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„Es wird also zweckmäßig sein, nicht an Einstein heranzutreten“

70 Jahre Ernst-Reuter-Gesellschaft – die ersten Jahrzehnte

05.08.2024

Hoher Besuch zur Gründungsfeier der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Förderer und Freunde im Juni 1954: Bundeswirtschaftsminister Prof. Dr. Ludwig Erhard hielt die Eröffnungsrede.

Hoher Besuch zur Gründungsfeier der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Förderer und Freunde im Juni 1954: Bundeswirtschaftsminister Prof. Dr. Ludwig Erhard hielt die Eröffnungsrede.
Bildquelle: Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 (05) Nr. 0033864 / Gert Schütz

Es war nicht gerade eine Weltneuheit, als die Freie Universität 1954 einen Förderverein bekam – solche Vereinigungen waren in Deutschlachland schon vor und nach dem ersten Weltkrieg gegründet worden. Doch die Ernst-Reuter-Gesellschaft war etwas Besonderes. Nicht nur, weil die Dahlemer Universität noch blutjung war, sondern auch, weil die Gründergeneration so besonders war: Studentinnen und Studenten, die Krieg und Konzentrationslager überlebt hatten, Unterstützer in Berlin und Übersee, Mitglieder von Adenauer bis Zuckmayer.

Hanna Reuter, Witwe des legendären Berliner Bürgermeisters Ernst Reuter, Mitglied des Ehrenpräsidiums und wachsame Begleiterin der Ernst-Reuter-Gesellschaft (ERG), war besorgt. Vorläufig habe sie noch die Hoffnung, „dass wir einmal unseren früheren Ruf wieder gewinnen werden.“ Und sie beklagt, dass „der geistige Einfluss der Ernst-Reuter-Gesellschaft heute viel weniger weitreichend ist im Gegensatz zu früher“. Der Brief stammt aus den frühen Jahren, aus dem Februar 1965. Schon 1960 hatte Hanna Reuter zu Protokoll gegeben, dass sie nicht möchte, dass die Gesellschaft, welche den Namen ihres Mannes trägt, einen „lahmen Charakter“ bekommt. Geht man in die Archive, dann entsteht leicht der Eindruck: Hanna Reuter hatte recht. Und dies, weil Erfolg und Sichtbarkeit der ersten Jahre dazu angetan sind, die folgenden Jahrzehnte zu überstrahlen.

Viele berühmte Persönlichkeiten waren von Anfang an Teil der Ernst-Reuter-Gesellschaft, sei es der ehemalige Bundeskanzler Konrad Adenauer oder die Physikerin Lise Meitner.

Viele berühmte Persönlichkeiten waren von Anfang an Teil der Ernst-Reuter-Gesellschaft, sei es der ehemalige Bundeskanzler Konrad Adenauer oder die Physikerin Lise Meitner.
Bildquelle: Deutsche Fotothek/Fritz Eschen

Die ERG war vom Start weg eine sehr prominent besetzte Vereinigung: Die erste Mitgliederliste reicht von A wie Konrad Adenauer, Bundeskanzler, bis Z wie Carl Zuckmayer, Schriftsteller. Und von Dahlem bis nach Kalifornien, wo der Geiger Yehudi Menuhin der ERG beitrat und sogar vier Jahre Beitrag zahlte. Der Verleger Karl Ullstein war dabei und „Tagesspiegel“-Gründer und Chefredakteur Erik Reger, der spätere ZDF-Moderator Gerhard Löwenthal, damals noch bei RIAS Berlin, sowie der Vorsitzende des Journalisten-, damals noch Presseverbands Berlin, Karl Brammer. Dann der frühere Reichstagspräsident Paul Löbe von der SPD, der Strafverteidiger Paul Ronge von der FDP und der Regierende Bürgermeister sowieso – und das war 1954 Walther Schreiber von der CDU. Einige Wissenschaftler waren dabei, emigrierte und nicht emigrierte, so der Nobelpreisträger Max von Laue, der in Berlin geblieben, und sein Sohn Theodore, der in die USA gegangen war. Aus der Wirtschaft waren beispielsweise die Direktoren der Berliner Industriebank, der BEWAG, der Siemens-Schuckert-Werke oder der Deutschen Waggon- und Maschinenfabriken dabei – ebenso der Berliner DGB-Chef.

