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„Man kann am Esstisch eine Revolution planen“

Die Meteorologin Sahar Sodoudi war an der Freien Universität Juniorprofessorin für Stadtklima – heute bieten sie und ihre Zwillingsschwester Forough mit dem „Dr & Dr Middle Eastern Culture and Food Lab“ Kulturvermittlung, Kochkurse und Catering an.

24.05.2023

„Wer hierher kommt, lernt viel über die iranische Esskultur."

„Wer hierher kommt, lernt viel über die iranische Esskultur."
Bildquelle: Miriam Klingl

wir: Frau Dr. Sodoudi, Ihr Leben hat mehrmals komplett die Richtung gewechselt, das erste Mal schon, als Sie noch ein Kind waren: 1980 sind Ihre Eltern mit Ihnen und Ihrer Zwillingsschwester Forough aus Berlin in den Iran zurückgekehrt – nach der Islamischen Revolution. Das hat mich überrascht.

Sahar Sodoudi: Meine Eltern wollten nach ihrem Studium unbedingt in ihre Heimat zurück. Im Nachhinein betrachtet war es die falsche Entscheidung.

wir: War es ein großer Kulturschock?

Sahar Sodoudi: Nicht so groß. Wir hatten in unserer Zeit in Deutschland oft Besuch aus dem Iran. Und als Kinder fanden wir schnell Freunde. Aber unsere Lehrerin verbot uns, Deutsch zu sprechen, sodass wir es vollständig verlernten.

wir: Sie haben einen Bachelor in Physik und einen Master in Meteorologie. Warum haben Sie sich diese Fächer ausgesucht?

Sahar Sodoudi: Ich war schon in der Schule sehr gut in Physik und Mathematik und habe später neben dem Studium in diesen Fächern auch Privatstunden gegeben.

wir: Und Meteorologie?

Sahar Sodoudi: Wolkenbildung war in der Schule meine Leidenschaft – besonders die Form von Cumulus-Congestus-Wolken in Teheran: Das sind Haufenwolken kurz vor einem Gewitter.

wir: 2001 kam der zweite Richtungswechsel: Sie gingen nach Berlin zurück. In den späten 1990er-Jahren waren Sie im Iran mit dem System aneinandergeraten. 1998 verhaftete Sie die Sittenpolizei, weil angeblich Ihr Kopftuch nicht richtig saß, 1999 nahmen Sie an einem Sitzstreik an der Uni teil, den das Regime mit Gewalt auflöste. Wollten oder mussten Sie weg?

Sahar Sodoudi: Meine Schwester und ich waren zwar immer politisch und haben immer gekämpft. Aber wir sind nicht aus politischen Gründen nach Berlin gekommen. Ich hatte damals im Iran einfach keine Promotionsmöglichkeit in Meteorologie.

wir: Ihre Schwester kam mit – wären Sie auch ohne sie gegangen?

Sahar Sodoudi: Wahrscheinlich schon. Für mich war das ja eine Karrierefrage. Die Aussicht auf eine bessere Zukunft und bessere Berufschancen haben dann auch Forough bewogen, nach Deutschland mitzukommen. Sie hatte eigentlich schon eine Promotionsstelle in Seismologie an der Teheran-Universität, hat sich dann aber auch nochmal um eine Stelle in Deutschland beworben.

wir: Warum Berlin, warum die Freie Universität?

Sahar Sodoudi: Ich war bei den Recherchen zu meiner Masterarbeit auf die Arbeit von Prof. Dr. Manfred Geb vom Institut für Meteorologie an der Freien Universität gestoßen. Es ging um Großwetterlagen und Omega Blocks. Ich wollte unbedingt mit ihm zusammenarbeiten. Irgendwann fragte ich ihn, ob ich bei ihm meine Doktorarbeit schreiben könnte.

wir: Wie war das Ankommen in Deutschland und an der Freien Universität?

