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Im Maschinenraum der EU

Als Dr. Klaus-Dieter Borchardt 1988 den Ernst-Reuter-Preis für seine Dissertation erhielt, war der Jurist schon auf dem Sprung nach Brüssel. Dort gestaltete er jahrzehntelang Europas Agrar- und Industriepolitik mit

14.06.2022

Klaus-Dieter Borchardt, gern gesehener Gast und Experte für europäische Agrar- und Industriepolitik

Klaus-Dieter Borchardt, gern gesehener Gast und Experte für europäische Agrar- und Industriepolitik
Bildquelle: Stephan Rühl/Heinrich-Böll-Stiftung

Dr. Klaus-Dieter Borchardt wurde 1955 in Greifswald geboren, studierte dann aber in den 1970er-Jahren in Hamburg. Zwischen Geburtsort Ost und Studienort West liegen jene Zufälle, die so typisch sind für viele Nachkriegsbiografien. Sein Vater leitete nach der Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft in Greifswald ein Betonwerk. Irgendwann mischte sich die SED allzu sehr in den Betrieb ein. Borchardts Eltern zogen nach Niedersachsen und bauten dort ein Haus. Obwohl die Ausreise 1957 ohne Mauer noch relativ einfach war, galten die beiden als Republikflüchtlinge. Borchardt und seine beiden Schwestern blieben zunächst bei den Großeltern und reisten später per Flugzeug über West-Berlin hinterher. Das war drei Jahre vor dem Mauerbau „und hätte auch schiefgehen können“, sagt Borchardt.

Abitur machte er in Hannover, dann ging es zum Jurastudium nach Hamburg, „zum Glück“, wie er sagt. Denn Hamburg ist ihm bis heute die liebste Stadt in Deutschland, obwohl er schon seit Jahrzehnten mit seiner belgischen Frau etwas außerhalb von Brüssel lebt. Schon früh im Studium merkte Borchardt, dass ihn europäisches Recht begeisterte. „Ich wollte eines Tages entweder eine Anwaltskanzlei mit diesem Schwerpunkt haben – oder gleich zur Europäischen Kommission gehen“, sagt er.

Nach dem Ersten Staatsexamen forschte er als Werkstudent am Europa-Kolleg in Hamburg und lernte dort bald dessen Direktor Prof. Dr. Eberhard Grabitz kennen und schätzen, seinen späteren Doktorvater. „Er war sehr fordernd, und ich habe wahnsinnig viel von ihm gelernt“, sagt Borchardt. Auch nach dem zweiten Staatsexamen arbeitete er für Grabitz – als eine Mischung aus persönlichem Assistenten und Statthalter in Hamburg. Denn hauptsächlich war Grabitz in Berlin tätig: An der Freien Universität hatte er nun die Professur für Öffentliches Recht, Europarecht und Politische Wissenschaft inne. Sie war auch der Grund, weshalb Borchardt an der Freien Universität promovierte – und eben nicht in Hamburg.

Ein System der europäischen ­Gemeinschaftsordnung

Auch seine Doktorarbeit drehte sich um Europa. Für seine Dissertation „Der Grundsatz des Vertrauensschutzes im Europäischen Gemeinschaftsrecht“ wälzte er nationale Gesetze der damals zehn EU-Mitgliedsstaaten – darunter italienische, dänische und griechische Texte – und verglich sie mit den damals eher spärlichen Urteilen des Europäischen Gerichtshofs zum Vertrauensschutz. Am Ende der Fleißarbeit stand 1985 ein System der europäischen Gemeinschaftsordnung. „Das war auch deshalb schwierig, weil die europäische Rechtsordnung unabhängig von nationalen Gesetzen funktioniert“, erläutert er.

Während der Promotionszeit bot Borchardt auch Lehrveranstaltungen an der Freien Universität an. Besonders in Erinnerung sind ihm seine Veranstaltungen vor Studierenden der Politikwissenschaft. „Bei den angehenden Politologinnen und Politologen bin ich nie in der geplanten Zeit durchgekommen – die haben alles hinterfragt“, erzählt er. „Bei den Jura-Studierenden war es umgekehrt: Die haben meistens mitgeschrieben, und mitunter war es mühsam, eine Diskussion anzufachen.“

Eine zwei Jahre dauernde Prüfung

Kontakte zu den europäischen Institutionen hatte Borchardt während des Studiums und auch während der Promotion bereits geknüpft: etwa bei einer Exkursion zum Europäischen Parlament, einem Praktikum bei der Europäischen Kommission und bei mehreren Dienstreisen mit Grabitz nach Brüssel. Schon 1984, noch vor dem Abschluss der Doktorarbeit, bewarb er sich beim Juristischen Dienst der Kommission – ein aufwändiges und langwieriges Verfahren mit harter Konkurrenz: Am sogenannten „concours“ nahmen seinerzeit jährlich 30.000 Menschen teil. Allein die Prüfung der Unterlagen dauerte zwei Jahre. Weitere Monate vergingen, weil die Jobzusage Borchardt nicht sofort erreichte – die Kommission hatte sie zunächst an seine alte Hamburger Adresse geschickt.

