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„Journalismus kann dazu beitragen, Missstände zu beseitigen“

Im Januar 2022 outeten sich mehr als 100 Mitarbeitende der römisch-katholischen Kirche als lesbisch, schwul, queer, transgender, bi- oder intersexuell – flankiert mit dem Film „Wie Gott uns schuf“ des Alumnus Hans-Joachim „Hajo“ Seppelt

14.06.2022

Hajo Seppelt gilt als Experte für die Dopingproblematik im deutschen und internationalen Sport.

Hajo Seppelt gilt als Experte für die Dopingproblematik im deutschen und internationalen Sport.
Bildquelle: rbb / Gundula Krause

wir: Wie haben Sie das Thema „Diskriminierung in der katholischen Kirche“ für sich entdeckt?

Hajo Seppelt: Ich bin selbst katholisch sozialisiert, bin zur Erstkommunion gegangen und gefirmt worden und war unter anderem als Messdiener tätig. Die Bigotterie und Doppelmoral der Kirche hatten mich schon früh gestört, aber ich bin noch jahrzehntelang Mitglied geblieben, zumal ich den Wert der Kirchen für die Gesellschaft, etwa ihr soziales Engagement, hoch einschätze. Ausgetreten bin ich erst 2013, als mir die frauenfeindlichen Äußerungen von Papst Benedikt zu viel wurden. Da ist mir die Hutschnur geplatzt. Gleichzeitig dachte der Journalist in mir, dass es interessant wäre, die Doppelbödigkeit der Kirche zu thematisieren. Ich fand, es war an der Zeit, dass schwule Priester endlich mal aus dem Schatten treten – in möglichst großer Zahl, damit sie durch ihre schiere Zahl in der Öffentlichkeit geschützt sind. Ich dachte dabei an das Cover des „Stern“ von 1973, als Frauen bekannten „Wir haben abgetrieben“.

wir: Kannten Sie denn schwule Priester?

Hajo Seppelt: Nein, keinen einzigen. Ich hatte 2013 zunächst nur Kontakt zu einem katholischen Sozialarbeiter in Recklinghausen, der der Gruppe „Homosexualität und Kirche“ (HUK) angehörte. An einem HUK-Treffen teilnehmen durfte ich damals nicht. Danach geriet das Thema erst einmal wieder in den Hintergrund, weil ich durch zahlreiche andere Recherchen gebunden war. Aus den Augen hatte ich es aber nie verloren.

wir: Wie kehrte es dann zurück in Ihr Blickfeld?

Hajo Seppelt: 2017 gründete ich eine Produktionsfirma und hatte so die Möglichkeit, auch meine Belegschaft für das Thema zu sensibilisieren. 2020 arbeitete eine freie Kollegin, Katharina Kühn, exklusiv an dieser Recherche. Wie es der Zufall wollte, rief mich im Februar 2021 plötzlich jener Sozialarbeiter von damals an. Man habe das Projekt „#actout“ im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ gesehen, in dem sich viele Schauspielerinnen und Schauspieler geoutet hatten, und könne sich vorstellen, das jetzt auch zu machen. Monate später gründeten katholische Beschäftigte, die nicht heteronormativ sind und unter diversen Repressalien der katholischen Kirche in ihrem Leben leiden, die Initiative „#OutInChurch“. Gleichzeitig trieb mein Team seine Recherchen jetzt energisch voran. Lange stand das Projekt auf der Kippe. Unter anderem wollte die Initiative noch vor dem Synodalen Weg, also dem Gesprächsforum innerhalb der katholischen Kirche, im Februar 2022 an die Öffentlichkeit gehen. Wir mussten immer wieder um Geduld bitten, weil wir für unseren Film so viele Beteiligte wie möglich zusammenbringen wollten – Mitglieder von „#OutInChurch“, aber auch zahlreiche andere. Wären es zu wenige Mitwirkende gewesen, hätte das weniger Schutz für sie bedeutet. Erst im August 2021 war klar, dass wir den Film machen konnten. Wir konnten aber erst im Oktober mit der Produktion beginnen. So mussten wir in etwa drei Monaten 100 Interviews führen und alle Dreh- und Schnittarbeiten machen. Das war ein Riesenstress.

„WIE GOTT UNS SCHUF – Coming Out in der Katholischen Kirche“. Mit diesem Film widmet sich Hajo Seppelt der katholischen Kirche.

„WIE GOTT UNS SCHUF – Coming Out in der Katholischen Kirche“. Mit diesem Film widmet sich Hajo Seppelt der katholischen Kirche.
Bildquelle: rbb / EyeOpeningMedia

wir: Was war Ihre wichtigste Erkenntnis aus der Recherche?

