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„Wir müssen das bewahren, was wir jetzt haben“

Schriftsteller und Biologe: Alumnus Dr. Bernhard Kegel Universität teilt seine Expertise in Wissenschaftsromanen wie Sachbüchern und spart dabei nicht mit Kritik am Umgang der Menschen mit der Natur. Ein Porträt.

05.08.2024

Biologe Kegel: „Reaktionen der Natur auf unseren Umgang mit ihr sind zu erwarten.“

Biologe Kegel: „Reaktionen der Natur auf unseren Umgang mit ihr sind zu erwarten.“
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Dr. Bernhard Kegel ist Schriftsteller und Biologe. Der Alumnus der Freien ­Universität teilt seine Expertise in Wissenschaftsromanen wie Sachbüchern und spart dabei nicht mit Kritik am Umgang der Menschen mit der Natur. An eine ganz so düstere Zukunft wie jene, die er in seinem neuesten Roman „Gras“ für Berlin zeichnet, glaubt er zwar nicht. Dass sich unsere Welt ver­ändern wird, ­damit rechnet Kegel aber fest und blickt als Wissenschaftler auch mit ­entsprechender Neugierde auf die Folgen des Klimawandels. Eine Begegnung im „Jahr der Biodiversität“ an der Freien Universität. 

Berlin-Wilmersdorf, ein trüber Donnerstag, der sich kaum nach Sommer anfühlt. Um den Bundesplatz rauscht der Autoverkehr in alle Richtungen, ein paar Marktstände haben sich auf der Verkehrsinsel aufgebaut. Bernhard Kegel kommt zum Treffen in Ledersandalen und dunkelblauem Hemd, die Ärmel hat er hochgeschoben, der Nieselregen stört ihn nicht. Kegel schaut sich wohlwollend um. Er mag den Bundesplatz. Hier lebte er jahrelang mit seiner Partnerin und den beiden Söhnen, bis eine Eigenbedarfskündigung ihn zum Umzug zwang. Noch immer ärgert er sich darüber. Vielleicht ist es also kein Zufall, dass er in seinem neuesten Roman „Gras“ zumindest literarisch in sein altes Viertel zurückgekehrt. Erstmals hat der Schriftsteller als Schauplatz seine Heimatstadt gewählt, und erstmals schreibt er aus der Ich-Perspektive.

Schon nach wenigen Seiten aber wird klar: Der Bundesplatz des Romans hat nicht viel mit dem Ort gemeinsam, an dem Kegel gerade in den langsam wieder aufklarenden Himmel blinzelt. Wie schon einige andere seiner Bücher nimmt nämlich auch „Gras“ eine Wendung ins Fiktionale: Vom Bundesplatz aus lässt Kegel Berlin von einer invasiven Graspflanze überwuchern, die sich, von Anwohnern wie Passanten zunächst nicht einmal bemerkt und später viel zu lange nicht ernst genommen, unaufhaltsam über das gesamte Stadtgebiet ausbreitet und das urbane Leben allmählich zum Erliegen bringt – bis ganz Berlin evakuiert werden muss.

Aber ist das wirklich alles reine Fiktion? Oder nicht eine Metapher, eine Szene, die – zugegeben arg überspitzt – vor Augen führen möchte, wie die Menschheit etwa den Klimawandel so gekonnt ignoriert, dass es irgendwann vielleicht zu spät ist? Kegel ist promovierter Biologe. Während er sich in seinen zahlreichen Sachbüchern immer streng an die Fakten halte, erlaube er seinen Romanen natürlich auch fiktionale Elemente, sagt er. Doch sind es allesamt wissenschaftliche Romane, er denkt darin biologische Phänomene und Entwicklungen weiter und entfernt sich dabei meist nur so weit von der Wirklichkeit, dass Lesende immer wieder innehalten können, um sich selbst zu fragen: Wäre etwas Derartiges nicht tatsächlich denkbar?

