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Spuren der Universität

Umbrüche und Kontinuitäten von 1948 bis heute

30.11.2023

Zeit für einen studentischen Plausch vor der Boltzmannstraße 3. Im ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie finden die ersten Vorlesungen der Freien Universität statt.

Zeit für einen studentischen Plausch vor der Boltzmannstraße 3. Im ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie finden die ersten Vorlesungen der Freien Universität statt.
Bildquelle: Henry Ries / Universitätsarchiv / Freie Universität Berlin

Ist es denkbar, dass die Freie Universität 1948 nicht gegründet worden wäre? Dazu hätten die Berliner und die deutsche Geschichte, mit denen diese Hochschule stets so eng verknüpft war, anders verlaufen müssen. Die Humboldt-Universität hieße noch Friedrich-Wilhelms-Universität, so wie die einer vormaligen Residenzstadt im Rheinland, die 1949 nicht zu westdeutschen Hauptstadtehren gekommen wäre. Ihr Standort Unter den Linden wäre längst aus allen Nähten geplatzt. Aber bevor jemand an eine Dependance in Adlershof gedacht hätte, wäre Dahlem entdeckt worden. Denn schon Friedrich Althoff, dem energischen und einflussreichen Wissenschaftsplaner des späten Kaiserreichs, hatte dort ein deutsches Oxford vorgeschwebt, auf dem weiten Areal der damaligen Domäne, also des preußischen Staatsgutes. Die Ansiedlung von Forschungsinstituten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft kurz vor dem Ersten Weltkrieg bereitete den Boden für eine Ausweitung des akademischen Campus im Südwesten der Stadt. Man hätte in Dahlem das Obstbaugelände zwischen Habelschwerdter Allee und Fabeckstraße entdeckt und dort naturwissenschaftliche Institute angesiedelt. Der Kreis schließt sich, bloß dass die „Rostlaube“ heute Physiker statt Romanisten beherbergen würde.

Der Professor für Neurologie Dr. Karol S. Kubicki (links, mit Ehefrau Petra, im Jahr 2016 aufgenommen) war die Matrikelnummer 1 der Freien Universität.

Der Professor für Neurologie Dr. Karol S. Kubicki (links, mit Ehefrau Petra, im Jahr 2016 aufgenommen) war die Matrikelnummer 1 der Freien Universität.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Dahlem wird ein Teil Berlins

Oder wiederum anders: Nach dem Ersten Weltkrieg entstand 1920 die Einheitsgemeinde „Groß-Berlin“, nach heftigem politischen Streit. Die Kernstadt Berlin war seit der Reichsgründung auf zwei Millionen Einwohner gewachsen, die auf dichtestem Raum in den heutigen Innenstadtbezirken lebten; noch einmal zwei Millionen waren es in den umgebenden Großstädten wie Charlottenburg, Schöneberg und Lichtenberg und in dem noch lockerer gewebten Kranz von Landgemeinden bis weit ins damalige Umland, zu dem auch Dahlem, Zehlendorf und Lichterfelde gehörten. Wären die Grenzen der Stadterweiterung damals enger gezogen worden, wäre Dahlem außerhalb Berlins geblieben und hätte 1945 nicht einem amerikanischen Sektor zufallen können. Was wäre gewesen, wenn? Diese Frage führt nicht nur in reizvolle oder auch abwegige Gedankenspiele; sie verweist auf die Offenheit der Geschichte in Umbruchsituationen. Man spricht von „Kontingenz“ als dem Gegenteil von Notwendigkeit oder Determinismus. Solche Kontingenzen haben die Geschichte der Freien Universität besonders in ihrer Gründungskonstellation und Anfangsphase stark geprägt. Dagegen steht wiederum: Die einmal getroffenen Entscheidungen gaben eine Richtung vor, so wie ein Fluss, der sich nach einem Erdrutsch ein neues Bett gesucht hat, diesem folgt. Diese „Pfadabhängigkeit“, wie man in der Ökonomie, aber zunehmend auch in der Geschichtswissenschaft sagt, macht sich in der Entwicklung der Freien Universität bis heute geltend. Einmal Dahlem, immer Dahlem: Grünflächen, Villen, Forschungsinstitute und Museen, der Botanische Garten, all das eingewoben in ein lockeres Campusband. Mit der Wiedervereinigung der geteilten Stadt, dem Abzug der Alliierten und der Aufwertung des historischen Zentrums ist der Südwesten, ist der Standort der Freien Universität sogar wieder stärker an den Rand gerückt.

