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Der Außenseiter

Der Altgermanist Prof. Dr. Harald Haferland hat für seine Dissertation 1987 den Ernst-Reuter-Preis erhalten, blieb aber zeitlebens Außenseiter in seinem Fach. Besuch bei einem Professor im Unruhestand.

17.12.2021

Nach vielen akademischen Stationen ist Harald Haferland auf Dauer zurück in Berlin.

Nach vielen akademischen Stationen ist Harald Haferland auf Dauer zurück in Berlin.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher 

Wo andere auf Tapeten blicken, hat Harald Haferland Bücherwände vor Augen. So groß sind sie, dass „die Räume kleiner wirken.“ So viele Bücher hat Haferland in seiner Wohnung angesammelt, dass „ich schon mal versehentlich eines kaufe, dass ich bereits besitze.“ Willkommen bei Harald Haferland, Altgermanistik-Professor im Ruhestand. Oder wie er selbst sagt: „Eigentlich ist es ein Unruhestand.“ Denn er hat auch mit 70 Jahren noch eine Mission: „Ich gehe an einige Fundamente der Altgermanistik, um eine neue Grundlage zu schaffen, aber auch, um zu zeigen, dass ich schon immer recht hatte“, räumt er ein und lacht. „Das setzt sich fest nach einer schwierigen beruflichen Laufbahn.“ Es ist die Laufbahn eines Außenseiters in seinem Fach.

Provokation fürs Fach

Angefangen hat es mit der bei Prof. Dr. Dieter Kartschoke abgeschlossenen Dissertation über „Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200“. Für sie erhielt Haferland zwar 1987 den Ernst-Reuter- Preis, mit dem die Ernst-Reuter-Gesellschaft jedes Jahr die besten Promotionsarbeiten auszeichnet. Zugleich aber war Haferlands Arbeit eine Provokation fürs Fach. Denn der in Hannover geborene und dort ins Studium der Germanistik, Philosophie und Soziologie gestartete Haferland war zum Hauptstudium nach Frankfurt am Main gewechselt, hatte dort unter anderem bei Prof. Dr. Jürgen Habermas Gesellschaftstheorie und Kommunikationsanalyse kennengelernt und für die Altgermanistik Neues aufgeschnappt: moderne soziologische Ansätze. „Mit denen ging ich dann auf Klassiker wie den Parzival los“, umreißt er das damals Innovative an seiner Dissertation. „Damit“, sagt Haferland, „habe ich mich sichtbar gemacht, aber auch unbeliebt bei älteren Kollegen, die Stellen zu vergeben hatten.“

Unterschwelliges bei der Preisverleihung

Lebhaft erinnert sich Haferland, der streitlustige akademische Nonkonformist, an die feierliche Verleihung des Ernst-Reuter-Preises. Denn der Abend führte den damals amtierenden Präsidenten der Freien Universität mit seinem Vorgänger zusammen, als beide sich in einem ungelösten Konflikt miteinander befanden. Der ehemalige Präsident hielt die Laudatio auf Haferlands Arbeit und nutzte die Gelegenheit, um zwischen den Zeilen kritisch auf die noch nicht aufgearbeitete Problemlage anzuspielen. Dem preisgekrönten Nachwuchswissenschaftler blieb die spannungsvolle Situation unvergesslich.

Geisteswissenschaften als Lebensform

Die Freie Universität, von der Haferland bei Kaffee und Tee in der Küche seiner Wohnung erzählt, war eine andere damals. „Die Wände waren beschmiert, die Rostlaube galt als größter Aschenbecher in Dahlem. Aus den Cafés drang Zigarettenrauch in die engen Gänge, in denen sich unzählige Studentinnen und Studenten drängten und diskutierten.“ Charismatische Lehrer wie der Religionsphilosoph, Professor und Mitbegründer der Freien Universität Dr. Klaus Heinrich scharten hunderte Studierende um sich, „die ihnen an den Lippen hingen, aber nie einen Abschluss machten. Es war eine Lebensform und auf gewisse Art die Existenzweise der Geisteswissenschaften“, blickt Haferland mit einer Spur von Bedauern zurück auf die Zeit vor Einführung von Bachelor und Master.