Sahar Sodoudi: An meinem Institut sprach niemand Englisch, es gab dort damals keine ausländischen Studierenden. So habe ich zwar sehr schnell wieder Deutsch gelernt, aber es war eine schwierige Zeit. Bevor ich überhaupt mit meiner Doktorarbeit weitermachen konnte, musste ich eine Deutschprüfung und eine Kenntnisprüfung – auch auf Deutsch – ablegen, weil nicht alle meine Abschlüsse anerkannt wurden.

wir: Was war das Thema Ihrer Doktorarbeit?

Sahar Sodoudi: Ich habe untersucht, wie präzise ein europäisches Wettermodell starke Niederschläge im Iran voraussagt. Das ist wichtig für ein besseres Risikomanagement, zum Beispiel in der iranischen Landwirtschaft.

Fast die gesamte Einrichtung des Food Labs stammt aus dem Iran: Das Eisentor zur Garderobe etwa ist ein originales Gartentor, die immer wiederkehrende blaue Farbe soll an die kleinen Wasserbecken in iranischen Vorgärten erinnern.

Fast die gesamte Einrichtung des Food Labs stammt aus dem Iran: Das Eisentor zur Garderobe etwa ist ein originales Gartentor, die immer wiederkehrende blaue Farbe soll an die kleinen Wasserbecken in iranischen Vorgärten erinnern.
Bildquelle: Miriam Klingl

wir: 2013 wurden Sie Juniorprofessorin für Stadtklimaforschung. Womit haben Sie sich dabei befasst?

Sahar Sodoudi: Eine wichtige Frage der Stadtklimaforschung lautet: Wie sollen wir bauen, damit wir das städtische Mikroklima nicht negativ beeinflussen? Auch in Deutschland wird es heißer. In tropischen Sommernächten halten Wärmeinseln in den Straßenschluchten die Hitze fest, die Menschen schlafen schlecht, ihre Gesundheit leidet.

wir: Sie haben auch zum Tempelhofer Feld geforscht, zu Berlins größter innerstädtischer Grünfläche. Was haben Sie herausgefunden?

Sahar Sodoudi: In sommerlichen Nächten ist das Tempelhofer Feld kälter als der Tiergarten. Tagsüber spenden die vielen Bäume im Tiergarten Schatten, aber nachts staut sich darunter die Wärme. Auf dem Feld dagegen – einer riesigen Rasenfläche fast ohne Schatten – wird es tagsüber sehr heiß, aber nachts kann die Wärme ungehindert zurück in die Atmosphäre entweichen. Das Feld wirkt nachts wie ein Kühlschrank für die Stadt.

wir: In Ihrer Zeit an der Freien Universität haben Sie viele Forschungskooperationen im Nahen Osten vorangetrieben. Können Sie ein Beispiel nennen?

Sahar Sodoudi: Eins meiner Lieblingsprojekte waren die „Urban Climate Labs“. 18 davon haben wir im Nahen Osten etabliert, und ich habe den Leuten vor Ort Stadtklimamodellierung am Computer beigebracht. Die Labs gibt es heute noch – ein nachhaltiges Projekt also.

wir: Ihre akademische Biografie in Berlin wirkt sehr gradlinig: Promotion, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Juniorprofessorin für Stadtklimaforschung. 2019 aber kam der dritte Richtungswechsel. Was ist passiert?

