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Eine Archäologie des 20. Jahrhunderts

Dr. Hanno Hochmuth ist Historiker und Alumnus des Friedrich-Meinecke-Instituts der Freien Universität. In seinem neuen Buch streift er durch die Stadtgeschichte Berlins – ein Ort, an dem verschiedenste politische Systeme aufeinanderprallten.

05.08.2024

Ein Blick über die Dächer Dahlems: Der Autor und Alumnus Dr. Hanno Hochmuth.

Ein Blick über die Dächer Dahlems: Der Autor und Alumnus Dr. Hanno Hochmuth.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

„Berlin ist das Rom der Zeitgeschichte“, so die simple wie schlagende These des gerade erschienenen Buches von Hanno Hochmuth. Der Historiker vom „Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam“ zeichnet darin die Geschichte der Hauptstadt anhand vielfältiger Orte nach – von der Reichskanzlei bis zum Georg-Rauch-Haus, von der Stalinallee bis zum Kotti.

Elektropolis, AEG in Oberschöneweide. Das ehemalige Transformatorenwerk in der Wilhelminenhofstraße gehörte seit 1920 zur AEG.

Elektropolis, AEG in Oberschöneweide. Das ehemalige Transformatorenwerk in der Wilhelminenhofstraße gehörte seit 1920 zur AEG.
Bildquelle: Hanno Hochmuth

„Schon Kennedy hat in seiner berühmten Schöneberger Rede Berlin mit Rom verglichen“, sagt Hochmuth. „Den Satz geprägt hat dann im Jahr 2010 der damalige Kulturstaatssekretär André Schmitz auf dem Historikertag in Berlin.“ Die Rede von „Berlin als modernem Rom“ reihe sich zum einen ein in die Tradition der Selbstvergleiche Berlins mit anderen Metropolen – vom „Chicago an der Spree“ bis zu „Babylon Berlin“. Sie verweise aber auch auf eine besonders interessante Parallele. Ebenso wie in Rom, sagt Hochmuth, öffneten sich bei einem Spaziergang durch Berlin archäologische Fenster in die Vergangenheit. So wie sich in der italienischen Hauptstadt die Zeitschichten im öffentlichen Raum überlagern, passiert das auch in Berlin – nur nicht in Hinblick auf die Antike, sondern auf das 20. Jahrhundert.

„Hier kamen konkurrierende Systeme der Moderne an einem Ort zusammen“, erzählt Hochmuth. „Berlin war im vergangenen Jahrhundert eine monarchische, eine demokratische, eine faschistische und eine sozialistische Hauptstadt. Von hier aus wurden zwei Weltkriege in die Welt getragen – und schließlich wurde Berlin zum Symbol des Kalten Krieges.“ Diese verschlungene Geschichte könne man auf architektonischen Streifzügen besonders gut entdecken und beschreiben. 

„Chronologisch lässt sich die Geschichte Berlins kaum erzählen“, sagt der Historiker, „allein schon wegen der Teilung.“ Umso wichtiger sei es, den Raum in den Blick zu nehmen. „Hier liegt alles neben- und übereinander“, sagt er. „Man kann in Berlin eine Archäologie der Zeitgeschichte betreiben.“

Der Turmbau zu Babel, das Karstadt-Warenhaus am Hermannplatz. An der Straße Hasenheide blieb ein Teil der Originalfassade erhalten.

Der Turmbau zu Babel, das Karstadt-Warenhaus am Hermannplatz. An der Straße Hasenheide blieb ein Teil der Originalfassade erhalten.
Bildquelle: Hanno Hochmuth

Es sind Geschichten wie die des berühmten „Portal IV“ des Berliner Stadtschlosses, die den öffentlichen Raum der Hauptstadt prägen. Als die DDR-Führung im Jahr 1950 das Stadtschloss sprengt, ist das prunkvolle Eingangstor an der Lustgartenfassade der einzige Teil des Palastes, den sie verschont. Der Grund: Es ist der Ort, an dem Karl Liebknecht am 9. November 1918 eine sozialistische Republik ausgerufen hat. Das Portal wird vor der Sprengung abgetragen und findet in den 1960er-Jahren schließlich neue Verwendung in unmittelbarer Nachbarschaft. Es wird das zentrale Element des neuen Staatsratsgebäudes – des Sitzes des Staatsoberhaupts der DDR. Als dann in jüngster Vergangenheit das Stadtschloss für das „Humboldt Forum“ rekonstruiert wird, wird auch eine Kopie des „Portals IV“ erbaut. „Und so gibt es das Portal heute zweimal“, sagt Hochmuth, „nur rund 200 Meter voneinander entfernt.“

Nicht ganz ohne Ironie ist dabei, dass nun im ehemaligen Staatsratsgebäude die Wirtschaftshochschule „ESMT“ beheimatet ist: Am einstigen Regierungssitz von Erich Honecker studiert heute eine globale Management-Elite Deutschlands. „Es sind diese Widersprüche und dieses aberwitzige Nebeneinander, die Berlin auszeichnen“, betont Hochmuth. „An einem einzigen Fassadenelement lässt sich die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts erzählen.“

»Das ist unser Haus“, die ehemalige Diakonissenanstalt Bethanien in Kreuzberg. Das Georg-von-Rauch-Haus befindet sich rechts vom Hauptgebäude.

