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„Es ist inzwischen eine Herzensangelegenheit“

Zum 75. Jubiläum sammelt das Team um Dr. Doris Tausendfreund mit dem Oral-History-Projekt „Erlebte Geschichte“ Video-Interviews mit Zeitzeuginnen und -zeugen, die die Geschichte der Freien Universität mitgeprägt haben – oder von ihr geprägt wurden.

30.11.2023

Dr. Doris Tausenfreund leitet das Projekt "Erlebte Geschichte"

Dr. Doris Tausenfreund leitet das Projekt "Erlebte Geschichte"
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

wir: Mehr als 75 Interviews, manche davon dauern acht Stunden und länger – haben Sie die alle gesehen?

Doris Tausendfreund: Bis auf etwa vier kenne ich tatsächlich alle – ich war bei den meisten dabei und habe einige auch selbst geführt.

wir: Wie viel Arbeit steckt in einem Interview?

Doris Tausendfreund: Eine Heidenarbeit. Mit jedem Interview sind im Schnitt neun Leute beschäftigt. Wir recherchieren vorab zur Person, führen und filmen das Interview, anschließend transkribieren wir es. Dafür nutzen wir zwar anfänglich eine automatische Spracherkennung, aber die erkennt immer wieder auch Unsinn, der dann verbessert werden muss.

Dann muss jemand das Interview erschließen, in sinnvolle Einheiten aufteilen, ein Inhaltsverzeichnis mit Kapitelüberschriften erstellen. Und dann schauen wir uns an, ob sich alles Gesagte selbst erklärt oder ob wir nochmal nachrecherchieren oder Anmerkungen schreiben müssen.

Für die Themen- und die biografischen Kurzfilme, die wir später in einer Online-Ausstellung präsentieren, müssen wir die Interviews außerdem schneiden. Das ist nicht mit einem Schnittplan auf Papier getan, man muss die Videos immer sehen und macht erst Grobschnitte, dann den Feinschnitt und danach erst das Mastering. Auch hier recherchieren wir noch, suchen Dokumente und Fotos heraus, für die wir eventuell Bildrechte einholen müssen. Für jede Stufe gibt es außerdem ein Qualitätsmanagement beziehungsweise eine begleitende Redaktion.

wir: Die Eröffnungsfrage „Erzählen Sie bitte Ihre Lebensgeschichte“ ist extrem offen – ist das gewollt?

Doris Tausendfreund: Das ist eine gängige Oral-History-Methode. Darauf folgt oft eine stundenlange freie Erzählung, ohne dass eine Zwischenfrage gestellt werden muss. Die Leute wissen ja, dass wir von der Freien Universität kommen, und erzählen deshalb von sich aus schon alles, wovon sie denken, dass es relevant ist. Toll ist, wenn sie daneben auch persönliche Dinge erzählen. Dadurch können wir sie besser erfassen und uns ein Bild davon machen, was sie motiviert, wie sie zur Freien Universität gekommen sind, was sie danach gemacht haben und warum. Das können wir später für die biografischen Filme nutzen.

Das Oral-History-Projekt ist Teamarbeit – auch beim Interview mit Alumna Dr. Kerstin Leitner, die 1975 am Otto-Suhr-Institut im Fach Politikwissenschaft promovierte.

Das Oral-History-Projekt ist Teamarbeit – auch beim Interview mit Alumna Dr. Kerstin Leitner, die 1975 am Otto-Suhr-Institut im Fach Politikwissenschaft promovierte.
Bildquelle: Erlebte Geschichte

wir: Oral History ist zwangsläufig subjektiv. Nicht immer lässt sich durch Quellen belegen, wie jemand ein Ereignis erlebt oder empfunden hat oder sich daran erinnert. Wie gehen Sie damit um?

Doris Tausendfreund: Wir gehen erst einmal davon aus, dass alles, was uns erzählt wird, richtig ist – in dem Sinne, dass es sich in die lebensgeschichtliche Sinngebung einfügt. Das gilt auch dann, wenn es nicht in jedem Punkt den Fakten entspricht.

wir: Das klingt wie ein Widerspruch.