Nochmals „was wäre, wenn“: Die Reichshauptstadt Berlin lag, nach nationalsozialistischer Diktatur und massenmörderischem Krieg, in Schutt und Asche, aufgeteilt unter den vier Besatzungsmächten. Von 1989 aus gesehen, wären die sowjetischen Stalinisten besser beraten gewesen, ihren mitteleuropäischen Satellitenkordon weniger hart an die Kandare zu nehmen. Also keine Stalinisierung der Linden-Universität. Kein Ende der Freiheit von Wissenschaft dort, keine gemaßregelten Studentinnen und Studenten – kein Auszug nach Dahlem. Immerhin gab es in der materiellen Not der ersten Nachkriegsjahre Wichtigeres zu tun, als unter schwierigsten Umständen ein Universitätsprovisorium zu errichten, dem in den ersten Monaten alles fehlte außer dem entschiedenen Willen weniger Menschen, dieses unwahrscheinliche Projekt Realität werden zu lassen.

Obwohl die deutschen Universitäten sich in der NS-Zeit nicht gerade mit Ruhm bekleckert, vielmehr durch zahllose ihrer führenden Gelehrten das neue Regime begrüßt und seine Ziele tatkräftig unterstützt hatten, gab es in der Nachkriegszeit im Westen kaum eine institutionelle Zäsur. Neugründungen im demokratischen Geist wie die Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft in Wilhelmshaven blieben marginal. Die Wiedererrichtung von Mainz und die Neugründung in Saarbrücken verdankten sich eher dem regionalpolitischen Kalkül Frankreichs. Im Westen Berlins, in Schöneberg, wurde immerhin 1948 die Deutsche Hochschule für Politik wiedergegründet. Längere sowjetische Zügel in Ost-Berlin und Unter den Linden hätten die Entfremdung womöglich verzögert, die Neugründung im amerikanischen Sektor vermieden – und stattdessen später zu einem stärkeren Ausbau der Technischen Universität in Charlottenburg geführt, die 1950 im demokratiepädagogischen Bestreben um eine humanwissenschaftliche Fakultät erweitert worden war. Und dann wäre es wieder losgegangen: Überfüllung, räumliche Enge, ein zweiter Standort mit Instituten in Dahlem ...

Am 26. Juni 1963 hielt US-Präsident John F. Kennedy seine viel beachtete Rede vordem Henry-Ford-Bau – Weltbürger solle die Freie Universität hervorbringen, die ihre Kraft in den Dienst der Freiheit stellen.

Am 26. Juni 1963 hielt US-Präsident John F. Kennedy seine viel beachtete Rede vordem Henry-Ford-Bau – Weltbürger solle die Freie Universität hervorbringen, die ihre Kraft in den Dienst der Freiheit stellen.
Bildquelle: Reinhard Friedrich/Universitätsarchiv Freie Universität

Keimzelle der Universität

Nun aber entstand dort eine Universität, die zunächst in nur zwei Häusern in der Boltzmannstraße zu funktionieren versuchte, ergänzt durch andere, provisorische Standorte, nicht zuletzt für die medizinischen Fächer, weit verstreut über die drei westlichen Sektoren. Das Projekt profitierte von der Erbmasse der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und ihrer naturwissenschaftlichen Institute, denn die Neugründung als Max-Planck-Gesellschaft im gleichen Jahr 1948 verlagerte deren bisherigen Schwerpunkt nach Göttingen. Dass man der Freien Universität damit nicht nur ein glorreiches, sondern auch ein schwieriges, ja ein verbrecherisches Erbe übereignete, wurde ihr selber erst viel später bewusst: vor allem in der Aufarbeitung der Menschenexperimente im 1927 gegründeten Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in der Ihnestraße 22, wo 2024 offiziell ein Gedenkort eingeweiht werden wird.