»Das ist unser Haus“, die ehemalige Diakonissenanstalt Bethanien in Kreuzberg. Das Georg-von-Rauch-Haus befindet sich rechts vom Hauptgebäude.
Bildquelle: Hanno Hochmuth

Hochmuth selbst ist 1977 in Ostteil Berlins geboren und hat, bis auf einige Forschungsaufenthalte, sein ganzes bisheriges Leben in der Hauptstadt verbracht. Nach dem Abitur schreibt er sich im Jahr 1997 für ein Geschichtsstudium an der Freien Universität ein – damals höchst ungewöhnlich für ein Kind des Ostens. „Aus meinem Abiturjahrgang am Prenzlauer Berg war ich der Einzige, der nach Dahlem ging“, sagt Hochmuth. Der Grund für Hochmuths Entscheidung: Ein Freund seines Vaters, selbst Professor an der Humboldt-Universität, rät ihm dazu. „Die erste Garde der Geschichtswissenschaft“, habe er gesagt, „ist in Dahlem.“

Anfangs ist sich Hochmuth noch unsicher, fühlt sich fremd auf dem Campus der Freien Universität. Doch dann findet gleich in seinem ersten Semester ein studentischer Streik statt. „Ich habe mich sofort in eine Arbeitsgruppe eingeschrieben und mich für bessere Studienbedingungen eingesetzt“, erzählt Hochmuth. „Ab diesem Moment wusste ich, dass die Freie Universität meine Uni ist – und dieses Gefühl der Verbundenheit hält bis heute an.“

Im Jahr 2005 wird Hochmuth wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Neuere Geschichte/Zeitgeschichte des Friedrich-Meinecke-Instituts. In seiner von Prof. Dr. Paul Nolte betreuten Doktorarbeit beginnt er, sich wissenschaftlich mit der Berliner Stadtgeschichte auseinanderzusetzen. „In der Geschichtswissenschaft an der Freien Universität fehlten damals zwei Dinge“, sagt Hochmuth. „Berlin und die DDR – also habe ich mir vorgenommen, diese Lücke zu schließen.“ In seiner Dissertation vergleicht er die Geschichte der Bezirke Kreuzberg und Friedrichshain. „Es handelt sich hier um eine einzigartige Konstellation,“ betont Hochmuth, „zwei ehemalige Arbeiterbezirke in unmittelbarer Nachbarschaft, die erst durch die Mauer getrennt und später in einen gemeinsamen Bezirk überführt wurden.“ Der Historiker arbeitet heraus, wie sich in beiden Bezirken ab den 1970er-Jahren die typische Kiezkultur entwickelt, die wir heute kennen. „Der Begriff ‚Kiez‘ und alles, was wir heute damit verbinden, stammt aus dieser Zeit.“

„Es sind diese Widersprüche und dieses aberwitzige Nebeneinander, die Berlin auszeichnen.“

„Es sind diese Widersprüche und dieses aberwitzige Nebeneinander, die Berlin auszeichnen.“
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Als Mitarbeiter von Paul Nolte ist Hanno Hochmuth Anfang der 2000er-Jahre auch maßgeblich daran beteiligt, den Masterstudiengang „Public History“ an der Freien Universität aufzubauen. „Einen derartigen Studiengang gab es damals in ganz Deutschland nicht“, unterstreicht er. „Und Berlin mit seiner einzigartigen Erinnerungslandschaft war der ideale Standort.“ Heute gehört der 2008 eingeführte Studiengang zu den renommiertesten seiner Art. Zahlreiche Absolventinnen und Absolventen vermitteln aktuell Geschichte in Museen, Gedenkstätten und in den Medien. In der Ernst-Reuter-Gesellschaft sind die Alumni und Alumnae des Studiengangs in einem eigenen Kapitel organisiert. Hochmuth ist im Vorstand dieses Kapitels aktiv. „Wir führen unsere jährliche Mitgliederversammlung gemeinsam mit der Begrüßung der neuen Studierenden durch“, sagt er. „So starten die Neuen bereits bestens vernetzt in ihren Master.“ Mit den Mitteln, die das Kapitel über die ERG erhält, können Projekte der Studierenden gefördert werden. Bisher seien so beispielsweise Podcasts, Audio-Führungen und mehrere Publikationen entstanden. Auch gemeinsame Exkursionen, etwa nach Warschau oder Wien, konnten organisiert werden.

Neben seiner Arbeit als Historiker und Autor engagiert sich Hochmuth auf vielfältige Weise. Als Experte für Berliner Stadtgeschichte hat er unter anderem die Produzenten der Serie „Babylon Berlin“ – die im Berlin der 1920er-Jahre spielt, in mehr als 100 Länder weltweit exportiert wurde und das internationale Bild der Hauptstadt auf diese Weise maßgeblich prägt – beraten und selbst als Komparse mitgespielt.

Inwieweit ist Berlin also nicht nur Rom, sondern auch wieder Babylon? „In der Tat haben einige Menschen heute den Eindruck, dass wir in den ‚neuen Zwanzigern’ leben“, betont Hochmuth. „Eine zunehmend fragmentierte politische Landschaft, der Aufstieg von rechtspopulistischen und radikalen Kräften, Gewalt gegen Politiker – das erinnert manche an Weimarer Zeiten.“ Tatsächlich zeige der Blick in die Geschichte, dass man sich niemals allzu sicher fühlen dürfe, ob erreichte Fortschritte für immer bestehen bleiben. Doch gebe es heute einen entscheidenden Unterschied zur Weimarer Republik: einen breiten Konsens für den demokratischen Rechtsstaat.

„Die Berliner Republik“, ist Hochmuth überzeugt, „hat viele Freundinnen und Freunde.""