Sahar Sodoudi: Zum einen war ich sehr frustriert. Wissenschaft in Deutschland ist immer noch eine Männerdomäne. Frauen, besonders ausländische, werden diskriminiert. Ich habe diese Erfahrung selbst mehrmals gemacht. Viele Frauen, auch deutsche Frauen, Professorinnen haben mir erzählt, dass sie viel kämpfen mussten. Nicht jede schafft das. Ich kenne diese Kultur aus meiner Heimat nicht. Klar gibt es dort ein patriarchalisches System. Aber wenn eine Frau sich bemüht, wird sie akzeptiert, Männer und Frauen begegnen sich auf Augenhöhe. Ich war es auch leid, in Berufungskommissionen zu sitzen, in denen viele von Anfang an wussten, wer die Stelle höchstwahrscheinlich bekommt. Trotzdem mussten die Stellen formal ausgeschrieben werden. Die armen Leute, die sich beworben haben! Zum anderen wollte ich immer etwas im Bereich Kultur machen. Ich habe gemerkt, ich werde älter, und irgendwann muss man anfangen. An einem Freitagabend sagte ich am Esstisch zu meiner Schwester: Jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Und Forough antwortete: Ich kündige am Montag. Sie war damals Geschäftsführerin der „Berlin Mathematical School“.

wir: Im Juni 2019 ging es dann los mit Ihrem Food Lab „Dr & Dr“. Wie fing es an?

Sahar Sodoudi: Anfangs hatten wir nur ein Instagram-Profil, aber keinen Laden. Deshalb haben wir zuerst nur Catering angeboten, die Kochkurse kamen erst später.

wir: Wo haben Sie selbst so gut kochen gelernt – und warum waren Sie sich sicher, dass das Catering funktionieren würde?

Sahar Sodoudi: Kochen habe ich von meiner Mutter und meiner Oma gelernt, und während der Exkursionen und Messungen im Rahmen der Lehrveranstaltungen an der Uni habe ich immer mit meinen Studierenden gekocht.

wir: War von Anfang an klar, dass das Essen auch die Kultur vermitteln sollte?

Sahar Sodoudi: Ja. Wir nehmen nur Catering-Aufträge an, bei denen es auch um Kulturvermittlung geht. Wenn die Leute nur satt werden wollen, lehnen wir ab. Wir wollen Ziele erreichen, nicht nur Essen verkaufen.

wir: Warum ist Ihnen die Kulturvermittlung so wichtig?

Sahar Sodoudi: Wir sind der Meinung, dass die Kultur des Nahen Ostens, insbesondere des Irans, in Deutschland falsch wiedergegeben wird. Ihre faszinierenden Feinheiten sind versteckt hinter Politik und Religion. Alle kennen den Nahostkonflikt, aber kaum jemand die Hochkultur dahinter. Wir dachten: Wenn wir – zwei Wissenschaftlerinnen – die Kultur nicht vermitteln können, wer dann? Deshalb auch in unserem Namen das „Dr & Dr“.

wir: Welche Rolle spielt das Essen in der iranischen Kultur und Gesellschaft?

Sahar Sodoudi: Im Iran passiert alles am Esstisch. Man kann am Esstisch eine Revolution planen. Das Essen dauert eine Stunde, zwei Stunden, man isst langsam, erzählt vom Tag und genießt.

wir: Wie gefällt Ihnen eigentlich die deutsche Küche?

Sahar Sodoudi: Ich sage ehrlich: Sie ist nicht so meins. Aber ich bewundere die Deutschen für das, was sie alles mit Kartoffeln machen können. Und ich finde es super, dass man in Deutschland so viele verschiedene Küchen kennenlernen kann. Auch im Iran gibt es viele internationale Restaurants, aber sie sind nicht authentisch. Fast immer leiten Iraner die Restaurants. Das liegt daran, dass das Land wenig Kontakt zu anderen Ländern hat. Niemand will dort hinziehen und leben: Was sollte er da auch, wenn die Regierung so schlecht ist?

wir: Wie sind Sie auf diesen Ort hier in Kreuzberg gekommen?

Sahar Sodoudi: Wir wollten unbedingt nach Kreuzberg, weil es so international ist. Bei der Besichtigung des Ladens erfuhren wir zufällig, dass ein iranischer Künstler die Fassade des Gebäudes gestaltet hat. Das gefiel uns natürlich noch besser.

Ob schwarzer Sesam, Kardamom oder getrocknete Minze: Es ist alles bereit fürs Kochen.