Auch jenseits der KWI-Erbmasse fehlte es im Prinzip nicht an Raum und an Gebäuden. Die Freie Universität fand Behausung in einem ehemaligen Astronomischen Rechen-Institut (Altensteinstraße 40, von 1973 bis 1994 Sitz des Präsidenten) ebenso wie in einem bisherigen Entomologischen Museum (Goßlerstraße 20). Und nicht zuletzt: Zahllose Villen im bürgerlichen Dahlem standen leer. Die Verwaltung der Freien Universität, ihr „Kurator“, wie es damals hieß, konnte sich vor Angeboten von Eigentümern und Maklern kaum retten. Manchmal wurde man, mit Kauf oder Miete, handelseinig, und bald hatte sich der charmante Streucampus einer Villenuniversität herausgebildet, der den Charakter dieser Hochschule bis weit ins neue Jahrtausend prägte und zum Teil immer noch prägt. Kaum zieht ein Institut in einen viel praktischeren Neubau um, wie in die 2015 fertiggestellte „Holzlaube“ als vorerst letzten Bauabschnitt des „Großvorhabens Obstbaugelände“, steht ein Exzellenzcluster oder eine Forschungsgruppe als Nachnutzer bereit. Die Villa ist vom Notbehelf zum Distinktionsmerkmal geworden. Als richtige Universität fühlte man sich dennoch erst, als Mitte der 1950er-Jahre der Henry-Ford-Bau und die angrenzende Bibliothek ein neues Hauptgebäude schufen, einen Ankerplatz für die makeshift university der frühen Jahre. Die Freie Universität trat in eine erste Phase der Normalisierung ein. Hier würde man, das war bald klar, nicht mehr weggehen. Eine Denkschrift für den Berliner Senat prognostizierte 1954 selbstbewusst, „dass auch nach Aufhebung der Sektorengrenzen und nach der Wiedervereinigung der örtliche Schwerpunkt der Berliner Universität in Dahlem liegt“.

Die Studentenbewegung wurde maßgeblich von Rudi Dutschke geprägt. Das auf ihn verübte Attentat führte zu einer Radikalisierung des Protests und markierte gleichzeitig den Anfang vom Ende der Studentenbewegung.

Die Studentenbewegung wurde maßgeblich von Rudi Dutschke geprägt. Das auf ihn verübte Attentat führte zu einer Radikalisierung des Protests und markierte gleichzeitig den Anfang vom Ende der Studentenbewegung.
Bildquelle: Bundesstiftung Aufarbeitung / Klaus Mehner

West-Berlin wird abgeriegelt

Die totale Abriegelung der westlichen Halbstadt durch den Mauerbau am 13. August 1961 ließ dieses Ziel in weite Ferne rücken. Im Osten leben, in Dahlem studieren – das ging plötzlich nicht mehr. Der Anspruch, eine freie Universität für ganz Berlin zu sein, war dahin. Der amerikanische Präsident John F. Kennedy munterte die eingemauerten West-Berliner bei seinem Besuch am 26. Juni 1963 auf und sprach am Nachmittag vor dem Henry-Ford-Bau. Wie schon bei ihrer Gründung im Jahre 1948 erschien die Freie Universität erneut als eine politische Universität, als eine Institution, die über ihre engere Zweckbestimmung für Lehre und Forschung hinauswies. Als Universität in der Frontstadt des Kalten Krieges konnte sie den politischen Ansprüchen nicht ausweichen. Ihnen verdankte sie ihre Existenz; sie profitierte immer wieder davon; sie machte das Politische zu ihrem Markenkern und Selbstverständnis – und tat sich mit der politischen Inanspruchnahme und Funktionalisierung doch schwer.

Nur zwei Jahre nach dem Kennedy-Besuch begannen im Sommersemester 1965 die Proteste der Studentenbewegung, die für die Bundesrepublik in West-Berlin und an der Freien Universität ihren Ausgangspunkt hatten und hier ihre wohl intensivste und radikalste Ausprägung fanden. Das Verlangen nach einer grundlegenden Reform der Hochschulen, nach ihrer inneren Demokratisierung, nach stärkerer Teilhabe der Studierenden und dem Ende der Ordinarienmacht (die anderswo viel ausgeprägter war) verknüpfte sich auf eine bis heute kaum zu entwirrende Weise mit den allgemeinpolitischen Fragen, die wiederum nirgends so greifbar waren wie in West-Berlin, dem Schaufenster und militärischen Vorposten des Westens. Die Achse des Protests verlief in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre immer wieder zwischen der Garystraße in Dahlem und der Hardenbergstraße in Charlottenburg, zwischen Freier Universität und Technischer Universität, aber eben auch dem Amerikahaus nahe dem Bahnhof Zoo. Sie erstreckte sich von den Kasernen in Lichterfelde und an der Clayallee bis zum Kurfürstendamm, von der amerikanischen Militärpräsenz bis zu den Konsumvitrinen, und damit vom Vietnamkrieg bis zur Kapitalismuskritik. Kann man sich die Freie Universität ohne ihren ersten großen Umbruch nach der krisenhaften Gründung, ohne 1968 vorstellen? Viele westdeutsche Universitäten erfasste der Studentenprotest erst viel später, nicht selten sogar nach dem kalendarischen 1968. Aus West-Berlin lässt er sich nicht wegdenken. Die Studierenden waren selbstbewusster und von vornherein politischer als anderswo – es war ihre Universität, die sie auch an ihren eigenen Ansprüchen maßen, nicht eine Universität der Ordinarien und schon gar nicht der Burschenschaften, denn das Farbentragen war in Dahlem von Anfang an verpönt und später verboten. Die Nahtstelle von Ost und West war nicht nur große Politik, sondern persönliche Lebenserfahrung wie bei dem bis heute wohl berühmtesten Studenten der Freien Universität, dem in der DDR aufgewachsenen Rudi Dutschke. Die Geschichte der Universität und der großen politischen und sozialen Bewegungen der Zeit verflochten sich 1967/68 so eng wie später nie mehr. Die Freie Universität erfuhr nicht nur die Folgen historischer Prozesse, sondern schrieb selber Geschichte. Vieles verdichtete sich in weniger als zwölf Monaten: die Erschießung von Benno Ohnesorg, Student der Romanistik und Geschichte, am 2. Juni 1967 vor der Deutschen Oper, der Auftritt Herbert Marcuses im Auditorium Maximum im Juli, die Gründung der „Kritischen Universität“ zu Beginn des Wintersemesters 1967/68 – bis hin zum Attentat auf Dutschke am 11. April 1968 und zu den dadurch ausgelösten Osterunruhen.