Neue Struktur, neue Zeit

Doch Haferland, Vater eines am hiesigen John- F.-Kennedy-Institut studierenden Sohnes, sieht auch die Vorteile des neuen strukturierten Studiums im Vergleich zur alten Freiheit: „Man musste sich damals selbst organisieren, und wer das nicht schaffte, wurde sich irgendwann selbst zum Problem.“ Was er seinem Sohn raten würde? Haferland spricht sich ironisch fürs Praktische aus: „Völkerrecht studieren. Es wird immer mehr Konflikte in der Welt geben, Völkerrechtler werden immer gebraucht.“ Dem Rat des Vaters ist der Sohn noch nicht gefolgt.

Für seine Dissertation über „Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200“ erhielt Haferland den Ernst-Reuter-Preis. Zugleich war die Arbeit aber auch eine Provokation für sein Fach.

Für seine Dissertation über „Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200“ erhielt Haferland den Ernst-Reuter-Preis. Zugleich war die Arbeit aber auch eine Provokation für sein Fach.
Bildquelle: privat

Braunkohledunst aus Ost-Berlin

Nicht nur die Freie Universität war eine andere damals, auch Berlin war anders, Frontstadt im Kalten Krieg, geteilt durch die Mauer. In Kreuzberg ging Haferland als Doktorand mit einer Freundin an der Mauer spazieren. „Im Winter lag Braunkohledunst über dem Ostteil der Stadt, der zog dann nach Westen“, erinnert er sich. Seine Berliner Wohnung hat er behalten, als er sich nach der Habilitation zum Minnesang an der Freien Universität mit Vertretungsprofessuren in ganz Deutschland über Wasser hielt: unter anderem in Kiel, Bielefeld, München, Erlangen und Göttingen. Im Rückblick räumt er ein: „Ich habe Fehler gemacht, mich zu spät habilitiert. In Berufungsverfahren wurde ich dann oft ausgebootet.“ Haferland gibt zu: „Das war bitter.“

Späte Berufung

Seine berufliche Heimat fand Haferland erst spät: 2005 folgte er einem Ruf an die Universität Osnabrück. Er wurde dort alleiniger Vertre ter der Altgermanistik, fand Freiraum und gute Kolleginnen und Kollegen. „Das war eine kleine, aber schmucke Germanistik.“ Sein berufliches Glück weiß Haferland zu schätzen: „Dass ich mit über 50 noch eine feste Stelle bekam, war ungewöhnlich.“ Inzwischen ist Haferland auf Dauer zurück in Berlin.

Asket am Schreibtisch

Hier beginnen seine Tage um 8 Uhr morgens, um 9 sitzt er am Schreibtisch, klappt seinen Laptop auf, umgeben von Büchern und gebundenen Kopien nicht mehr erhältlicher Textausgaben, mit handschriftlichen Notizen versehen. Die verbliebene Mission, seine Thesen noch einmal abzusichern, verlangt es. „Ich liege ja immer noch im Streit mit meinem Fach“, sagt Haferland. „Das hat einen Schweif hinterlassen an noch ungeschriebenen Arbeiten, und ich möchte noch einmal tiefer bohren – zurück auch bis zu der frühesten deutschen Literatur im 9. und ihrer Erschließung im 19. Jahrhundert.“ Der Arbeit muss anderes weichen: Neben dem Fernseher stapeln sich DVDs, aber Haferland sagt: „Ich schaue keine DVDs mehr und im Fernsehen nur noch Informationssendungen. Zeitlich bin ich mit der Arbeit vollkommen ausgebucht.“ Eine Spitze gegen sein Fach kann sich Haferland aber dann doch nicht verkneifen. Es solle Kollegen geben, die für sich selbst Wikipedia-Einträge anlegten. Was man vor Wikipedia gemacht habe? „Man hat sich einen Namen gemacht“, entgegnet Haferland, „oder eben nicht.“

Weitere Informationen

Der Ernst-Reuter-Tag wurde 2021 pandemiebedingt online veranstaltet und aufgezeichnet. Sie können Sie den Festtag aber auf dem Youtube-Kanal der Freien Universität nochmals anschauen.