Als ihn die Ernst-Reuter-Gesellschaft 1988 für seine Dissertation auszeichnete, war er aber schon auf dem Sprung nach Brüssel. Die Dankesrede für alle fünf Preisträger – es waren nur Männer – hielt Borchardt: „Man hatte mich ausgewählt mit der Begründung, Juristen machten so etwas doch mit links.“

 

Dr. Klaus-Dieter Borchardt (rechts) erhielt seine Urkunde aus den Händen des damaligen Ersten Vizepräsidenten der Freien Universität, Professor Dr. Michael Erbe. Borchardt hielt im Anschluss auch die Dankesrede.

Dr. Klaus-Dieter Borchardt (rechts) erhielt seine Urkunde aus den Händen des damaligen Ersten Vizepräsidenten der Freien Universität, Professor Dr. Michael Erbe. Borchardt hielt im Anschluss auch die Dankesrede.
Bildquelle: Inge Kundel-Saro

Aus Dahlem in die Maschinenräume

In Brüssel arbeitete Borchardt jahrzehntelang in den „Maschinenräumen“ der europäischen Institutionen. Zu seinen Schwerpunkten gehörten Wettbewerbsrecht und Energieversorgung, vor allem aber Landwirtschaft. In wechselnden, oft auch leitenden Positionen – zwischenzeitlich auch am Europäischen Gerichtshof – bereitete er EU-Agrarreformen vor und arbeitete an ihrer Umsetzung mit. Mit der einstigen dänischen Agrarkommissarin Mariann Fischer Boel verbindet ihn bis heute eine enge Freundschaft. Während ihrer Amtszeit machte sie Borchardt anstelle eines Landsmannes zu ihrem Kabinettschef – was so ungewöhnlich war im Brüsseler Proporz, dass Borchardt sich zuvor persönlich beim dänischen Ministerpräsidenten vorstellen musste. Zuletzt befasste er sich stärker mit Energiefragen. In einem Interview sann Borchardt 2020 über die nötige Diversifizierung der europäischen Energieversorgung nach, und er sprach ausdrücklich davon, sich aus der Abhängigkeit von russischem Gas zu lösen: eine Forderung, die heute aktueller ist denn je. Denn keine zwei Jahre später hat Russlands Angriff auf die Ukraine aus der einstigen Klima- eine Sicherheitsfrage gemacht. Wie schnell Europa von russischem Gas unabhängig wird, daran arbeitet Borchardt nicht mehr mit: Seit seiner Pensionierung berät er die internationale Anwaltskanzlei „Baker McKenzie“. Der Wechsel auf die andere Seite hat seine Sicht verändert – auch die auf sich selbst: „Ich habe mich immer für anders gehalten als andere EU-Beamte, die stets nur am Schreibtisch entschieden haben“, sagt er. „Ich bin lieber selbst in Schiffsbaubetriebe gegangen oder habe mit Landwirten gesprochen als mit den Lobbyisten in Brüssel.“ Trotzdem findet er heute, „dass wir in der EU-Blase vieles nicht gesehen haben, was wir hätten sehen müssen“. Und deshalb macht er sich Sorgen um die EU – Sorgen, die er sich vor ein paar Jahren noch nicht gemacht hat. Als Warnungen sieht er den Brexit und den Streit mit Polen um die Rechtsstaatlichkeit. „Wenn Europas Autorität nicht mehr anerkannt wird, fliegt der ganze Laden irgendwann auseinander.“

Sein Standardwerk wuchs von 80 auf 700 Seiten

Wenn sein Mandat für die Kanzlei „Baker McKenzie“ endet, will Borchardt kürzertreten. Das heißt für ihn: Er wird nur noch ausgewählte Mandate übernehmen. Sein Standardwerk „Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union“, das von 80 Seiten in der ersten Auflage auf fast 700 in der siebten angewachsen ist, will er komplett überarbeiten und straffen. Zudem möchte er gemeinsam mit seiner Frau viel reisen und Freundschaften wiederbeleben, die über die Jahre berufsbedingt etwas eingeschlafen sind. Und an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, wo er seit 2001 Honorarprofessor für Europäisches Gemeinschaftsrecht ist, möchte er wieder mehr Veranstaltungen anbieten.

An der Freien Universität ist der Ernst-Reuter-Preisträger von 1988 lange nicht mehr gewesen. Aber das „wir“-Magazin, das liest er immer noch.