Chiffre 1968

Das zur Chiffre geronnene Jahr 1968 markiert, so wird heute oft gesagt, nicht den Anfang, sondern das Ende der Proteste. Das ist richtig und falsch zugleich. Richtig gewiss für die Freie Universität im Blick auf ihre „heiße Phase“ in den drei Jahren vor dem Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April 1968; richtig im Blick auf die neue Konstellation von 1969, mit der Wahl Walter Scheels zum Bundespräsidenten und dem Beginn der sozialliberalen Koalition unter Führung Willy Brandts, des langjährigen Regierenden Bürgermeisters von Berlin, im Dezember. Aber auch falsch, denn in Dahlem markierte 1968 kein Ende, sondern eher den Start für eine noch stärkere Aufheizung im Binnenraum der Universität. Erst jetzt erfasste der Protest zahlreiche bis dahin ruhig gebliebene Institute und Seminare wie das der Historiker. Zugleich radikalisierte sich eine lautstarke Minderheit im marxistischrevolutionären Sinne, und gewiss mit einer Neigung zur politischen Theatralik, zur sprachlichen und gestischen Grenzüberschreitung. Genussvoll-obszön agierten sie etwa als „RotzRom“ – Rote Zelle Romanistik – und provozierten ihre professoralen Gegner, darunter Verfolgte des Nationalsozialismus und jüdische Remigranten wie den Politologen Ernst Fraenkel, der sich an das Auftreten völkischer Studenten um 1933 erinnert fühlte. Die zweite Phase von „1968“, diejenige, die 1968/69 erst begann, spaltete die Freie Universität tief in zwei feindliche Lager. Manchmal institutionalisierte sie den Graben sogar, um vordergründig zu befrieden, etwa mit der Teilung des Psychologischen Instituts in ein konventionelles, „bürgerliches“ und eines der „kritischen“, der marxistischen Psychologie unter der Führung von Klaus Holzkamp. Erst 1994 wurde das gespaltene Institut wieder zusammengeführt.

Die Philosophin Prof. Dr. Margherita von Brentano prägte die Freie Universität durch ihre Lehre und ihr Engagement. 1970 wurde sie als erste Frau Vizepräsidentin.

Die Philosophin Prof. Dr. Margherita von Brentano prägte die Freie Universität durch ihre Lehre und ihr Engagement. 1970 wurde sie als erste Frau Vizepräsidentin.
Bildquelle: Piu Lieck

Politisch zerklüftete Jahre

Die politisch zerklüfteten Jahre waren auch die hohe Zeit bemerkenswerter Gelehrter. Der Religionswissenschaftler Klaus Heinrich, bereits Gründungsstudent von 1948, zog ein großes, vielfältiges, waches Publikum in seine Vorlesungen. 1966 kam der Judaist Jacob Taubes an die Freie Universität. Der Literaturwissenschaftler Peter Szondi holte bis zu seinem frühen Tod im Oktober 1971 die globale intellektuelle Avantgarde nach Dahlem; wie Fraenkel und Taubes steht er für die Gelehrten jüdischer Herkunft und Prägung, die die Dahlemer Universität tief beeinflusst haben. Und früher als anderswo mischten sich Frauen in diese Männerdomäne wie die Philosophin Margherita von Brentano, die 1970 als erste Frau Vizepräsidentin wurde. Viele von ihnen standen politisch eher links, doch in der Generation derer, die in den 1920er-Jahren geboren waren, fällt zuerst ihre intellektuelle Unabhängigkeit und Originalität auf, die sich auf individuell sehr unterschiedliche Weise in einen politischen Impetus wendete. In den 1970er-Jahren machte sich dann, vor allem in den Sozialwissenschaften, eine jüngere, von der Neuen Linken und dem Erlebnis von „1968“ geprägte Generation geltend, mit unorthodoxen Varianten des Marxismus wie bei Wolfgang Fritz Haug oder Elmar Altvater.