Als Gründungsmitglied wird auch „Prof. Meitner, Stockholm, Nobelpreisträger“ verzeichnet. Gemeint ist Lise Meitner, die allerdings den Nobelpreis nie erhalten hat – eine der großen Ungerechtigkeiten der Wissenschaftsgeschichte. Dann Otto Dibelius, der evangelische Bischof von Berlin, sein katholisches Pendant, Wilhelm Weskamm und der Oberrabbiner Leo Baeck. Shepard Stone, der unermüdliche Förderer der FU von der Ford-Stiftung, gehörte dazu – und auch Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, der auf der Gründungsversammlung mit der Idee einer internationalen Anleihe zu Gunsten der Freien Universität aufwartete, der allerdings trotz ernsthafter Bemühungen kein Erfolg beschieden war.

Und vielleicht ist auch er eine Erwähnung wert: Edwin Redslob, Kunsthistoriker, Reichskunstwart der Weimarer Republik, Rektor der Freien Universität und Schöpfer ihres Wappens mit den Grundwerten Veritas, Iustitia und Libertas. Es gehörte zu den ersten Beschlüssen des ERG-Vorstands, Redslob um den Entwurf eines ERG-Symbols zu bitten.

Ernst Reuters großer Wunsch war es, eine Fördergesellschaft zur Unterstützung des wissenschaftlichen Nachwuchses zu gründen.

Ernst Reuters großer Wunsch war es, eine Fördergesellschaft zur Unterstützung des wissenschaftlichen Nachwuchses zu gründen.
Bildquelle: Deutsche Fotothek / Fritz Eschen

Lieber ohne Einstein

Viele namhafte Leute also schon bei Gründung der ERG. Einer aber, der vielleicht ganz gut in diesen Kreis gepasst hätte, war nicht dabei: Albert Einstein. In einem privaten und vertraulichen Anhang zu einem Schreiben an Fritz von Bergmann, den langjährigen Kurator der Freien Universität, riet der in den USA lebende Historiker Theodor Ernst Mommsen davon ab, Einstein überhaupt anzusprechen. Mommsen, 1936 emigriert, Assistent in Yale, dann berufen nach Princeton, schließlich Lehrstuhlinhaber an der Cornell University, schrieb Ende 1953: „Ich weiß nicht, wie er als zionistischer Jude auf dieses Berliner Projekt reagieren würde und weder mir noch Goldschmidt“ – gemeint ist der ebenfalls emigrierte Bankier und Kunstsammler Jakob Goldschmidt – „scheint es recht, sich in dieser Angelegenheit einer Ablehnung auszusetzen. Zweitens, Einstein gilt hierzulande als ausgesprochen ‚links‘, da er sich stets und konsequent gegen die scharfe antikommunistische Linie ausgesprochen hat, in grundsätzlich richtiger, aber meines Erachtens gelegentlich ungeschickter und falscher Form. In jedem Fall ist er, ebenso wie zum Beispiel Thomas Mann, eine so umstrittene Persönlichkeit, dass ich nicht glaube, dass sein Name unter den Gründern der Reuter-Gesellschaft Eurer Sache sehr nützen würde“. Dazu sagte Bergmann: „Gut, dass wir uns an Mommsen beziehungsweise Goldschmidt wandten, denn es ist ja wichtig für uns, dass wir in der amerikanischen Öffentlichkeit richtig liegen. Es wird also zweckmäßig sein, nicht an Einstein heranzutreten.“ Dabei blieb es dann wohl auch. Warum diese vertrauliche Notiz überhaupt bekannt ist? Weil Kurator Bergmann sie in einem Brief weitergegeben hat an einen Studenten namens Laubrinus und von diesem Brief eine Durchschrift hat anfertigen lassen, die heute im Archiv der Freien Universität zu finden ist.