Hajo Seppelt: Die Diskussionen waren auch ein Lernprozess für mich: Mir wurde klar, dass es hier längst nicht nur um schwule Priester ging, sondern dass die Situation für andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der katholischen Kirche mindestens genauso prekär, wenn nicht noch viel prekärer war – weil sie nämlich im schlimmsten Fall entlassen werden können.

wir: Warum arbeitet jemand, der homosexuell ist, sich als queer oder nicht-binär empfindet, bei der katholischen Kirche – in dem Wissen, dass man stets gefeuert werden kann, wenn der eigene Lebensentwurf publik wird?

Hajo Seppelt: Wenn jemand gern Sozialarbeiter oder Gemeindereferent sein möchte und bereit ist, dafür die Rahmenbedingungen in der Kirche zu vernachlässigen, dann kann ich durchaus nachvollziehen, dass Menschen mit dieser Lebenslüge jahrzehntelang leben können. Das finde ich, ehrlich gesagt, überhaupt nicht schlimm. Die nicht heteronormativen Beschäftigten wissen zumindest: Ihre Lebensentwürfe werden oft stillschweigend geduldet, solange sie darüber nicht sprechen. Und wir haben bei den Recherchen erfahren, dass es bei vielen ein eingeübtes Verhalten ist: Wenn man schon von Kindesbeinen an gelernt hat, mit seiner Situation nicht offen umzugehen, dann kann man sich auch entscheiden, für die katholische Kirche zu arbeiten – weil man sich ihr verbunden fühlt und man darauf vertraut, dass es eh nicht rauskommt. Das ist für viele natürlich eine sehr starke nervliche Anspannung und Belastung, aber der Glaube und ihr Bekenntnis zur katholischen Kirche ist vielen offenbar wichtiger.

wir: Trotzdem sprechen Sie von einer Lebenslüge ...

Hajo Seppelt: Naja, man lügt ja nicht andere an, sondern eigentlich nur sich selbst, weil man die repressiven Bedingungen und die heuchlerische Atmosphäre wider besseres Wissen für sich hinnimmt. Dabei finde ich es völlig in Ordnung, zu entscheiden, dass man seine sexuelle Orientierung oder Identität nicht nach außen tragen möchte. Niemand kann Menschen mit einer anderen Orientierung oder Identität als der heteronormativen dazu zwingen, damit auf dem Jahrmarkt hausieren zu gehen. Und es kann nicht sein, dass ein Arbeitgeber die intimsten und persönlichsten Eigenschaften eines Menschen zum entscheidenden Faktor dafür machen kann, ob jemand dort arbeiten darf oder nicht.

wir: Gab es Konsequenzen für die Betroffenen, die sich geoutet haben – auch negative?

Hajo Seppelt: Bislang haben wir von keiner einzigen negativen Konsequenz gehört. Falls es doch welche gäbe, wäre ein Shitstorm sondergleichen zu erwarten. Denn alles, was dort jetzt passiert, passiert nun in einem öffentlichen Raum. Das müsste die Kirche sich dreimal überlegen – auch vor dem Hintergrund schwindender Mitgliederzahlen, die sie mittlerweile in ihrer Existenz bedrohen. Das kirchliche Arbeitsrecht wird seit Ausstrahlung des Films in aller Öffentlichkeit debattiert. Hier zeigt sich: Wenn Journalismus eine Öffentlichkeit für Missstände herstellt, kann er dazu beitragen, diese Missstände zu verändern, zu reduzieren oder gar zu beseitigen.

Hajo Seppelt diskutierte im Januar 2019 im Rahmen der Reihe „Journalismus im Dialog“ mit Carola Richter, Professorin für Internationale Kommunikation an der Freien Universität, und Claudio Catuogno von der „Süddeutschen Zeitung“.

Hajo Seppelt diskutierte im Januar 2019 im Rahmen der Reihe „Journalismus im Dialog“ mit Carola Richter, Professorin für Internationale Kommunikation an der Freien Universität, und Claudio Catuogno von der „Süddeutschen Zeitung“.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

wir: Vom ersten Kontakt bis zum Film sind acht Jahre vergangen. Ist das im investigativen Journalismus ein ungewöhnlich langer Zeitraum, um sich Expertise und Vertrauen zu erarbeiten?

