Springe direkt zu Inhalt

Der Vermittler

Der China-Experte und Historiker Prof. Dr. William C. Kirby sprach an der Freien Universität über chinesisch-amerikanische Beziehungen und die Geschichte der modernen Forschungsuniversität.

23.02.2023

Harvard-Professor Dr. William C. Kirby ist führender Chinaexperte, renommierter Historiker und Ehrendoktor der Freien Universität.

Harvard-Professor Dr. William C. Kirby ist führender Chinaexperte, renommierter Historiker und Ehrendoktor der Freien Universität.
Bildquelle: Michael Fahrig

Fragt man Prof. Dr. William C. Kirby, welche Berufsbezeichnung am ehesten auf ihn zutreffe, ob er sich selbst als Sinologen, als Chinaexperten oder als Universitätslehrer sehe, so antwortet er: „als Historiker“.

Das sagt Kirby, obwohl er in den USA als führender Chinaexperte gilt. Über die Gründe dafür kann er so anregend erzählen wie über jedes andere Sujet, zu dem man ihn befragt. Etwa über seine Rolle im rauer werdenden geopolitischen Wettstreit zwischen China und den USA: Kirby will kein Anwalt einer der beiden Seiten sein, sondern nennt sich selber einen „Übersetzer“, einen Vermittler. Auch wie er diese Aufgabe ausfüllt, zeichnet ihn auf ganz besondere Weise aus.

Aber zurück zur Selbstbeschreibung als Historiker: Derzeit ist Kirby „T. M. Chang Professor of China Studies“ an der Harvard University und „Spangler Family Professor of Business Administration“ an der Harvard Business School. Er lehrt seit 1992 in Harvard und bekleidete verschiedene universitäre Ämter, darunter die des Vorsitzenden des Instituts für Geschichte, des Direktors des Harvard University Asia Center und – von 2002 bis 2006 – des Dekans der Fakultät für „Arts and Sciences“.

Selbst wenn Kirby, wie in letzter Zeit mit großem Interesse, sogenannte „case studies“ für die Harvard Business School erstellt, also Fallstudien über einzelne chinesische Unternehmen und deren Entwicklung, Strategien und Potentiale, so interessiert ihn daran besonders, was man über die chinesische Gesellschaft lernen könne. Und er besteht darauf, dass dies gar nicht möglich sei, ohne die Geschichte Chinas zu kennen, welche übrigens nicht erst 1949 mit der Volksrepublik beginne, sondern lange vorher.

Die subtile Ironie seiner Texte

Kirby ist Historiker durch und durch, er erforscht die Vergangenheit mit einer Neugier, die nicht nur akademischer Natur ist. Zu erforschen, „wie es eigentlich gewesen“ ist, heißt ja auch, zu verstehen, wie unser Heutiges entstanden ist. Was allem Heutigen seine „Naturgegebenheit“ nimmt, Distanz erzeugt, das Heutige in neuem Licht erscheinen lässt. Kirby ist kein Historiker der Notwendigkeit, sondern ganz und gar auf Seiten der Kontingenz: Ja, die Aufgabe des Historikers sei es, in den Archiven danach zu suchen, warum es so gekommen ist, wie es gekommen ist. Aber diese Spurensuche führt immer zur Erkenntnis, dass es sehr wohl auch anders hätte kommen können. Aus dieser Einsicht rührt die subtile Ironie, mit der Kirby seine Texte schreibt und mit der er erzählt.

„Geschichte ist nie unausweichlich“, sagt Kirby. Was er damit meint, zeigt sich auch daran, wie er auf die Frage antwortet, wie eigentlich sein Interesse an China sich entwickelt habe. Wie ist er zu einem Chinaexperten, einem Chinawissenschaftlicher geworden? Kirby skizziert als Antwort keinen gradlinigen Weg, sondern eine Entwicklung voller überraschender Wendungen und Verwicklungen. Persönliches und Allgemeines vermischt sich, Zufälle verbinden sich mit notwendigen Folgen früherer Ereignisse, Kausalität und Kontingenz vermengen sich.

