltweit führende Einrichtung der Biodiversitätsforschung ist, fällt Erholungssuchenden nicht direkt ins Auge. Doch in den roten Backsteingebäuden stehen für die Forscherinnen und Forscher wissenschaftliche Schätze der Vergangenheit und High-Tech gleichermaßen bereit. Bis 2030 soll das größte Herbar Deutschlands mit vier Millionen Belegen, die zum Teil noch von Alexander von Humboldt stammen, komplett digitalisiert und online durchsuchbar sein. In der DNA-Bank werden bei minus 80 Grad 30.000 Gewebe- und DNA-Proben aufbewahrt. Und die Saatgutbank enthält 13.000 sogenannte Aufsammlungen, ­darunter viele seltene und gefährdete Arten. „Das Besondere ist, dass wir all diese Ressourcen digital miteinander verknüpft zur Verfügung stellen“, sagt Borsch, „dazu gehören auch die Daten unserer Lebendsammlung im Garten – mit nahezu 20.000 Arten gehört sie zu den größten der Welt.“ Erst die Verknüpfung von Organismen, Forschungsdaten und Informationen über Lebensräume und menschliche Einflüsse ermögliche universale Biodiversitätsforschung.

Erste vollständige Liste aller Kakteenarten

Nadja Korotkova hat zusammen mit internationalen Teams weltweit Kakteen klassifiziert.

Nadja Korotkova hat zusammen mit internationalen Teams weltweit Kakteen klassifiziert.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Bislang fehlen für viele Regionen der Erde Informationen, welche Pflanzenarten dort überhaupt wachsen und bei welchen Bedingungen sie gedeihen. Erster Schritt für die Planung effektiver Schutzmaßnahmen sind also Art-Inventare oder Checklisten, wie sie Dr. Nadja Korotkova erstellt. Die Botanikerin hat den derzeit wohl besten Überblick über die wissenschaftliche Benennung von Kakteen. Zwei Jahre lang koordinierte sie ein internationales Team von 15 Forscherinnen und Forschern, das nun die erste vollständige Checkliste aller Kakteennamen der Welt publiziert hat. Während Laien oft denken, dass Kakteen in der Wüste wachsen, sind sie tatsächlich in den vielfältigsten Lebensräumen verbreitet. „Es gibt oft ganze Kakteenwälder“, erläutert Korotkova. „Sterben die Kakteen, hat das tiefgreifende Auswirkungen auf das gesamte Ökosystem.“

Der kubanische Melonenkaktus wurde 124 Mal „neu“ entdeckt 

Während einer kurzen Führung durch das Kakteenhaus des Botanischen Gartens erläutert Korotkova die Vielfalt der Pflanzen: Je nach Lebensraum kommen sie stachelig, haarig, belaubt, säulenförmig, kugelig, kriechend oder auf anderen Pflanzen aufsitzend daher. Die Vielgestaltigkeit der Kakteen führte dazu, dass frühere Botaniker oft irrtümlich glaubten, eine neue Art entdeckt zu haben oder sie falschen Gattungen zuordneten. So wurde zum Beispiel der kubanische Melonenkaktus, ein kugeliges Gewächs mit markanter roter „Mütze“, 124-mal als neue Art beschrieben und mit einem wissenschaftlichen Namen versehen. Momentan sind weltweit 1.851 Kakteenarten mit insgesamt 22.275 Namen in der Checkliste erfasst. Die Liste ist Teil des Kompendiums „World Flora Online“, einem zentralen Projekt des internationalen Übereinkommens über die biologische Vielfalt. An diesem und zahlreichen weiteren Inventaren für einzelne Regionen oder Pflanzenfamilien sind die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Botanischen Gartens Berlin maßgeblich beteiligt.