Doris Tausendfreund: Es gibt ja einen Grund, warum sich jemand auf eine bestimmte Art an ein Ereignis erinnert. Das lässt sich meistens auch rekonstruieren.

wir: Haben Sie dafür ein Beispiel?

Doris Tausendfreund: Wenn jemand berichtet, bei einem Ereignis hätten alle geschrien, wir aber Tonaufnahmen davon haben, auf denen niemand schreit, hat das in der Oral History durchaus seine Berechtigung, denn es würde zum Ausdruck bringen, dass es eine angespannte, konfrontative, anstrengende Situation war. Das können wir dann per Kommentar einordnen.

wir: Wonach haben Sie die Interviewten ausgesucht?

Doris Tausendfreund: Zunächst haben wir versucht, Vertreterinnen und Vertreter zu allen wichtigen Phasen und Bereichen der Freien Universität zu finden. Wir mussten ja versuchen, diese riesige Universität irgendwie mit Hilfe der Interviews abzubilden, die verschiedenen Fachbereiche befragen, aber auch Zentralinstitute, Verwaltung, Studierende. Wir wollten unbedingt auch die ersten Jahrgänge interviewen, solange das noch ging, und auch möglichst alle Entscheidungsträger: Präsidenten, Kanzler. Denn deren Perspektive ist sehr wichtig und nicht austauschbar. Wir wollten aber nicht nur Professoren haben, sondern auch andere für die Universität wichtige Personen zu Wort kommen lassen – Hausmeister zum Beispiel.

wir: Ein Hausmeister ist aber nicht unter den Interviewten, oder?

Doris Tausendfreund: Leider nein. Wobei ich glaube, dass ein Hausmeister durchaus einen interessanten Blick auf Ereignisse hätte und sicherlich viel berichten könnte. Nicht-lehrende Personen, die wir durchaus angefragt haben, waren jedoch bisher eher zurückhaltend und lehnten oft ab.

wir: Was meinen Sie, woran das liegt?

Doris Tausendfreund: Vor der Kamera zu sprechen ist schwierig, das darf man nicht unterschätzen. Professoren dagegen sind oft dankbare Gesprächspartner und geübte Redner. Manche fragen vorher: Wie lange soll ich reden? Dann einigt man sich auf zwei Stunden mit anschließenden Nachfragen – und dann schauen sie nach zwei Stunden auf die Uhr und legen eine Punktlandung hin. Das ist geradezu unheimlich.

wir: Es gibt auch einen deutlichen Männerüberhang unter den Interviewten – woran liegt das?

Doris Tausendfreund: Natürlich haben wir uns um Ausgewogenheit zwischen Männern und Frauen bemüht. Das ging aber nicht. Es gab in der Geschichte der Freien Universität viel mehr Professoren als Professorinnen – so wie überall in Westdeutschland. Lange gab es auch weniger Studentinnen als Studenten, was sich dann wiederum in der Interviewauswahl niederschlägt. Das können wir nicht ändern.

„Ich war wirklich die erste Frau in deutschen Grabungen“, erinnert sich Dr. Eva- Strommenger-Nagel – das Foto oben zeigt sie bei einer Exkusion (1956). Sie war auch eine der ersten Studentinnen der Vorderasiatischen Altertumskunde.

„Ich war wirklich die erste Frau in deutschen Grabungen“, erinnert sich Dr. Eva- Strommenger-Nagel – das Foto oben zeigt sie bei einer Exkusion (1956). Sie war auch eine der ersten Studentinnen der Vorderasiatischen Altertumskunde.

wir: Haben Sie auch Unterschiede bemerkt, wie Männer und Frauen auf ihre jeweilige Lebensleistung blicken?

Doris Tausendfreund: Frauen stellen ihre Leistungen oft als Teamleistung dar. Eine Interviewte etwa hat sich nach dem Gespräch mehrmals vergewissert, ob denn auch klargeworden sei, dass sie etwas nicht allein gemacht habe. Männer dagegen haben überhaupt kein Problem mit der Aussage: Ja, das habe ich gemacht. Frauen haben oft auch erstmal das Gefühl, ein Interview könnte etwas Problematisches sein. Dabei ist unsere Intention ja genau das Gegenteil: Wir wollen sie würdigen und sichtbar machen für das, was sie geschafft haben.

wir: Sollten die Interviewten auch bestimmte Epochen, Meilensteine repräsentieren?