Hajo Seppelt: Es kommt durchaus vor, dass Journalisten monate- oder jahrelang zu einer Geschichte recherchieren, aber dieser lange Zeitraum ist schon eher ungewöhnlich. Ich hatte aber 2013 erkannt, dass die Zeit noch nicht reif war. In den Jahren danach hat sich in der öffentlichen Wahrnehmung und Diskussion um queere Menschen viel getan. Denken Sie allein an die Gender-Diskussion – egal, wie man sie bewerten mag, sie ist ein großes Thema. 2021 war es viel einfacher, mit queeren Menschen in der katholischen Kirche ins Gespräch zu kommen – wenngleich es viele immer noch große Überwindung kostete und das Thema angstbehaftet war.

wir: Die „#OutInChurch“-Initiative schien auf den ersten Blick thematisch gar nicht zu Ihnen zu passen, denn man kennt Sie vor allem als Sportjournalisten und Dopingexperten. Wollten Sie den Doping-Komplex eine Weile ruhen lassen?

Hajo Seppelt: Es war nicht so, dass ich auf das Sportthema keine Lust mehr hatte. Ich wollte aber das thematische Portfolio meiner Produktionsfirma sowieso erweitern.

wir: Oder hatte es auch damit zu tun, dass Sie sich bedroht gefühlt haben – etwa im Zusammenhang mit Ihren Enthüllungen über russisches Staatsdoping?

Hajo Seppelt: Ich hatte keine Angst. Die Bedrohungslage in Russland gab und gibt es aber in der Tat. Was wir jetzt im Großen mit dem Krieg in der Ukraine erleben, kann ich mit meinen Erfahrungen beim Thema Staatsdoping natürlich nicht vergleichen. Aber ich habe im Mikrokosmos Sport genau dieselben Strukturen und Denkweisen des russischen Machtapparats erlebt. Eine regelbasierte Art des Zusammenlebens hat es auch im russischen Sport nicht gegeben.

wir: Wie würden Sie die Wucht beschreiben, die die Russland-Enthüllungen entfaltet haben?

Hajo Seppelt: So etwas hatte ich in der Art zuvor noch nie erlebt, seitdem ich 1985 beim Sender Freies Berlin (SFB) angefangen hatte. Im Nachgang zu unseren Russland-Recherchen 2014 folgten Rücktritte, Korruptionsermittlungen gegen das IOC und internationale Haftbefehle. Es gab auch mysteriöse Todesfälle in Russland.

wir: Und wie haben Sie die Wucht persönlich erlebt?

Hajo Seppelt: Die Spannbreite war enorm – von purem Hass bis zu großer Anerkennung. Von Drohungen gegen Leib und Leben bis zum Bundesverdienstkreuz war alles drin.

wir: Infolge des Films haben drei Whistleblower Russland verlassen ...

Hajo Seppelt: … sie leben heute an geheimen Orten in den USA.

wir: Wie gehen Sie damit um, dass Informanten sich für Ihre Recherchen in Gefahr bringen?

Hajo Seppelt: Die oberste Prämisse im investigativen Journalismus muss der Informantenschutz sein. Das war auch völlig klar im Fall der Leichtathletin Julia Stepanowa und ihres Mannes, Vitali Stepanow, einem früheren Mitarbeiter bei der Russischen Anti-Doping-Agentur (RUSADA). Sie haben mir 2014 Beweise des Staatsdopings in Bild und Ton auf den Tisch gelegt. Wir hatten verabredet, dass nichts, aber auch wirklich gar nichts davon öffentlich werden kann, bevor die beiden in Sicherheit sind. Darum wurde das Interview, das ich mit ihnen in Moskau geführt hatte, erst ausgestrahlt, als sie das Land schon verlassen hatten. Ein paar Wochen haben sie bei mir gewohnt. Durch diese Extremsituation war die Distanz zwischen mir und dem Gegenstand meiner Berichterstattung, zu dem die beiden ja nun auch gehörten, kleiner als üblich. Es ging aber nicht anders.

wir: Und dann gibt es da noch die Geschichte mit dem angeklebten Bart ...

Hajo Seppelt: Ich wusste seit 2010 von einem russischen Wissenschaftler, der auf Kongressen selbst entwickelte Dopingmittel feilbot. 2013, kurz vor den Olympischen Winterspielen im russischen Sotschi, nahm ich Kontakt zu ihm auf und gab mich als Sportfunktionär aus. Mein Gesicht war damals zumindest in Deutschland schon recht bekannt. Deshalb hielt ich es für eine gute Idee, mich mit einem angeklebten Theaterbart und falscher Brille zu verkleiden. In einer Kneipe in Moskau bot mir der Wissenschaftler dann tatsächlich ein von ihm kreiertes Wundermittel namens „Fullsize MGF“ an, für das er einen Tag später 100.000 Dollar haben wollte. Da ich ihn also unerwarteterweise an zwei Tagen hintereinander traf, hielt der Bart nicht. Ich musste ihn die ganze Zeit am Kinn festhalten, damit er nicht runterrutscht. Trotzdem gelang es mir, eine Probe des Mittels zu bekommen und damit aus Russland auszureisen.

wir: Was können Sie über das Mittel sagen?