Ein Student namens Ernst Laubrinus

Der Kreis der Gründungsmitglieder wie auch der Teilnehmer der ersten Mitgliederversammlung im Juni 1954 in der neu errichteten Mensa in der Van‘t-Hoff-Straße ist so eindrucksvoll, dass sie nicht das Ergebnis einer kurzfristigen Einladung sein konnte. Und tatsächlich hatten die Gründung im Klubhaus der FU am 27. Januar 1954 und die erste Mitgliederversammlung im Juni einen Vorlauf, der weitgehend im Dunkeln liegt. Der Student Laubrinus spielte dabei jedenfalls eine zentrale Rolle, aber auch Personen wie Mommsen und Goldschmidt in den USA, die dort offenbar über ein gut gepflegtes Netzwerk in der Universitäts- und Emigrantenszene verfügten. Laubrinus, Jahrgang 1920, war – nicht untypisch für die Gründergeneration der FU – Sohn einer jüdischen Mutter, wurde mit 16 Jahren auf Basis der „Nürnberger Gesetze“ von der Schule geworfen, absolvierte dann eine Einzelhandelslehre im Geschäft für Mal- und Zeichenbedarf seines Vaters in der Wilmersdorfer Straße 13. Zwangsarbeit ab 1943, KZ ab April ’44. Später anerkannt als Opfer des Faschismus, beginnt er 1947 ein Studium an der (Ost-)Berliner Universität. 1949 wechselte er an die Freie Universität. Er bekommt eine Studentische Hilfskraftstelle und erhält – nach einem Bittbrief an die Ehrwürdige Magnifizenz – einen Zuschlag von je 20 Mark für seine beiden Kinder. Im Konvent, wie das Studentenparlament damals hieß, gehört er dem Präsidium an. Im Sommer 1953 wird er exmatrikuliert: Medizinstudium beendet, doch sein Staatsexamen wird er nie ablegen. Laubrinus wird nun zum Motor der ERG-Gründung. Die FU ist bekanntlich eine Universitätsgründung unter massiver Beteiligung von Studenten. 1953 ergreifen Vertreter dieser Gründergeneration die Initiative zur Gründung einer „Patronatsgesellschaft“: Eva Heilmann, Peter Lorenz, Georg Kotowski, Helmut Coper, Horst Hartwich, vor allem aber der Herausgeber der Studentenzeitschrift „Colloquium“, Otto H. Hess, und eben jener Ernst Laubrinus, der zunächst für den Vorbereitungsausschuss die organisatorischen Fäden in der Hand hält.
Georg Kotowski, damals noch Assistent, hat 1967 in der nur einmal erschienenen ERG-Zeitschrift „REPORT“ den Pharmakologen Wolfgang Heubner und auch den Gründungsrektor der FU Friedrich Meinecke als professorale Unterstützer genannt. Gemeinsam wird ein Konzept entwickelt, mit dem neuen Rektor Ernst Eduard Hirsch abgestimmt und schließlich ein Gründungsaufruf entworfen. Er wurde nach mühsamer Adresssuche auf Deutsch oder Englisch versandt – an 400 Personen aus Politik und Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft, in Berlin, im Inland wie im Ausland. Die Resonanz ist beachtlich.
Laubrinus lädt zur Gründungsversammlung am 27. Januar 1954 ins Klubhaus der FU. Kurz danach wird er zum Geschäftsführer der ERG bestellt. Ein Amt, das er bis zu seiner Kündigung im Oktober 1958 innehat. Die Trennung erfolgt im Streit. Irgendwie einigt man sich, aber er bleibt draußen, verlässt Berlin und wird Verkaufsleiter bei Vorwerk. Nach Auskunft seiner Tochter habe er nicht über die Mittel verfügt, sein Medizinstudium ordentlich abzuschließen.
In diesen ersten Jahren war Paul Hertz Vorsitzender der ERG. Hertz, Sohn eines jüdischen Kaufmanns, von den Nazis ausgebürgert, Exil in den USA, kehrt 1949 auf Drängen Reuters zurück nach Berlin, wo er bald darauf Senator wird. Vorstandssitzungen der ERG finden überwiegend im Dienstzimmer des Senators statt, schräg gegenüber vom Rathaus Schöneberg. Die Privatwohnung von Laubrinus wird vorläufig Geschäftsstelle, sein Gehalt auf 500 Mark festgelegt.