Autor Dr. Bernhard Kegel las in der Friedenauer „Nicolaischen Buchhandlung“ aus seinem neuen Roman „Gras“.

Autor Dr. Bernhard Kegel las in der Friedenauer „Nicolaischen Buchhandlung“ aus seinem neuen Roman „Gras“.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

„Dass die Szenen mit dem alles überwuchernden Gras in vielen Rezensionen als dystopisch bezeichnet werden, überrascht mich trotzdem etwas“, betont Kegel. Denn so habe er es beim Schreiben eigentlich gar nicht verstanden. Er halte die Vorstellung einer verlassenen, von der Natur zurückeroberten Stadt, ähnlich wie die Protagonistin seines Buches, für „sehr reizvoll und spannend“. Nur konsequent, bezeichnet er sich doch als „geborenen Biologen“: Solange er zurückdenken könne, habe er Biologe werden wollen, habe dem Studium richtig entgegengefiebert. „Meine erste Vorlesung konnte ich kaum erwarten“, sagt er.

Sein Traum sei zunächst gewesen, Molekularbiologe zu werden, möglicherweise, sagt Kegel schmunzelnd, weil er 1953 geboren wurde, im selben Jahr, in dem die Struktur der Erbsubstanz DNA entschlüsselt wurde. Biochemie sei damals noch kein eigenständiger Studiengang gewesen, deshalb studierte Kegel zunächst Chemie. „Nach dem Vordiplom habe ich es mir dann aber anders überlegt.“ Er legte die Molekularbiologie ad acta und konzentrierte sich stattdessen auf die Zoologie, „weil ich doch lieber im Dreck wühlen wollte, statt im Labor zu stehen“.

Sein Biologie-Diplom erhielt Kegel an der Freien Universität, später promovierte er an der Technischen Universität. Es waren die 1970er-Jahre, der Westteil Berlins war von der Mauer umgeben. „Und so begnügten wir uns mit der Natur, die wir hier in der Stadt fanden“, erinnert sich Kegel: „Gräser, Bäume, Insekten. Wer genau hinschaut, findet überall Natur.“ Diesen Blick fürs Detail, für kleine Halme zwischen Asphalt und Kopfsteinpflaster, habe er sich bis heute bewahrt, hat der 70-Jährige wenige Tage zuvor bei einer Lesung in der „Nicolaischen Buchhandlung“ in Friedenau erzählt und mit dem Publikum anschließend über biologische Vielfalt im urbanen Raum geplaudert: Ja, er sei Schriftsteller, aber vor allem sei er Biologe.

Skeptischer Blick: Wird Berlin eines Tages von Gras überwuchert? Ganz so düster sieht es der Biologe Dr. Bernhard Kegel nicht.

Skeptischer Blick: Wird Berlin eines Tages von Gras überwuchert? Ganz so düster sieht es der Biologe Dr. Bernhard Kegel nicht.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

An sein Studium habe er viele schöne Erinnerungen, sagt Kegel, er denke gern an die Zeit zurück, seine WG in Charlottenburg, die Kommilitoninnen und Kommilitonen, die Vorlesungen. Dem alten Hörsaal in der Zoologie mit den hölzernen Klappsitzen hat er sogar eine Szene in seinem erfolgreichsten Roman „Das Ölschieferskelett“ gewidmet. „Damals war das Studium noch nicht so verschult wie heute, wir hatten Zeit, in unterschiedliche Themen reinzuschnuppern, auch wenn diese uns nicht gezielt auf den Abschluss hingeführt haben.“ Aufregender als heute sei es auf dem Campus wohl auch gewesen. „Es war eine politisch aktive Zeit, mit studentischen Streiks, Besetzungen, Demonstrationen, dem AStA und radikal linken Studierendengruppen, den sogenannten ‚K-Gruppen‘.“

Den Fokus verliert Kegel im Studium aber nie, der Wunsch, Biologe zu werden, sei eine Konstante in seinem Leben gewesen. Er sei immer schon gut strukturiert gewesen, zu „geerdet“, um sich von seinem wissenschaftlichen Weg abbringen zu lassen, und habe auch seine freie Zeit immer aktiv genutzt. Neben dem Studium ging er seiner Leidenschaft für Jazzmusik nach, spielte Gitarre in mehreren Bands und schaffte es darüber hinaus als Volleyballer bis in die Bundesliga. Die gute Selbstorganisation sei es bis heute, die ihn auch an zähen Tagen am Schreibtisch halte. So schaffe er ein Buchmanuskript pro Jahr.