Hajo Seppelt: Es war hocheffektiv und echt. Damit hätte man einen guten Teil der deutschen Olympiamannschaft dopen können.

wir: Wie sind Sie selbst zum Sportjournalismus gekommen?

Hajo Seppelt: Mit 14, 15 war ich noch relativ sportinteressiert und als West-Berliner Kind auch Hertha-Fan. In der Zeitschrift „Hörzu“ suchte der RIAS damals per Annonce Kindersportreporter. Das fand ich toll und bewarb mich da mit einer fiktionalen Sportreportage, die ich auf meinen Kassettenrekorder gesprochen hatte. Zwei Jahre lang habe ich für den RIAS gearbeitet, bis man mir sagte, meine Stimme sei jetzt zu tief für einen Kinderreporter. Jahrzehnte später gestand mein damaliger Mentor mir die Wahrheit: Mein Talent hätte nicht ausgereicht.

wir: Das war es dann erstmal mit Ihrer Sportreporter-Karriere?

Hajo Seppelt: Die Absage hatte mich frustriert, Journalist wollte ich erst mal nicht mehr werden. Nach dem Abitur begann ich ein Lehramtsstudium. Im Frühjahr 1982 fing ich an der Freien Universität an: Sport und Französisch. Ein Jahr später bin ich von Französisch auf Sozialkunde umgestiegen und habe nebenher noch ein bisschen Publizistik studiert. Das Sportstudium war damals noch nicht so wie heute – ich hatte das Gefühl, dass ich praktisch gar nicht anwesend sein musste. Ich war ein ziemlich fauler Student. Ein ehemaliger Kommilitone sprach mich Jahrzehnte später noch darauf an: „Du warst doch der, der immer erst zum Ende der Vorlesung kam.“

wir: Beendet haben Sie Ihr Studium aber nicht ...

Hajo Seppelt: Nach einem ziemlich ernüchternden Praktikum als Vertretungslehrer an einer Grundschule war für mich klar: Ich will doch kein Lehrer werden. Auf Vermittlung meines Vaters, der gelegentlich als freier Journalist über Schach berichtete, fing ich dann bei der dpa als freier Mitarbeiter an – ebenfalls mit Berichten über Schach, meistens aber über kleinere Leichtathletik-Veranstaltungen in Berlin. 1985 machte ich ein Praktikum beim Sender Freies Berlin (SFB), wurde dort fester freier Mitarbeiter – und ab da habe ich die Uni gar nicht mehr von innen gesehen. Später habe ich mich ein bisschen geärgert, dass ich nie einen Abschluss gemacht habe. Ich denke, es hätte mir gut getan, auch eine wissenschaftliche Abschlussarbeit zu schreiben. Dazu ist es nie gekommen.

wir: Darüber sind Sie aber hinweg?

Hajo Seppelt: Das Buch über Kinderdoping in der DDR, das ich 1999 zusammen mit einem Kollegen veröffentlicht habe, fühlt sich im Nachhinein an wie eine Masterarbeit.

wir: Sie haben also von Anfang an kritischen Sportjournalismus betrieben?

Hajo Seppelt: Nicht nur, aber auch. Ich habe schon in den Achtzigern beim SFB neben meiner Arbeit als Schwimmkommentator auch kritisch über Sport in der DDR berichtet. Anfang der Neunziger konnte ich den kanadischen Sprinter Ben Johnson, der 1988 in Seoul aufgeflogen war, zu seiner Doping-Karriere befragen. Das Interview fanden damals viele zu kritisch. Lange dachte ich, ich könne das eine tun, nämlich klassische Sportberichterstattung, ohne das andere zu lassen: kritischen Journalismus. Aber irgendwann hatte ich davon genug, auf der einen Seite Sportereignissen eine Bühne zu bieten und auf der anderen Seite die Systemstrukturen im Profisport zu hinterfragen, die letztlich auch Doping begünstigen. Dieser Widerspruch konnte nicht funktionieren. Das wurde mir aber erst nach vielen Jahren klar.

wir: Wie hat sich der Sportjournalismus über die Jahre verändert?