Bei einem Empfang der Ernst-Reuter-Gesellschaft im Harnack-Haus im Februar 1962: der SPD-Politiker Karl Schiller, Hanna Reuter, die Ehefrau von Ernst Reuter (Mitte), und Robert F. Kennedy (rechts).

Bei einem Empfang der Ernst-Reuter-Gesellschaft im Harnack-Haus im Februar 1962: der SPD-Politiker Karl Schiller, Hanna Reuter, die Ehefrau von Ernst Reuter (Mitte), und Robert F. Kennedy (rechts).
Bildquelle: Reinhard Friedrich/Universitätsarchiv Freie Universität

Erstaunliche Flughöhe

Der Vorstand macht sich Gedanken über die Zusammensetzung des noch zu bestimmenden Verwaltungsrats der ERG, der seinerseits damals die Richtlinien und auch die folgenden Vorstände bestimmen würde. Der Vorsitzende des Verwaltungsrats – so die Überlegung damals – sollte Erfahrungen mit dem Universitätsleben haben, müsste über größte industrielle Verbindungen verfügen, politisch führend tätig, ohne allzu stark parteipolitisch exponiert zu sein. Die Runde verständigt sich auf Robert Tillmanns, CDU, Bundesminister für besondere Aufgaben mit Büro im Bundeshaus in der Berliner Bundesallee. Laubrinus sucht ihn dort im März ’54 auf und Tillmanns sagt zu.

Das also war gleich zu Beginn die Flughöhe: ein Senator als Vorsitzender, ein Bundesminister als Chef des Verwaltungsrats und eine höchst illustre Mitgliedschaft von zunächst etwa 200 Personen, zu der auch der jeweilige Bundespräsident zählte, erst Theodor Heuss, dann Heinrich Lübke. Und auf diesem Niveau bewegte sich auch das Veranstaltungsprogramm, das zunächst vor allem aus Vorträgen großer Namen im großen Rund des Audimax im neu erbauten Henry-Ford-Bau bestand. Allein 1955 gab es zehn Vorträge. Eingeladen werden „Persönlichkeiten von internationalem Rang“. Da sprach im Januar ’55 der britische Oppositionsführer Clement Attlee über die Koexistenz von Ost und West, der französische Soziologe Raymond Aron setzte sich im Juni mit dem Verhältnis von Intellektuellen und Kommunismus auseinander, die deutsch-amerikanische Philosophin Hannah Arendt sprach im Dezember über autoritäre und totalitäre Staatsform: drei Beispiele für eine Veranstaltungsreihe, die in Zusammenarbeit mit dem „Kongress für die Freiheit der Kultur“ durchgeführt wurde. Aber auch ohne diesen Partner waren die Gäste hochkarätig: Österreichs Außenminister Bruno Kreisky, Landesbischof Otto Dibelius, Bundestagspräsident Eugen Gerstenmeier, der amerikanische Wirtschaftshistoriker Walt Whitman Rostow.

Doch es wurde nicht nur geredet: Yehudi Menuhin trat im ausverkauften Audimax mit Mozarts D-Dur-Violinkonzert auf, als Solist im Rahmen eines Wohltätigkeitskonzerts der ERG, Zugabe: Bach. Das RIAS-Symphonie-Orchester spielte Gluck und Beethoven. Ein weiterer Höhepunkt: die Ansprache des amerikanischen Justizministers – und Präsidentenbruders – Robert F. Kennedy im Februar 1962.

Der Ernst-Reuter-Tag ist der Höhepunkt im Veranstaltungskalender der Freien Universität. Jedes Jahr werden zum Gründungstag der Universität die besten Dissertationen durch die Ernst-Reuter-Gesellschaft ausgezeichnet.