In anderer Hinsicht jedoch geriet die Freie Universität in den 1970er-Jahren in schwieriges Fahrwasser, und später in bleierne Zeiten. Eine rasante Expansion der Studierendenzahlen überlagerte die noch nicht überwundenen Folgen vordergründiger Politisierung und tiefer innerer Zerklüftung. Und ehe es eine Chance gab, nach der Zerstörung traditioneller Bilder und der Formenzertrümmerung von 1968 neue, zeitgemäße Formen universitärer Gemeinschaft zu finden, forderten Bildungsexpansion und Massenuniversität die alten Strukturen ein zweites Mal heraus. Die 1973 im ersten Bauabschnitt eröffnete „Rostlaube“ wurde schnell zum Symbol dieser neuen Zustände: unübersichtlich trotz der klaren Gliederung in rechtwinklige Straßenzüge, teilweise dysfunktional trotz des funktionalistischen Anspruchs; reichlich mit Planungs- und Baufehlern versehen und bald so verwahrlost, dass Professoren klagten, die Toiletten ließen „mitteleuropäischen Kulturstandard“ vermissen.

Im Wintersemester 1988/89 zeigten die Studierenden der Freien Universität in einem langen Streik ihren „UNiMUT“. Das war zugleich ein letztes Aufflackern konstruktiven studentischen Engagements.

Im Wintersemester 1988/89 zeigten die Studierenden der Freien Universität in einem langen Streik ihren „UNiMUT“. Das war zugleich ein letztes Aufflackern konstruktiven studentischen Engagements.
Bildquelle: Zenit Bildagentur / Paul Langrock

Massenuniversität

Auf 50.000 und mehr Studierende einschließlich der 1980 integrierten Pädagogischen Hochschule mit ihrem Campus in Lankwitz war niemand vorbereitet. Die finanzielle und personelle Ausstattung hielt damit bei weitem nicht Schritt. Das allerdings war keine West-Berliner Besonderheit in einer Zeit, die in der bundesdeutschen Bildungspolitik zynische Konzepte wie die „Untertunnelung des Studentenberges“ hervorbrachte. Im Wintersemester 1988/89 zeigten die Studierenden der Freien Universität in einem langen Streik ihren „UNiMUT“, so das damalige Protestmotto. Das war zugleich ein letztes Aufflackern konstruktiven studentischen Engagements, das sich seitdem kaum noch wirksam organisieren und artikulieren konnte – eingeklemmt zwischen Selbstmarginalisierung in hermetischen ultralinken Milieus einerseits, den sich allmählich abzeichnenden Imperativen einer neuen, funktionalen und „neoliberalen“ Steuerung der Hochschulen andererseits.

Die Freie Universität muss in großem Umfang Studienplätze abbauen. Von Dezember 1997 bis Januar 1998 finden deshalb an allen Berliner Universitäten Proteste statt (im Bild: der damalige Universitätspräsident Prof. Dr. Johann Wilhelm Gerlach).

Die Freie Universität muss in großem Umfang Studienplätze abbauen. Von Dezember 1997 bis Januar 1998 finden deshalb an allen Berliner Universitäten Proteste statt (im Bild: der damalige Universitätspräsident Prof. Dr. Johann Wilhelm Gerlach).