Hajo Seppelt: 2006 schmiss mich die ARD noch als Schwimmkommentator raus, weil ich mich in einer öffentlich gewordenen E-Mail unter anderem über unkritische Doping-Berichterstattung beschwert hatte. Ein halbes Jahr später aber war der Druck auf die Öffentlich-Rechtlichen, kritischer über Sport zu berichten, noch größer geworden. Ich wurde gefragt, ob ich Teil einer neuen Redaktion werden wollte, die sich ausschließlich Doping-Recherchen widmen sollte. Ich sagte „Ja“ – ein Glücksfall für mich. Ich konnte ohne Einschränkungen recherchieren. Unsere Enthüllungen etwa zu Russland, der „Tour de France“ und dem IOC haben in der Folge dazu beigetragen, dass das Publikum Sport differenzierter und kritischer sieht. Vieles ist öffentlich geworden, was sonst nicht öffentlich geworden wäre. Die unseligen Zeiten, als die ARD noch das „Team Telekom“ bei der Tour de France sponserte, hat der öffentlich-rechtliche Sportjournalismus hinter sich gelassen. Wir dürfen uns aber nicht in die Tasche lügen: Kritischer Journalismus im Sport hat weiterhin viele Feinde – vor allem im Lager derer, die den Sport als Plattform für ihre kommerziellen Interessen sehen.

wir: Was kritisieren Sie denn?

Hajo Seppelt: Belanglose Interviews, Jubelarien, Uninformiertheit und Befangenheit. Es ist auch ein fataler Fehler anzunehmen, dass Menschen, die selbst einmal Spitzensportler waren, automatisch für den Beruf des Sportjournalisten geeignet sind. Regelkunde oder Insiderwissen machen bei weitem nicht allein journalistisches Handwerk aus.

wir: Was, würden Sie sagen, haben Sie persönlich erreicht?

Hajo Seppelt: Mit meinem beruflichen Schaffen bin ich bisher weitgehend zufrieden. Ich habe inzwischen ein Team aus zwölf engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf die Beine gestellt. Und wir haben – gemeinsam mit vielen Kolleginnen und Kollegen – durch eine gewisse Beharrlichkeit im deutschen und auch im internationalen Sport so einiges ans Licht gezerrt und zumindest manchmal dazu beitragen können, dass sich im Sport Dinge ein Stück weit zum Guten verändern. Klar ist: Unser Job kann nur auf Missstände aufmerksam machen. Verändern müssen sie andere.

wir: Es gibt diese Legende über Sie, dass Sie schon als Jugendlicher im Fußballverein im Zweifel selbst dem Schiedsrichter gemeldet haben, wenn Sie Hand gespielt oder gefoult hatten.

Hajo Seppelt: Die Legende stimmt. Meine Mitspieler waren da immer völlig fassungslos, aber ich fand, da müsse man halt ehrlich sein. Foul ist Foul.

wir: Stimmt es auch, dass Sport Sie privat gar nicht so sehr interessiert?

Hajo Seppelt: Ich bin investigativer Journalist auf dem Feld des Sports, aber kein Sportfan. Ich schaue mir nicht stundenlang die Olympischen Spiele an, und die Bundesligatabelle interessiert mich nur am Rande. Die einzigen Ausnahmen waren lange Fußball-WM und -EM, weil ich die quasi als kulturelle Ereignisse hierzulande erlebt habe, die Menschen zusammenführen. Aber seit der WM-Vergabe an Katar bin ich mir nicht mehr sicher, ob das noch stimmt.

Das Interview führte Daniel Kastner

Weitere Informationen

Der Doping-Experte

Hans-Joachim Seppelt, geboren 1963 in Berlin, studierte nach dem Abitur zunächst an der Freien Universität. Schon während des Studiums arbeitete er als Sportreporter für den SFB. Ab 2006 arbeitete er für die neu gegründete ARD-Dopingredaktion. Zu ihren zahlreichen Enthüllungen zählt die Reihe „Geheimsache Doping“, die unter anderem systematisches Staatsdoping in Russland aufdeckte. Infolge der Recherchen wurde das russische Team von den Olympischen und Paralympischen Spielen ausgeschlossen. 2017 gründete Seppelt seine eigene Produktionsfirma „Eyeopening.Media“, die auch den Film „Wie Gott uns schuf“ über queere Mitarbeitende in der römisch-katholischen Kirche produzierte. Die ARD strahlte ihn im Januar 2022 aus. Seppelt wurde unter anderem mit dem „Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis“, dem „Deutschen Fernsehpreis“ und dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Seine Marathon-Bestzeit ist 3:16.