Doris Tausendfreund: Klar, wir haben immer geschaut, was für die Freie Universität einschneidend war und wer dabei eine Rolle gespielt hat – und dann versucht, diese Leute zu finden. Zum Beispiel zu den Studentenunruhen, zum Fall der Mauer mit der daraus resultierenden Sparpolitik und der Angst, dass die Universität geschlossen werden muss. Oder zur Exzellenzinitiative. Oder zur Fluchthilfe aus der DDR. Dazu haben wir beispielsweise ein Interview mit dem damaligen Fluchthelfer und Medizinstudenten Burkhart Veigel geführt.

wir: Was sind die zwei, drei spannendsten, bewegendsten Anekdoten aus Ihrer Sicht?

Doris Tausendfreund: Oh, das ist wirklich schwer zu sagen. Beeindruckt hat mich zum Beispiel Eva Strommenger-Nagel, eine tolle Frau, im ersten Semester immatrikuliert – und dann auch noch in einem so exotischen Fach wie Vorderasiatische Altertumskunde. Es ist spannend, wie sie sich durchgekämpft hat, was von ihr erwartet wurde und was sie tatsächlich getan hat.

Oder der legendäre Professor für Religionswissenschaft Klaus Heinrich, eine ganz wichtige Persönlichkeit an der Freien Universität, der 2020 leider verstorben ist. Er schilderte im Interview, wie er als Junge mit jüdischen Wurzeln durch die NS-Zeit gekommen ist. Manche der Interviewten sind auch brillante Erzähler. Der Veterinärmediziner Christian Laiblin zum Beispiel, ehemaliger Akademischer Oberrat an der Klauentierklinik und später Verwaltungsleiter des Fachbereichs Veterinärmedizin der Freien Universität. Sehr direkt, berlinerisch, auch sehr witzig, wenn er etwa erzählt, wie er in die Ställe gerufen wurde, weil die Kühe sich komisch benahmen – es stellte sich heraus, dass sie betrunken waren. Ich finde es immer wieder auch faszinierend, mit wie viel Herzblut die Leute ihre Funktion an der Freien Universität ausgefüllt oder ihr Leben dort verbracht haben.

wir: Sie haben auch Menschen interviewt, die über die Freie Universität hinaus bekannt sind: Gesine Schwan, Eberhard Diepgen, Walter Momper, Edzard Reuter. Wie waren die Interviews mit denen?

Doris Tausendfreund: Politiker sind schwierig zu greifen. Wenn Herr Diepgen etwa über John F. Kennedy spricht, dann gibt er politische Statements ab – das ist aber eigentlich nicht das, worauf wir hinauswollten. Deshalb finde ich andere Interviews tatsächlich interessanter.

wir: Wie haben Sie die Interviewpartnerinnen- und partner gefunden?

Doris Tausendfreund: Ein Weg führte über das Alumni-Büro, aber von dort bekomme ich aus datenschutzrechtlichen Gründen keine Anschriften. Ich schreibe also einen Brief, der weitergeleitet wird. Leider bekomme ich manchmal erst nach sehr langer Zeit eine Antwort. Manchmal gar keine. Oder ich schaue im Telefonbuch nach oder rufe in den Abteilungen an, in denen die Leute eine Position bekleidet haben. Es hat etwas von Detektivarbeit. Manche Leute auf meiner Liste habe ich bis heute nicht erreicht.

wir: Wie alt war der älteste, wie alt der jüngste Teilnehmer?

Doris Tausendfreund: Der älteste war 100 Jahre alt und konnte uns noch über seine Motivation berichten, zur gerade neu gegründeten Freien Universität zu wechseln. Die jüngsten hatten zum Zeitpunkt des Interviews vielleicht noch etwa fünf Jahre an der Freien Universität vor sich.

wir: Einige der Interviewten sind inzwischen verstorben. Hatten Sie auch eine gewisse Eile, um mit den Zeitzeugen zu sprechen?