Die Berliner Mauer fällt

Nur wenige Monate später fiel die Mauer. Berlin war wieder eine Stadt – mit zwei Universitäten, die gegeneinander um den Führungsanspruch rangen und um knappe Ressourcen konkurrierten. Die jahrzehntelang im Stillen gehegte Erwartung, dass die Dahlemer Universität von der Wiedervereinigung unter dem Vorzeichen eines gescheiterten SED-Regimes symbolisch und politisch nur profitieren könne, erfüllte sich indes nicht. Der Umbau und die symbolträchtige Aufwertung der Humboldt- Universität erhielten im Land Berlin, sogar in der nationalen Wissenschaftspolitik, für mehr als zehn Jahre den Vorrang. Viele Fäden drehten sich zu diesem Strang zusammen: der Wunsch, die historische Mitte Berlins wieder strahlen zu lassen, noch bevor die Hauptstadtentscheidung gefallen war; der Reiz eines radikalen Neuanfangs Unter den Linden, der in den ebenso rasanten wie teuren und effektiven Totalumbau prestigereicher Fächer wie der Geschichtswissenschaft führte; die mangelnde Fähigkeit einer angeschlagenen Freien Universität, ihren Führungsanspruch in dieser Situation selbstbewusst zu vertreten. Politisch saß die West-Universität zwischen allen Stühlen: Wer den Systemsieg des Westens auskosten wollte, konzentrierte sich auf die Abwicklung der marxistisch-leninistischen Universität; wer sich dem Wessi-Triumph entgegenstellte, konnte erst recht nicht auf Dahlem setzen. Ohne die Wiedervereinigung hätte der Tanker Freie Universität seine 1980er-Jahre-Fahrt fortgesetzt, mit ungewissem Ausgang. Mit ihr geriet er in schwere See und lief beinahe auf Grund.

Die Vereinigungskrise markierte jedenfalls eine tiefe Zäsur – die zweite in der Geschichte der Universität. Unter den Vorzeichen der allgemeinen Haushaltslage und der Präferenz für die Universität in Mitte musste die Freie Universität immer neue Sparauflagen erfüllen – und schrumpfen: Aus mehr als 60.000 Studierenden wurden innerhalb eines guten Jahrzehnts 40.000, und wenig später pendelte sich diese Ziffer zwischen 30.000 und 35.000 ein, da liegt sie bis heute. Gravierender und folgenreich für die wissenschaftliche Substanz und die Fächerstruktur war eine Halbierung der etatmäßigen Professuren: von mehr als 700 auf schließlich nur noch gut 350. Mit Mühen gelang es, das weite Spektrum einer Volluniversität zu bewahren, aber Wunden wurden geschlagen, und Narben blieben. Mit der Evangelischen Theologie ging ein wichtiges geisteswissenschaftliches Fach verloren; von der Soziologie überlebte nur ein Restbestand. Den drohenden K.-o.-Schlag in der Humanmedizin konnten heftige Proteste gegen die Umwandlung des Klinikums Benjamin Franklin in ein städtisches Krankenhaus 2002 gerade noch abwenden.

Aber Sieger nach Punkten war zunächst die Konkurrentin, der es gelang, den geschichts- und prestigeträchtigen Namen ihrer Klinik für die 2003 errichtete gemeinsame Universitätsmedizin beider Universitäten durchzusetzen: „Charité“. Der gleiche Labelling-Coup glückte ein zweites Mal, als die Rekonstruktion des Stadtschlosses als Museumsstandort und nationaler Kulturpalast „Humboldt Forum“ getauft wurde, während sich die in den Campus der Freien Universität verwobenen Dahlemer Museen zu einem großen Teil und kompensations­los auf den Rückweg nach Mitte machten. Unter diesen äußeren Umständen musste man es damals schon als Erfolg bewerten, dass die Freie Universität am Beginn des neuen Jahrtausends ihre institutionelle Existenz verteidigt hatte, statt zu einem Zweitcampus der Humboldt-Universität zu werden, oder auf den Status einer armen Landesuniversität abzurutschen, während die Schwester in Mitte, wie das manche Politiker eine Zeitlang kraftvoll betrieben, als Bundesuniversität besondere Privilegien und Förderung genossen hätte.

In den ersten Runden der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder in den Jahren 2006 und 2007 konnte die Freie Universität erfolgreich abschneiden und den Status einer Exzellenzuniversität erlangen.

In den ersten Runden der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder in den Jahren 2006 und 2007 konnte die Freie Universität erfolgreich abschneiden und den Status einer Exzellenzuniversität erlangen.
Bildquelle: Chrisitan Kielmann