Der Ernst-Reuter-Tag ist der Höhepunkt im Veranstaltungskalender der Freien Universität. Jedes Jahr werden zum Gründungstag der Universität die besten Dissertationen durch die Ernst-Reuter-Gesellschaft ausgezeichnet.
Bildquelle: Patricia Kalisch

Hertz stirbt, Schiller übernimmt

Ende der 50er Jahre war Laubrinus ausgeschieden. Otto H. Hess – auch er ein Gründungsstudent der FU, der sein Medizinstudium abgebrochen und seine Berufung als Verleger vom „Colloquium“ gefunden hatte – wurde sein Nachfolger. Das Büro war inzwischen zweimal umgezogen, erst in den Henry-Ford-Bau, dann in ein relativ bescheidenes Exemplar der FU-typischen Dahlemer Villen: Garystraße 45. Die Büroausstattung hatten Lindemann, Möbel Hübner und fünf weitere Unternehmen gespendet. Der Vorsitzende Paul Hertz starb im Herbst 1961. Der Verwaltungsrat machte den neuen Wirtschaftssenator zu seinem Nachfolger: Prof. Karl Schiller. Auch er ist glänzend vernetzt, sein Wort hat Gewicht – und wenn es bei den seltener gewordenen Vorträgen den Gast einzuführen gilt, ist Schiller zur Stelle. Inzwischen breitet sich bei der ERG eine gewisse Routine aus. War der Vorstand 1954 noch zu sieben Sitzungen zusammengekommen, so schienen danach nur noch zwei nötig, manchmal weniger. Und noch etwas fällt auf: Im Vorstand der ERG sitzen nur Außenstehende – keine Angehörigen der Freien Universität. Das entspricht auch dem Gründungsaufruf, in dem von der Autonomie der Universität die Rede ist und davon, dass Angehörige der Universität zwar auf das Engste mit der ERG zusammenarbeiten, ihrem Mitgliederkreis aber nicht angehören sollen. Es kommt dann etwas anders, aber es ist bemerkenswert, dass dem Vorstand neben Senator Schiller noch der CDU-Abgeordnete und Rechtsanwalt Peter Lorenz und der AEG-Direktor Günter Milich angehören, aber kein Vertreter der Freien Universität. Das war schon zuvor bei Paul Hertz so. Doch das ist eine strukturelle Frage. Im operativen Geschäft geht es um andere Dinge: Wieder kommt es zu Differenzen mit der Geschäftsführung; Ende ’63 scheidet Otto H. Hess nach Streit mit Karl Schiller aus dem Amt.

Eine Orgel, die nie gebaut wird

Finanziell geht es der ERG in jenen Jahren nicht schlecht. Auf den Konten sammelt sich so viel Geld an, dass der neue Geschäftsführer, Rechtsanwalt Norbert Rennert, ermächtigt wird, Gelder längerfristig anzulegen. 1964 liegen die Geldbestände erstmals über 400.000 Mark. Allein die Zinserträge von 17.000 Mark reichen aus, die Personalkosten von lediglich 15.000 Mark zu decken. Das Spendenaufkommen, 1960 noch unter 20.000 Mark, erreicht 1964 eine Größenordnung von 188.000 Mark. Zu den Spendern gehört Erna Lindner, Witwe und Fabrikbesitzerin, die – schon ab 1953 – monatlich 1.000 Mark gespendet hat, die aber wegen nicht näher benannter „Vorgänge an der FU“ 1966 austreten wird. Mit Lindners späterem Erbe wurde 1970 die „Caritas Altenhilfe“ gegründet. Das Spendenaufkommen bei der ERG bleibt in den kommenden Jahren relativ stabil; der Wertpapierbestand erreicht Ende der 70er Jahre einen neuen Höchstwert von über 700.000 Mark.