Jedes Jahr werden im Schnitt fünf neue Kakteenarten entdeckt. Zum Beispiel, wenn irgendwo in Südamerika eine abgelegene Gegend durch den Straßenbau für Forscherinnen und Forscher zugänglich wird. Bauarbeiten können jedoch auch Lebensräume zerstören. Das sei bei Kakteen besonders gravierend, warnt Korotkova: „Viele Kakteenarten sind stark an ihren Standort angepasst. Einige wachsen endemisch in Gebieten, die weniger als tausend Quadratkilometer groß sind. Werden solche Habitate zerstört oder verändert sich dort das Klima, haben die Arten keine Chance, auszuweichen.“

Für ihre Forschungen hat Korotkova am Botanischen Garten Berlin ideale Bedingungen. Zentral sei dabei das weitgespannte internationale Netzwerk, das seit Jahrzehnten gepflegt wird. „Während wir das technische Know-how für komplexe Datenbanken haben und die Infrastruktur bereitstellen, kennen die Kolleginnen und Kollegen vor Ort die Pflanzen in ihren Lebensräumen viel besser“, erläutert sie. Vor hundert Jahren konnten am Botanischen Garten Forscher wie Carl Moritz Schumann noch im Alleingang die wegweisende „Gesamtbeschreibung der Kakteen“ verfassen. Heute sei Forschung ohne Austausch mit Partnerinnen und Partnern im Verbreitungsgebiet der Kakteen gar nicht mehr denkbar, sagt Korotkova: „Wissen wächst, wenn es geteilt wird – davon profitieren alle.“

Biodiversitätsforschung klappt nur international

Eva Häffner entwickelt Handlungsempfehlungen für die Politik und hilft Personen und Institutionen zu vernetzen, um gemeinsame Wissensressourcen zu schaffen.

Eva Häffner entwickelt Handlungsempfehlungen für die Politik und hilft Personen und Institutionen zu vernetzen, um gemeinsame Wissensressourcen zu schaffen.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Forschungspartnerschaften zwischen Europa und biodiversitätsreichen Ländern waren lange alles andere als gleichberechtigt. Am „Königlich Botanischen Garten“ war seit 1891 die „Botanische Zentralstelle für die deutschen Kolonien“ eingerichtet. Damals wurden Pflanzen aus Kamerun, Tansania oder Neuguinea überwiegend in Berlin erforscht. Heute wird in Netzwerken und auf Augenhöhe gearbeitet. Dabei spielen Partnerinstitutionen in vielen Ländern der Welt eine wichtige Rolle, wie die wissenschaftliche Koordinatorin Dr. Eva Häffner erläutert: „Viele der dringend benötigten Erkenntnisse zur Biodiversität lassen sich nur in internationaler Kooperation gewinnen, denn Arten kennen keine Ländergrenzen. Wir arbeiten dabei im Sinne des Übereinkommens über die biologische Vielfalt der Vereinten Nationen“. Sein Ziel ist der Schutz der Biodiversität und ihre nachhaltige Nutzung. Das Übereinkommen regelt aber auch, wie Forschung und Entwicklung international zusammen spielen. „Das Nagoya-Protokoll von 2010 soll sicherstellen, dass die Vorteile aus der Nutzung von Biodiversität gerecht verteilt werden. Vorteile können auch wissenschaftliche Erkenntnisse sein.“

Häffner arbeitet an den Schnittstellen zwischen Forschung, Gesellschaft und Politik. In nationalen und internationalen Fachgremien entwickelt sie Handlungsempfehlungen, um die Politik bei strategischen Entscheidungen zu unterstützen, wenn es um die Erforschung und den Schutz der Biodiversität geht. Oder sie hilft, Personen und Institutionen zu vernetzen, um gemeinsame Wissensressourcen zu schaffen.

Kooperation mit dem Instituto Humboldt in Bogotá und der Universidad del Norte in Barranquilla

„Dass die Freie Universität sich als Internationale Netzwerkuniversität versteht und ihre strategischen Partnerschaften seit langem pflegt, ist für unsere Arbeit sehr hilfreich“, sagt Häffner. Wie internationale Partnerschaften und interdisziplinäre Kooperation mit anderen Instituten der Freien Universität sich erfolgreich verbinden lassen, zeige etwa das Projekt „ColBioDiv“. Ziel war es herauszufinden, wie die Biodiversität in zwei dichtbesiedelten kolumbianischen Regionen geschützt und nachhaltig genutzt werden könnte. Dafür arbeiteten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Botanischen Gartens, des Lateinamerika-Instituts und des Instituts für Geographische Wissenschaften der Freien Universität mit Partnern des Botanischen Gartens und des Instituto Humboldt in Bogotá sowie der Universidad del Norte in Barranquilla zusammen. „Dieses Projekt deckte die ganze interdisziplinäre Breite ab, von der Beschreibung der Arten bis zu einer Managementempfehlung für das stark beanspruchte Umland der Städte.“

Pflanzensamen einfrieren, 
um sie zu erhalten

Elke Zippel will für einen Großteil der im Nordosten und Osten Deutschlands vorkommenden Pflanzenarten Samen in die Dahlemer Saatgutbank einlagern.