Auf Einladung der Ernst-Reuter-Gesellschaft stellte William C. Kirby sein neues Buch „Empires of Ideas: Creating the Modern University from Germany to America to China“ vor.

Auf Einladung der Ernst-Reuter-Gesellschaft stellte William C. Kirby sein neues Buch „Empires of Ideas: Creating the Modern University from Germany to America to China“ vor.
Bildquelle: Michael Fahrig

Als erstes habe er sich für deutsche Geschichte interessiert, sagt Kirby: schon in der High School, was einerseits an seinen Lehrern für Deutsch und Französisch lag, und andererseits an seiner Nachbarin von gegenüber, Isabel Hull. Hull wird übrigens später in den USA eine führende Historikerin für die Geschichte Deutschlands, unter anderem als Chair des History Department der Cornell University. Mit ihr verbindet Kirby also das Interesse an der Geschichte, was ihn als undergraduate an die Universität von Dartmouth führt. Schon im zweiten Jahr verbringt er zudem Zeit in Mainz. Bald begeistert ihn ein Kurs in Dartmouth aber auch für die Geschichte Chinas, weil es ganz einfach eine „erstklassige Vorlesung“ gewesen sei. Das Interesse für China habe sich bald als nützlich herausgestellt, sagt Kirby: Als er einen Antrag stellen wollte, um von seinem reinen Männer-College Dartmouth wenigstens zeitweise auf ein College auch mit Frauen zu wechseln, diente ihm als Begründung, man habe dort einen China-Historiker, bei dem er studieren wolle.

Mit einem Luftbrückendankstipendium nach Berlin

Nach seinem Universitätsabschluss bewirbt sich Kirby auf ein „Luftbrückendankstipendium“, das von der Stadt Berlin gestiftet wird, und verbringt ein Jahr an der Freien Universität. Es war das Studienjahr 1972/1973, auch hier begegnet Kirby die chinesische Geschichte eher unbeabsichtigt. Er besucht ein Seminar über Marx am Otto-Suhr-Institut bei der Politologieprofessorin Dr. Gesine Schwan. Unter den 15 Studierenden seien Anhänger sechs verschiedener kommunistischer Splittergruppen gewesen: KPD- und SED-Parteigänger, Vertreter der KPD-ML sowie Anhänger der albanischen Kommunisten; und: Maoisten. China sei damals hip gewesen, gerade unter jungen Linken, allerdings, sagt Kirby, habe man sich China so gemalt, wie man es gern gehabt hätte. Von der wirklichen Geschichte Chinas hätten die studentischen Maoisten wenig gewusst.

Als Amerikaner nach Ost-Berlin

Kirby sagt, seine Aufgabe im Seminar habe vor allem darin bestanden, für die kommunistischen Kommilitoninnen und Kommilitonen nach Ost-Berlin zu fahren, um Nachschub an marxistischer Literatur zu besorgen. Er als US-Amerikaner durfte ja hinter die Mauer, was manch anderen aus West-Berlin verwehrt war.

Bis zum Doktortitel vermeidet Kirby es, sich auf eine Region festzulegen: Er promoviert im Fach Geschichte, nicht im Fach Sinologie. Seine beiden professoralen Mentoren in Harvard weisen in zwei verschiedene Richtungen: Franklin L. Ford ist Historiker deutscher und französischer Geschichte, John K. Fairbank einer der führenden Historiker des modernen Chinas zu der Zeit.

Buchvorstellung in großer Runde: Peter Lange, Vorstandsvorsitzender der Ernst-Reuter-Gesellschaft (li.), Sinologieprofessorin Mechthild Leutner (2.v.l.), Prof. William C. Kirby und Prof. Peter-André Alt, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz.