Was aber macht die ERG mit ihrem Geld, jenseits der Vortragsveranstaltungen, die bald an Strahlkraft einbüßen, seltener werden und in kleinere Säle, am Ende gar ins Klubhaus verlegt werden? Eine Zuwendung ging gleich 1954 an den Geographen Wolfgang Meckelein, für die Beteiligung an einer gesamtdeutschen Sahara-Expedition. Er bekam 2.000 Mark, von denen wiederum die Hälfte direkt von der „Siemens Schuckert Werke AG“ beigesteuert wurde. Erst zögerlich, später selbstverständlich erhält der Rektor der FU Mittel zur mehr oder minder freien Verwendung im Rahmen dienstlicher Repräsentation. Zahlreiche Publikationen werden gefördert, Festschriften, auch Erwerbungen wie die Beschaffung von 70 Bänden des „Corpus Reformatorum“ für das Seminar für Evangelische Theologie unter der Leitung von Prof. Helmut Gollwitzer, außerdem Exkursionen oder eine zweite Amtskette für den Rektor. Gleich 25.000 Mark wurden der FU 1960 zur Anschaffung einer Orgel im Audimax zugesagt. Ein ähnlich großer Betrag war schon aus der Wirtschaft zugesichert worden; insgesamt sollte das Instrument an die 80.000 Mark kosten. Allerdings hat man das Projekt später abgeblasen.

„Dissertationsdruckkostenzuschussverein“

Relativ viel Geld verschlingt die von der ERG 1957 mit Hilfe einer Lotto-Spende ins Leben gerufene Dissertationsdruckstelle. Sie erweist sich bald als unrentabel, wird 1969 verpachtet und schließlich als technischer und personeller Grundstock in die neue Zentrale Universitätsdruckerei der FU überführt. Gleichwohl sind bei dieser Druckerei Hunderte von Dissertationen gedruckt worden, und dies nicht zuletzt, weil Druckkostenzuschüsse zeitweilig nur gezahlt wurden, wenn der Druck hier erledigt wurde. 1966 wird Karl Schiller Bundesminister und scheidet als Vorsitzender der ERG aus. Unter dem nun folgenden dritten Vorsitzenden der ERG, dem BEWAG-Direktor Alexander Voelker, der zugleich Fraktionschef der SPD im Abgeordnetenhaus Berlin war, hat sich das Profil der ERG für lange Zeit verschoben in Richtung eines Dissertationsdruckkostenzuschussvereins.

Voelker bleibt Vorsitzender bis 1975. Bis dahin tagt der Vorstand meist in der BEWAG-Zentrale, im August dann erstmals am Sitz der Sparkasse: Deren Vorstandsvorsitzender Reinhard Meyer steht jetzt auch an der Spitze der ERG. Meyer war offenbar ein zurückhaltender Mensch, anders gesagt: Es wird jetzt lange recht leise rings um die Ernst-Reuter-Gesellschaft. Und das ändert sich auch nur geringfügig unter Meyers Nachfolger bei Sparkasse und ERG, also unter Hubertus Moser, der Bank und ERG ab 1983 führt. Geschäftsführer ist über lange Zeit Horst Hartwich, Gründungsstudent der FU und späterer Chef von deren Außenamt. In diesen Jahren muss die ERG sogar ihr Vermögen antasten, um die üblichen Aktivitäten aufrecht zu erhalten. Erst in den 90er Jahren setzt eine Wende zum Besseren ein.