Elke Zippel will für einen Großteil der im Nordosten und Osten Deutschlands vorkommenden Pflanzenarten Samen in die Dahlemer Saatgutbank einlagern.
Bildquelle: Christiane Patić

In Deutschland zerstören intensive Landwirtschaft und Entwässerung viele Lebensräume. Oft bleiben dazwischen nur kleine Inseln, auf denen seltene Arten mit Glück überleben. Doch selbst wenn man diese Orte unter Schutz stellt, sind die Arten damit nicht gerettet, erklärt Dr. Elke Zippel, die Kustodin der Dahlemer Saatgutbank. Biologische Vielfalt, das bedeutet auch genetische Vielfalt. Und wenn es nur noch wenige Individuen einer Art gibt, wird deren Genpool immer kleiner.

Deshalb werden im Projekt „Wildpflanzenschutz Deutschland“ die Samen von gefährdeten Arten gesammelt und in vier regionalen Saatgutbanken aufbewahrt. Das Projekt wird über das „Bundesprogramm Biologische Vielfalt“ gefördert. Zippels Team ist für die ostdeutschen Bundesländer zuständig. Immer wieder trifft sie dabei auf Ehrenamtliche, die kleine Schutzgebiete für einzelne Arten über Jahrzehnte hinweg gehegt und gepflegt haben: seltene Orchideen im Erzgebirge zum Beispiel oder die Arnika montana an der vorpommerschen Ostseeküste. Werden die Samen gesichert, können später damit Pflanzen nachgezogen und an anderen Standorten angesiedelt werden. Wiederansiedlungsprogramme für gefährdete Pflanzen sind in Europa vergleichsweise neu. Sie sind nur in enger Zusammenarbeit mit den Behörden möglich. „Im Botanischen Garten sammeln wir sehr viele Erfahrungen und teilen dieses Wissen“, sagt Zippel. Und doch ist es ein Wettlauf gegen die Zeit. „Uns sterben die Arten unter den Fingern weg. Eigentlich müssten wir völlig umdenken. Landwirte dürften nicht mehr für die Vernichtung, sondern nur noch für den Erhalt von Lebensräumen für unsere biologische Vielfalt subventioniert werden.“

Pflanzensamen bei minus 24 Grad lagern

Zippel hat sich zum Ziel gesetzt, von einem Großteil der im Nordosten und Osten Deutschlands vorkommenden Pflanzenarten Samen in die Dahlemer Saatgutbank einzulagern. Dazu werden die Samen bei 15 Grad und 15 Prozent relativer Luftfeuchtigkeit getrocknet. Anschließend werden sie mit Trockenperlen luftdicht in Gläser gepackt und bei minus 24 Grad Celsius eingefroren. „In jedem Samen steckt ein kleiner Pflanzenembryo“, erläutert Zippel. „Durch das Trocknen und Einfrieren verlangsamen wir seine Stoffwechselaktivitäten und können ihn so für Jahrzehnte am Leben erhalten.“ Alle fünf Jahre werden zwanzig Samenkörner jeder sogenannten Aufsammlung in Petrischalen gelegt und in den Kulturschränken im Nachbarraum zur Keimung gebracht. Nur so kann das Team sicher sein, dass noch ausreichend Samen leben und eines Tages für Artenschutz und Forschung genutzt werden können.

Um möglichst viele anspruchsvolle Arten zu retten, plant Elke Zippel Versuchsreihen: „Keimung ist ein komplexer Prozess. Manche Arten brauchen vorher Frost oder große Unterschiede bei den Tag- und Nachttemperaturen. Sogar bei Samen derselben Art gibt es zuweilen gravierende Unterschiede im Keimungsverhalten.“ In den Kulturschränken werden deshalb genau die Bedingungen simuliert, die am Standort der jeweiligen Pflanze im Frühjahr herrschen.