1993 erschien sein erstes Buch, der Roman „Wenzels Pilz“, den er zu großen Teilen auf Collegeblöcken im Griechenlandurlaub schrieb, „weil ich das Gefühl hatte, diese Geschichte loswerden zu müssen“. Es geht um einen genmanipulierten Pilz, der außer Kontrolle gerät. 1996 gelang ihm mit „Das Ölschieferskelett“, einer archäologischen Zeitreise-Geschichte, die zunächst von mehreren Verlagen abgelehnt wurde, sein bislang größter Erfolg. Seitdem kann er vom Schreiben leben und hat neben fünf weiteren Romanen auch acht Sachbücher veröffentlicht. Das Manuskript seines neuesten Buchs hat er gerade abgegeben. „Mit Pflanzen die Welt retten“ heißt es und sucht in der Natur nach Lösungen für die Erderwärmung.

Die Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur ist Kegels großes Thema. Als Wissenschaftler sei ihm dafür oft Spott entgegengebracht worden. „Ich habe oft überlegt, warum Leute es so abwegig finden, sich zum Beispiel mit Käfern zu beschäftigen“, betont er. Insgesamt beobachte er eine „sehr beklagenswerte Gleichgültigkeit gegenüber dem, was mit der Tier- und Pflanzenwelt passiert“. Dass viele der Wissenschaft so wenig Bedeutung beimessen, etwa indem sie den Klimawandel leugneten, mache ihn fassungslos, sagt er. „Ich habe es aufgegeben, Menschen im Gespräch vom Wert der biologischen Vielfalt und den Gefahren der Erderwärmung überzeugen zu wollen, weil mich ihre Ignoranz wirklich deprimiert.“ Gehör findet er trotzdem: In seinen Sachbüchern stellt er Zusammenhänge dar und präsentiert wissenschaftliche Lösungsansätze. Die Hauptpersonen seiner Romane beziehen ebenfalls klar Stellung. In „Gras“ etwa lässt er seine Protagonistin sagen: „Kurz vor dem Kollaps hatte die Natur begonnen, sich zu wehren.“

Ob er das als Biologe für denkbar hält? Kegel sagt: „Reaktionen der Natur auf unseren Umgang mit ihr sind zu erwarten.“ Er glaube zwar, dass Flora und Fauna am Ende „immer gewinnen werden“. Langfristig werde die Natur aber nicht mehr jene sein, „die wir heute kennen“. Grund zur Entspannung sei diese Perspektive übrigens auch nicht: „Wir können uns doch nicht im Ernst damit beruhigen, dass die Natur sich nach ein paar Millionen Jahren wieder erholt. Wir müssen das bewahren, was wir jetzt haben.“

Obwohl Bernhard Kegel dem Labor vor vielen Jahren den Rücken gekehrt hat, ist er der Biologie beruflich weiterhin jeden Tag ganz nah. Es sei sein größtes Glück als Autor, sich immer wieder in für ihn völlig neue biologische Sachverhalte und Themengebiete einarbeiten zu können, wenn sie ihn interessieren. Ob er noch einen Roman schreibt, kann er nicht mit Gewissheit sagen. Neue Sachbuchideen schwirrten ihm aber bereits im Kopf herum. „Ich bin weiter neugierig, möchte so viele Dinge noch wissen“, unterstreicht er. „Das ist auch das Schöne an der Wissenschaft: Man kann immer wieder neue Fragen stellen und wird wohl doch nie alles erfahren.“