Buchvorstellung in großer Runde: Peter Lange, Vorstandsvorsitzender der Ernst-Reuter-Gesellschaft (li.), Sinologieprofessorin Mechthild Leutner (2.v.l.), Prof. William C. Kirby und Prof. Peter-André Alt, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz.
Bildquelle: Michael Fahrig

Kirby verbindet beides fast salomonisch auch in seiner Doktorarbeit: Sie handelt vom deutschen Einfluss in Nationalchina, da China bessere Beziehungen zu Deutschland als zu allen anderen Ländern der Welt hatte. Danach bewarb er sich auf Stellen sowohl für deutsche als auch für chinesische Geschichte: Er bekam einen Job für letzteres, das, sagt Kirby, „focused the mind“. Er habe gedacht, das sei schon in Ordnung so, denn er habe sich gefragt: „Will ich wirklich mein Leben dem Studium der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert widmen, so brutal und deprimierend, wie die ist? Allerdings war das, bevor ich herausfand, dass auch die chinesische Geschichte ihre äußerst deprimierenden Kapitel hat.“

Man kann sich fast nicht mehr vorstellen, dass damals in China nichts von einer aufstrebenden Supermacht zu sehen war, von der künftig größten Volkswirtschaft der Welt. Und auch nicht, dass im 21. Jahrhundert ein anschwellender Handelskrieg zwischen den USA und China die bilateralen Beziehungen, den akademischen Austausch und die universitäre Kooperation auf den Prüfstand stellen würde.

Kirby lehnt es ab, als Chinaexperte seiner Regierung instrumentell zur Seite zu stehen, um die Dominanz Chinas abzuwenden. Er sieht sich immer noch als Vermittler, spricht von „Eminenz“ statt Dominanz, verteidigt China gegen westliche Vorurteile und zugleich die chinesische Bevölkerung gegen ihre eigene Regierung. Er kann von chinesischen Unternehmern schwärmen, die im Jahr 1969 eine Fabrik für Traktorteile gründeten, einfach, um nicht zu verhungern, und daraus mit schierem Durchhaltewillen, Chuzpe und Erfindungsgeist den heute größten Autozulieferer des Landes machten.

Kirby verbindet deutsche Universitätsgeschichte mit chinesischer und amerikanischer

So erklärt sich vielleicht auch Kirbys jüngstes Buch („Empires of Ideas: Creating the Modern University from Germany to America to China“), das auf bezwingende Art und Weise gleich mehrere von Kirbys Interessen und Leidenschaften zu einer einzigen Erzählung verwebt: der Geschichte der modernen Forschungsuniversität. Sie beginnt in Berlin nach einer Blaupause von Wilhelm von Humboldt, die die hiesige Universität zur führenden akademischen Institution im 19. Jahrhundert macht. Erst im 20. Jahrhundert wird sie darin von amerikanischen Universitäten abgelöst, die das deutsche Postgraduierten-System mit einer britischen Undergraduate-Ausbildung verbinden und zugleich die Humboldtsche Einheit von Forschung und Lehre beibehalten. Ihnen wiederum versuchen im 21. Jahrhundert chinesische Universitäten den Rang abzulaufen. Kirby verbindet also deutsche Universitätsgeschichte mit chinesischer und amerikanischer, er beschreibt und analysiert seine Alma Mater Harvard ebenso wie die Entwicklung der Freien Universität, die er 1972 zum ersten Mal besuchte und die ihm im Jahr 2006 einen Ehrendoktor verliehen hat. Das Ganze ist nicht nur lehrreich, sondern auch unterhaltsam, weil Kirby wie stets Akribie mit Ironie verbindet. Seine Neugier scheint unerschöpflich, genauso wie sein Insistieren darauf, wie unerlässlich das Lernen voneinander, der wechselseitige Austausch ist, sei es zwischen Lehrenden und Studierenden, sei es zwischen Universitäten oder sogar ganzen Kulturen.

Auf Einladung der Ernst-Reuter-Gesellschaft und des an der Freien Universität angesiedelten Konfuzius-Instituts stellte William C. Kirby Mitte Dezember 2022 im Henry-Ford-Bau sein neues Buch einem breiteren Publikum vor.