Ob schwarzer Sesam, Kardamom oder getrocknete Minze: Es ist alles bereit fürs Kochen.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

wir: Können Sie etwas zum Ambiente des Ladens erzählen?

Sahar Sodoudi: Alles stammt aus dem Iran: Kochgeschirr, Teller und Besteck. Die Fliesen sind handbemalt nach dem Muster des Golestan-Palastes in Teheran. Nur die Farben haben wir leicht verändert. Das Eisentor zur Garderobe ist ein originales Gartentor, die Holzkonstruktion über dem Kochbereich ein traditioneller „Schattenspender“. Die immer wiederkehrende blaue Farbe soll an die kleinen Wasserbecken in vielen iranischen Vorgärten erinnern, in denen Wassermelonen und Granatäpfel für Gäste lagern.

wir: Lab heißt ja, dass experimentiert wird. Womit experimentieren Sie?

Sahar Sodoudi: Ein Beispiel: Iranische Gerichte sind sehr zeitaufwändig. Wir versuchen, die Rezepte zu vereinfachen, Kochzeit zu reduzieren und in Deutschland erhältliche Lebensmittel zu verwenden, mit denen sich der gleiche Geschmack erreichen lässt. Wir schmeißen nichts weg: Gemüsereste zum Beispiel legen wir als Torshi sauer ein. Nachhaltigkeit ist Teil unseres Konzepts, und das vermitteln wir auch in unseren Kochkursen.

wir: Wer kommt ins Food Lab?

Sahar Sodoudi: Zu 90 Prozent Deutsche, 10 Prozent internationales Publikum. Wir bieten Kochkurse und -events für Gruppen, aber auch Private Dining – dann kochen wir. Jeder Kurs hat einen Namen, zum Beispiel „Teheran meets Tel Aviv“.

wir: Und was dürfen die Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer erwarten?

Sahar Sodoudi: Sie lernen viel über die iranische Esskultur – wie sie mit Safran kochen oder wie sie gestürzten Reis zubereiten. Das macht sehr viel Spaß. Das Highlight ist aber der Moment, wenn die Leute am Esstisch miteinander ins Gespräch kommen. Zu Beginn des Essens sagen wir unseren Gästen immer: Fangt langsam an, die Nacht ist lang. Iranische Musik ist immer von Anfang an dabei. Und wir sprechen über Kultur, Literatur, Kalligrafie …

wir: … auch über die aktuelle Situation im Iran? Soll man es eine Revolution nennen?

Sahar Sodoudi: Es ist eine Revolution, davon sind wir überzeugt. Forough und ich kämpfen hier, indem wir die Stimme unserer Landsleute im Iran sind. Wir vermitteln unseren Gästen, was dort passiert.

wir: Es ist ja zuletzt ein bisschen stiller geworden …

Sahar Sodoudi: Nein, ist es nicht. In Teheran etwa gehen viele Frauen inzwischen ohne Kopftuch raus. Dafür tragen die Männer jetzt Kopftuch, aus Solidarität. Reformen bringen nichts mehr. Die Leute wollen diese Regierung nicht mehr. Diese Regierung ist am Ende. In einigen Monaten wird es vorbei sein.

wir: Was machen Sie, wenn die Mullahs weg sind?

Sahar Sodoudi: Dann gehe ich sofort in den Iran zurück.

wir: Wäre das dann der vierte Richtungswechsel?

Sahar Sodoudi: Nicht ganz. „Dr & Dr“ soll es weiter geben. Wir wollen Reisen in den Iran organisieren und den Leuten Orte zeigen, die sie nicht kennen, die aber große kulturelle und kulinarische Bedeutung haben. Unabhängig von der politischen Entwicklung haben wir unsere eigene Gewürzmischung entwickelt, unser Onlineshop steht kurz vor dem Start, und wir schreiben ein Kochbuch, in dem es natürlich nicht nur ums Kochen geht. Unser Team wächst – wir sind jetzt zu neunt.

Das Interview führte Daniel Kastner