Die Universität besinnt sich auf ihre Stärken

Die verordnete Schrumpfkur und der existenzielle Konkurrenzdruck entfalteten aber auch eine reinigende Wirkung und neue Kräfte der Selbstmotivierung. Die bleiernen Zeiten der 1980er-Jahre waren vorbei; manche Nischen der Bequemlichkeit, die zum Milieu dieser Universität wie West-Berlins im Ganzen gehört hatten, lösten sich unter diesem Druck auf. Die Freie Universität besann sich auf ihre Stärken: in den Geistes- und Kulturwissenschaften oder den außereuropäischen „Area Studies“ ebenso wie in der internationalen Verflechtung und der Gleichstellung von Frauen. Darin zeigte sich Kontinuität zu den schwierigen 1970er- und 1980er-Jahren, aber auch die Fähigkeit zum Neubeginn, indem solche Stärken seit den späten 1990er-Jahren verblüffend erfolgreich in den Dienst einer neuen, effizienzorientierten Leitung der Universität gestellt werden konnten. Wichtiger noch, sie reüssierten im Kontext der neuen, wettbewerbsorientiert gesteuerten deutschen (und europäischen) Hochschul- und Forschungspolitik, die sich seit den frühen 2000er-Jahren lagerübergreifend durchsetzte. Das Trauma der Vereinigungskrise verblasste in der Exzellenzeuphorie: Zur Überraschung vieler war die Freie Universität 2006/07 in den ersten Runden der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder erfolgreich und sicherte sich mit ihrem Konzept der „International Network University“ den begehrten und finanziell reich ausgestatteten Elitestatus, während die Humboldt- Universität leer ausging.

Gewinner der Vereinigung

In diesem erneuten Umbruch profitierte die Freie Universität nun von der Dynamik der deutschen Einigung. Pointiert formuliert: War sie vorübergehend Verlierer der Wiedervereinigung Berlins, wurde sie später zum Gewinner der Vereinigung Deutschlands. Der Umzug von Parlament und Regierung seit 1998 etablierte ein neues Kraftzentrum in der Hauptstadt, das einen kaum vorhergesehenen Sog auch auf Kunst und Kultur, Wissenschaft und Forschung entfaltete. Zum einen profitierten die Berliner Universitäten insgesamt von diesem neuen Milieu, von der Nähe zu Stiftungen und Think Tanks, Museen und freier Kunstszene, Politik und Verbänden. Zum anderen beschleunigte der gouvernementale Neoliberalismus der Berliner Republik, als Verbindung von staatlicher Planung und Steuerung mit Elementen des Wettbewerbs und der unternehmerischen Hochschulpolitik, die Umformung der bisherigen westdeutsch-föderalen Ordnung zugunsten des Wissenschaftsduopols von Berlin und München. Das nutzte der Freien Universität im Prinzip genauso wie den beiden anderen Berliner Universitäten, einschließlich der Technischen Universität. Aber die Freie Universität konnte daraus den größten Nutzen ziehen, aufgrund ihrer Traditionen ebenso wie dank einer besonders geschickten Führung durch das Präsidium, das seit 1994 in der ehemaligen Alliierten Kommandantur in der Kaiserswerther Straße operierte. Als die Humboldt-Universität 2012 der Freien Universität mit dem Exzellenzstatus folgte, änderte das nichts mehr an der Konstellation zweier Hauptstadtuniversitäten auf Augenhöhe zueinander.

Wachsende Differenzierung der ­Hochschullandschaft

Der Verlust des teilungsbedingten Sonderstatus ebenso wie die neuen Imperative der politischen Wissenschaftssteuerung haben auf diese Weise zugleich den Eigenweg der Freien Universität ein Stück weit aufgelöst – sie ist anderen deutschen Universitäten ähnlicher geworden, trotz der wachsenden Differenzierung der Hochschullandschaft und einer Spitzenstellung in dieser neuen Hierarchie. Das gilt vielleicht weniger für die Forschung, aber umso mehr für Lehre und Studium, wo die Freie Universität zeitgleich mit ihrem Aufstieg in die „Exzellenz“ die radikale Transformation in das europäische „Bologna“-System der modularisierten Bachelorund Masterstudiengänge bewältigte. Während sie in der Forschung mächtig aufgeholt haben, gelang es den deutschen Universitäten in den vergangenen zwanzig Jahren nicht, den Studierenden jenen Platz zu geben, den sie in den überaus erfolgreichen angelsächsischen Universitäten einnehmen.

Das war gewiss zuerst Folge einer politischen Präferenz; in Dahlem jedoch scheint das noch schwerer als anderswo gefallen zu sein. Die 68er-Proteste lenkten alle Energie auf eine „Demokratisierung“, die als Gremienbeteiligung definiert wurde, erzeugten jedoch zugleich einen Abwehrreflex gegen eine umfassendere lebensweltliche Partizipation, gegen die Universität als Lebensraum in einem umfassenden Sinne. Die seit 1990 wieder schärfer akzentuierte stadträumliche Randlage war dem erst recht nicht zuträglich. Spätestens um 18 Uhr füllt sich die U3 und bringt die Dahlemer Studierenden in ihre Kieze und eigentlichen Lebensräume zurück, die noch weiter östlich liegen als teilweise schon vor 1989. Die Freie Universität hat nie mehr energisch versucht, dem in der Entwicklung des Campus entgegenzusteuern. Das weit im Südwesten (ab-)gelegene Studentendorf Schlachtensee, bei der Eröffnung im Jahr 1959 Vorzeigeobjekt von Demokratie, studentischer Selbstverwaltung und Gemeinschaftsleben, konnte Anfang des 21. Jahrhunderts auch mit Unterstützung der Freien Universität gerade noch saniert und damit gerettet werden; von Neubauten für das Wohnen von Studierenden in Dahlem dagegen keine Spur.