Tauchen für die Wissenschaft

Jonas Zimmermann forscht auch in der Antarktis an Kieselalgen – in einem wasserdichten und isolierenden Überlebensanzug, der bei den Bedingungen vor Ort Pflicht ist.

Jonas Zimmermann forscht auch in der Antarktis an Kieselalgen – in einem wasserdichten und isolierenden Überlebensanzug, der bei den Bedingungen vor Ort Pflicht ist.
Bildquelle: Jonas Zimmermann

Im Keller nebenan sprießen keine Pflanzen. Hier vermehren sich Kieselalgen, sogenannte Diatomeen: Photosynthese betreibende Mikroorganismen, die man früher für Tiere hielt, weil sich manche Arten aktiv in verschiedene Richtungen bewegen können. Anhand der Strukturen ihrer Kieselschalen können Spezialistinnen und Spezialisten die Arten der Einzeller unterscheiden, wie Dr. Jonas Zimmermann, Leiter der Forschungsgruppe Diatomeen, erklärt: „Kieselalgen sind mikroskopisch klein, ihre Strukturen liegen im Nanometerbereich. Außerdem ähneln sich viele Arten sehr, sodass es selbst für Expertinnen und Experten schwer ist, sie immer genau zu bestimmen.“ Obwohl durch den Berliner Mikrobiologen Christian Gottfried Ehrenberg bereits vor rund 200 Jahren die Beschreibung vieler Diatomeenarten erfolgte, wurde bis heute nur ein Bruchteil der geschätzten 25.000 bis 250.000 Arten beschrieben.

Sie leben in allen Gewässern der Erde in Böden und auf den Blättern tropischer Bäume. Manche Arten benötigen sehr reines Wasser, andere gedeihen in Lebensräumen, in die der Mensch stark eingegriffen hat. Die Zusammensetzung der Arten an einem Standort wird deshalb bereits seit mehr als hundert Jahren zur Bestimmung der Gewässergüte genutzt. Zimmermann erläutert die Schwierigkeiten: „In Proben aus Berliner Gewässern leben oft viele Arten derselben Gattung, da muss man dann 40 mikroskopisch kleine Kleckse auseinanderhalten.“ Er etablierte für die Kieselalgen deshalb eine ergänzende Methode, mit der die Arten deutlich besser bestimmt werden können: Für das sogenannte Metabarcoding liefern zwei Abschnitte in der DNA der Einzeller, auch DNA-Barcodes genannt, genug Informationen, um sie mit Referenzsequenzen in DNA-Datenbanken abzugleichen. Doch die DNA für die Datenbank zu gewinnen, ist kompliziert. Zunächst muss Zimmermanns Team sicherstellen, dass aus der Gewässerprobe jede Art isoliert und in einzelnen Petrischalen mit den Ansprüchen der verschiedenen Arten entsprechenden Nährmedien vermehrt wird. Hierfür werden sie in Kulturschränke gestellt, wo ihre natürlichen Lebensbedingungen simuliert werden. Hat Zimmermann die Diatomeen beispielsweise in der Antarktis gesammelt, vermehren sie sich bei 2 Grad Celsius mit antarktischen Tag-Nacht-Rhythmen. Erst wenn eine ausreichende Menge an Diatomeenzellen vorhanden ist, können sie morphologisch und genetisch untersucht und bestimmt werden. Mit Hilfe dieser Daten wird eine Referenzdatenbank aufgebaut, mit der Forschende die DNA-Daten aus Gewässerproben per Metabarcoding bereits bekannten Arten zuordnen oder neue Arten bestimmen können.