Mitglieder- und andere Entwicklungen

1969 scheidet Heinrich Lübke aus dem Amt des Bundespräsidenten aus und zieht sich mit handsigniertem Schreiben an den Vorsitzenden auch aus der ERG zurück: ein Mosaiksteinchen der Mitgliederentwicklung, die den Vorstand immer wieder beschäftigt. Erst nach einiger Zeit hatte man sich entschlossen, systematisch um die Alumni der FU zu werben. Noch im August ’59 hatte sich der Vorstand gegen „Massenwerbung“ ausgesprochen. Man wollte gezielt geeignete Persönlichkeiten ansprechen. Dann jedoch wird Anfang der 60er Jahre eine Hauswurfsendung in Zehlendorf durchgeführt, mit der auch der „kleine Bürger“ angesprochen werden soll. Das Ergebnis war aber kein Ansporn für eine Wiederholung. Natürlich bemüht man sich um Wirtschaftsunternehmen, und sowohl Hertz als auch Schiller verfügen dafür über die nötigen Kontakte. Dennoch erweist sich die Ansprache von Unternehmern als mühsam – das Verständnis für die Bedeutung der Universität für Berlin fehlt gelegentlich. Um 1960 bemüht man sich auch, ganze Städte – Mitglieder des Städtetags – zu gewinnen. 34 Städte – darunter Herne, Hameln und Hamburg – werden tatsächlich Mitglied. Bis 1965 war die Zahl aller Mitglieder – Menschen, Städte, Unternehmen – auf 579 angestiegen. Danach verliert die ERG dann aber jedes Jahr Mitglieder: 1980 sind es noch gerade einmal 290.
Die ERG gerät in eine Art „Midlife-Crisis“. Ende der 70er Jahre wird sogar ernsthaft über eine Auflösung nachgedacht. Dazu kommt es nicht, nur zu einer Satzungsreform, der der Verwaltungsrat zum Opfer fällt – und damit ein Gremium, dass durch seine enge Verknüpfung mit Politik und Wirtschaft strategisch außerordentlich wertvoll war oder hätte sein können. Die Mitgliederversammlung kann diesen Bedeutungsverlust nicht kompensieren. Eine Liste der Anmeldungen für die Mitgliederversammlung 1975 verzeichnet namentlich gerade noch 13 außeruniversitäre Mitglieder, darunter immerhin zwei Bundestagsabgeordnete der CDU – Ursula Besser und Jürgen Wohlrabe – sowie einen Staatssekretär der SPD, Dietrich Spangenberg. Es dauerte lange, bis sich die ERG wieder berappeln konnte. Die jährliche Vergabe der Ernst-Reuter-Preise zum Jahrestag der Uni-Gründung am 4. Dezember setzt erst 1985 ein, die attraktive Kombination aus Mitgliedschaft und universitärer E-Mail-Adresse wird erst im neuen Jahrtausend angeboten. Die ersten Jahre der Ernst-Reuter-Gesellschaft erscheinen aus heutiger Sicht als besonders – besonders geistreich, besonders glanzvoll, wahrscheinlich auch besonders anstrengend –, aber den Höhepunkt ihrer Entwicklung hat sie womöglich erst noch vor sich. Über Jahre ist die Zahl der Mitglieder deutlich gewachsen, derzeit zählen rund 8.000 zu den Freunden, Förderern und Ehemaligen der Freien Universität. Und das Potential für weiteren Zuwachs ist groß.

Der Reporter

Alumnus, Autor der Titelgeschichte und Mitglied der ERG: Christian Walther

Alumnus, Autor der Titelgeschichte und Mitglied der ERG: Christian Walther
Bildquelle: privat

Dr. Christian Walther, 1956 geboren; 1976 Abitur am Arndt-Gymnasium Berlin-Dahlem; Studium der Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut (OSI) der Freien Universität und an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Diplom 1982; 1976 bis 1978 Landesgeschäftsführer der „Deutschen Jungdemokraten“; 1980/1981 Vorstandsmitglied der „Vereinigten Deutschen Studentenschaften“; ab 1983 Arbeit als Journalist zunächst für das Berliner Stadtmagazin „­Zitty“ und dann auch für den Hörfunk sowie die „Abendschau“ des „Senders Freies Berlin“ bzw. des „Rundfunks Berlin-Brandenburg“; 1992 bis 1996 Leiter der Presse- und Informationsstelle der Freien Universität und in dieser Zeit Initiator von „uniRadio Berlin-Brandenburg“; 2010 bis 2012 Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung, anschließend bis 2015 der „Leibniz-Gemeinschaft“; 2015 Promotion am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Freien Universität; von 2016 bis 2020 Vorsitzender des „Journalistenverbands Berlin-Brandenburg“; 2001 bis 2017 Vorsitzender vom „OSI-Club“, der Alumni-Vereinigung des OSI; Autor verschiedener Bücher, darunter „Ein Freund, ein guter Freund. Robert Gilbert – Lieddichter zwischen Schlager und Weltrevolution“ (publiziert 2019) und „Des Kaisers Nachmieter – Das Berliner Schloss zwischen Revolution und Abriss“ (publiziert 2021).