Doris Tausendfreund: Klar, gerade mit den Gründungssemestern, Eva Strommenger-Nagel, Karol Kubicki oder Klaus Heinrich. Manchmal ist es aber auch zu Lebzeiten schon zu spät. Deshalb ist es meiner Erfahrung nach total wichtig, den richtigen Zeitpunkt abzupassen.

wir: Wann ist der richtige Zeitpunkt?

Doris Tausendfreund: Meiner Erfahrung nach etwa fünf Jahre nach dem Ausscheiden. Wenn die Interviewten einerseits nicht mehr so nah dran sind, dass sie denken, sie dürften diesen Namen nicht nennen oder jenes nicht erzählen – und andererseits auch noch nicht zu weit weg. Denn dann kann es passieren, dass ihnen vieles schon irgendwie egal ist. Dann erinnern sie sich unklar, und es wird ein bisschen verworren.

wir: Wo wurden die Videos aufgenommen – bei den Leuten zu Hause oder in einem Studio?

Doris Tausendfreund: Wir schlagen immer vor, dass wir zu den Leuten nach Hause oder ins Büro kommen. Wir wollen ihnen keine Umstände machen und denken, es ist gerade für ältere Menschen einfacher, wenn sie nicht irgendwo hinfahren müssen. Das ist immer ganz schön, um auch einen Eindruck vom Lebensumfeld zu kriegen. Manche hatten auch noch interessante Gegenstände – zum Beispiel ein Fotoalbum, einen Nussknacker oder eine Weinflasche mit einem individuell entworfenen Etikett.

Manche kommen aber lieber zu uns in den Henry-Ford-Bau, und wenn sie das möchten, holen wir sie auch ab und bringen sie wieder zurück.

wir: Wie lange lief das Projekt?

Doris Tausendfreund: Die Idee dazu hatte ich schon früh – und nach einer Pilotphase nahm mich mein heutiger Chef, Bibliotheksdirektor Andreas Brandtner, mit zum Präsidium. Da hatte ich schon ein paar Interviews gemacht, auf die ich verweisen konnte. So bekam ich dann 2019 das Go.

wir: Geplant waren 75 Interviews …

Doris Tausendfreund: … tatsächlich haben wir schon 82 geführt. Wir sind darüber ein bisschen fanatisch geworden, denn es ist für uns inzwischen eine Herzensangelegenheit. Wir haben jetzt noch die Chance, und wir wollen sie nutzen. Alles, was wir jetzt noch sammeln, kann nicht mehr verloren gehen.

wir: Wo sehen Sie noch Lücken?

Doris Tausendfreund: Ein paar Fächer und Fachbereiche sind relativ gut abgedeckt, etwa die Veterinärmedizin oder die Meteorologie. Andere fehlen uns noch vollständig – gerade die kleinen Fächer werden meiner Meinung nach noch nicht richtig abgebildet. Und auch bei den noch fehlenden Hierarchieebenen würde ich gern nochmal nachsetzen.

Für den Start des Portals haben wir aber Mut zur Lücke, denn ich habe noch keine andere Organisation gesehen, die irgendwas Vergleichbares hat. Und ich finde, dass unser Projekt unbedingt weitergehen muss, denn es ist einer so jungen, aber schon so geschichtsträchtigen Institution wie der Freien Universität angemessen.

Das Interview führte Daniel Kastner.


Weitere Informationen

Das Oral-History-Projekt „Erlebte Geschichte“

Das Team um Doris Tausendfreund hat mehr als 75 Video-Interviews geführt und aufbereitet – mit Professorinnen, Präsidenten, Kanzlern, Studierenden und anderen Zeitzeuginnen und -zeugen, die mit der Freien Universität besonders verbunden sind.

Das daraus entstandene Portal „Erlebte Geschichte“ geht zum 75. Jubiläum der Freien Universität online. Es lässt sich auf zwei Weisen nutzen. Eine öffentlich zugängliche Online-Ausstellung bietet biografische Kurzfilme und Themenfilme zu Ereignissen aus der Geschichte der Freien Universität. In einem Online-Archiv stehen die ungeschnittenen Interviews in voller Länge – mit durchsuchbaren Transkripten, navigierbaren Inhaltsverzeichnissen und einem Register mit Erläuterungen. Wer sie sehen will, muss sich mit seinem Forschungsanliegen registrieren.