Wohin führt der Weg der Freien Universität? In vier markanten Situationen des Umbruchs hat sie sich konstituiert und, immer wieder unter Druck von außen und unter keineswegs selbstgewählten Umständen, neu erfunden: Mit der Gründung im Jahre 1948, in den Protesten seit 1965 und ihren Nachwirkungen bis in die Mitte der 1970er-Jahre, in der Vereinigungskrise seit 1990 und mit den Erfolgen in den Exzellenzwettbewerben seit 2005. Trotz mancher Defizite steht diese Universität im Jahr 2023 so gut da wie kaum zuvor in ihrer 75-jährigen Geschichte. Der Erfolg in dem nun als „Exzellenzstrategie“ firmierenden nationalen Forschungswettbewerb vor vier Jahren hat Selbstbewusstsein und Stabilität vermittelt. Befürchtungen, die Freie Universität könne in der „Berlin University Alliance“ mit Humboldt- Universität, Technischer Universität und der nach institutioneller Eigenständigkeit strebenden Universitätsmedizin bald das eigene Profil verlieren oder zu einem südwestlichen Campus einer Berliner Gesamtuniversität werden, haben sich nicht bestätigt.

Als Exzellenzuniversität im Grünen ist die Freie Universität, wie schon seit ihrer Gründung, Anziehungspunkt für internationale Studierende sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Als Exzellenzuniversität im Grünen ist die Freie Universität, wie schon seit ihrer Gründung, Anziehungspunkt für internationale Studierende sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Bewahrung der akademischen Freiheit

Die Freie Universität bleibt in ihrer Spur, in den unsichtbaren Magnetfeldern der Pfadabhängigkeit auch über Umbrüche hinweg. Die immer wieder neu definierte Stärke der internationalen Verflechtung ist ein wichtiges Beispiel dafür, zeigt aber auch, dass dafür Energie und Initiative nötig sind: in dem Aufbau und der Pflege der Verbindungsbüros rund um den Globus auch in Zeiten globaler Krisen und Kriege, in der Besinnung auf den Gründungsimpuls akademischer Freiheit in dem Engagement für bedrohte und exilierte Wissenschaftler, für „scholars at risk“ etwa aus der Türkei und Afghanistan, oder in der Prägekraft jüdischer intellektueller Tradition in Verbindung mit der historischen Verantwortung gegenüber Israel, die 2011 in die strategische Partnerschaft mit der Hebrew University in Jerusalem überführt wurde. Nicht zufällig hat die Freie Universität schnell, entschieden und sichtbar auf die terroristischen Angriffe auf Israel durch die Hamas am 7. Oktober 2023 reagiert. Überhaupt: Die Universität, die immer schon um ihre besondere Verflechtung mit den Zeitläuften wusste, stellt sich neuerdings neugierig, kritisch und selbstreflexiv ihrer eigenen Geschichte; eine „Arbeitsstelle Universitätsgeschichte“ soll das von 2024 an bündeln und vorantreiben.

Noch etwas wird sich auch im weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts nicht ändern: die charakteristische Kulturlandschaft des Berliner Südwestens, die besondere Prägekraft der Dahlemer Topographie zwischen Dorfanger und bürgerlichen Villen, mit ihren Grünzügen zwischen Landwirtschaft auf der Domäne und Wissenschaft im Botanischen Garten, mit einem aufgelockerten Campus, der nie fertig ist, sondern an stets neuen Stellen erweitert und umgebaut wird – eben noch an der Fabeckstraße, dann an der Arnimallee und jetzt an der Königin-Luise-Straße. Wenn man an der Boltzmannstraße steht zwischen dem Henry-Ford-Bau und den Hausnummern 3 und 4, dort, wo im Herbst 1948 alles begann; wenn man in Dahlem-Dorf, gegenüber dem Eingang zur Domäne, aus der U-Bahn kommt; wenn man sich durch das Straßengewirr der „Rost-“, „Silber-“ und „Holzlaube“ schlägt oder in einer der verbliebenen Villen die Köpfe heißredet – dann ist man damals wie morgen in der Freien Universität.