Kieselalgen produzieren ein Viertel des Sauerstoffs in unserer Atmosphäre

Wofür der ganze Aufwand? Warum wäre es so schlimm, wenn ein paar Diatomeenarten unentdeckt ausstürben? „Nehmen Sie mal bewusst vier Atemzüge“, antwortet Zimmermann auf solche Fragen gerne. „Für einen dieser vier Atemzüge müssen Sie jetzt den Kieselalgen danken, denn sie produzieren mindestens ein Viertel des Sauerstoffs in unserer Atmosphäre.“ Diatomeen sind die Grundlage für die komplexen Nahrungsnetze. In der Antarktis konnte Zimmermanns Team beobachten, welche Auswirkungen es hat, wenn Kieselalgen verschwinden: „In den polaren Sommermonaten wachsen Diatomeen an der Unterseite des Meereises. Durch den Klimawandel sind nun aber manche Buchten im Sommer völlig eisfrei. Ohne Kieselalgen fehlt dem Krill die Nahrung. Dadurch wird einigen Arten von Pinguinen, Walen und Robben die Nahrungsgrundlage entzogen.“

Um genomische Ansätze in der Biodiversitätsforschung wie das Metabarcoding voranzubringen, hat der Botanische Garten Berlin 2012 mit den Fachbereichen Biologie, Chemie und Pharmazie und Mathematik und Informatik der Freien Universität, der Universität Potsdam und drei Leibniz-Instituten (Institut für Gewässerbiologie, Institut für Zoo- und Wildtierforschung sowie Museum für Naturkunde) das „Berlin Center for Genomics in Biodiversity Research“ gegründet, das seine Labore im Botanischen Museum betreibt.

Ein neues Gebäude für 
die Biodiversitätsforschung

Matthias Rillig forscht mit seinem Team seit einigen Jahren intensiv zum Thema „Mikroplastik im Boden“.

Matthias Rillig forscht mit seinem Team seit einigen Jahren intensiv zum Thema „Mikroplastik im Boden“.
Bildquelle: privat

„In Zukunft werden die Wechselwirkungen zwischen Ökosystemen im Wasser und an Land noch viel stärker in den Fokus der Forschung rücken“, sagt Dr. Matthias Rillig. Der Biologe ist Professor für die Ökologie der Pflanzen am Institut für Biologie der Freien Universität. Er erläutert: „Viele Stoffe werden zwischen terrestrischen und aquatischen Systemen ausgetauscht, Organismen bewegen sich zwischen Land und Wasser. Deshalb gehen wir davon aus, dass man viele Forschungsfragen auf das jeweils andere System übertragen kann.“ Ein Beispiel dafür ist Mikroplastik, das nicht nur in den Ozeanen eine große Gefahr für Lebewesen ist. Rillig und sein Team bearbeiten seit einigen Jahren intensiv das Thema Mikroplastik im Boden, wo es völlig andere Effekte hat als im Wasser.

Die Biodiversitätsforschung der Freien Universität sei vor allem für Ökosysteme an Land und im Boden gut aufgestellt, sagt Rillig. Deshalb sei es sinnvoll, sich zum Beispiel mit Partnern zu vernetzen, deren Schwerpunkt auf aquatischen Ökosystemen liegt. Bereits 2013 wurde das „Berlin-Brandenburgische Institut für Biodiversitätsforschung“ gegründet, an dem die drei Berliner Universitäten, die Universität Potsdam und fünf Leibniz-Institute beteiligt sind. In Zukunft soll die Zusammenarbeit zwischen dem Leibniz-Institut für Gewässerökologie und der Freien Universität noch weiter intensiviert werden. Im September fand das Richtfest für das neue Wissenschaftsgebäude Biodiversität statt, nur 500 Meter vom Eingang des Botanischen Gartens an der Königin-Luise-Straße entfernt. Hier werden auch Teile des oben erwähnten und stetig wachsenden „Berlin Center for Genomics in Biodiversity Research“ unterkommen.

Auch einer der Arbeitsbereiche des Labors von Rillig wird in das fünfeckige Gebäude einziehen. Diese Gruppe will herausfinden, wie stabil mikrobielle Biosphären sind, abgeschlossene Mini-Ökosysteme, die bisher fast ausschließlich im Wasser untersucht wurden. Rillig ist sich sicher, dass die räumliche Nähe zu anderen Arbeitsgruppen im neuen Gebäude schnell weitere Forschungsfragen aufwerfen wird: „Die Biodiversitätswissenschaften sind ein riesiges Themengebiet. Man weiß nie, was sich ergibt, wenn man verschiedene Ansätze und Disziplinen in Verbindung bringt. Und genau das ist das Spannende daran.“