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Demokratie – eine Frage des Glaubens?

Podiumsdiskussion zur Rolle der Religion in Deutschland und Israel mit Rainer Kampling, Ellen Ueberschär, Tuvia Ben-Chorin und Micha Brumlik

24.02.2015

Rainer Kampling, Professor für Katholische Theologie an der Freien Universität, im Gespräch mit dem israelischen Rabbiner Tuvia Ben-Chorin von der Jüdischen Gemeinde Berlin.

Rainer Kampling (r.), Professor für Katholische Theologie an der Freien Universität, im Gespräch mit dem israelischen Rabbiner Tuvia Ben-Chorin von der Jüdischen Gemeinde Berlin.
Bildquelle: Sebastian Pfütze, Bertelsmann Stiftung

Auf dem Podium (v.l.n.r.): Erziehungswissenschaftler M. Brumlik, Moderator S. Engelbrecht, Rabbiner T. Ben-Chorin, Katholischer Theologe R. Kampling und die Generalsekretärin des Evangelischen Kirchentags E. Ueberschär.

Auf dem Podium (v.l.n.r.): Erziehungswissenschaftler M. Brumlik, Moderator S. Engelbrecht, Rabbiner T. Ben-Chorin, Katholischer Theologe R. Kampling und die Generalsekretärin des Evangelischen Kirchentags E. Ueberschär.
Bildquelle: Sebastian Pfütze, Bertelsmann Stiftung

Rainer Kampling sieht die gegenwärtigen und zukünftigen Beziehungen zwischen Israel und Deutschland weiterhin positiv: Die fehlende Trennung von Staat und Religion, wie in Israel, müsse nicht zwangsläufig zu schlechteren diplomatischen Beziehungen zu anderen Ländern führen, sagte der Professor für Katholische Theologie an der Freien Universität. Wichtig sei es allerdings zu wissen, wie orthodoxe Kräfte in Israel langfristig an einer demokratischen Gesellschaft mitwirken wollten. Kampling war einer von vier Experten der von Deutschlandradio und Bertelsmann Stiftung veranstalteten Podiumsdiskussion zum Thema „Heiliges Land und säkularer Staat: Die Rolle der Religion in Deutschland und Israel“. Anlass war das 50-jährige Bestehen der diplomatischen Beziehungen beider Länder.

In Israel stehe Religion im Mittelpunkt eines Kulturkampfes, der das Land spalte, eröffnete Sebastian Engelbrecht das Gespräch. Der ehemalige Israelkorrespondent des Deutschlandradios moderierte die Podiumsrunde, an der neben Rainer Kampling der israelische Rabbiner Tuvia Ben-Chorin von der Jüdischen Gemeinde Berlin teilnahm, der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik vom Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg und die evangelische Theologin und Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentags Ellen Ueberschär.

Bertelsmann-Studie: In der jüngeren Generation steigt der Anteil der Ultraorthodoxen

Gut die Hälfte der jüdischen Bevölkerung sei nicht religiös, führte Engelbrecht aus, ein knappes Viertel lebe traditionell – das heißt, nach den jüdischen Bräuchen und Traditionen, aber mitten in der Gesellschaft –, und zehn Prozent seien ultraorthodox. Die säkulare Mitte fordere „laut und vernehmlich“ einen weltanschaulich neutralen Staat, die strengreligiösen Juden bestünden dagegen auf züchtiger Kleidung für Frauen und Geschlechtertrennung in Bussen. Die modern auftretenden Nationalreligiösen forderten, Israel zum Nationalstaat des jüdischen Volkes zu ernennen, in dem Menschen anderer ethnischer und religiöser Zugehörigkeit weniger Rechte hätten. Wichtige gesellschaftliche Funktionen, zum Beispiel, dürften dann nur von Juden besetzt werden. Engelbrecht verwies auf eine aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung, der zufolge in der jüngeren Generation der Anteil der religiösen, ultraorthodoxen und politisch nach rechts tendierenden Menschen höher sei als im Durchschnitt der Bevölkerung und weiter wachse. In der nächsten Generation könnte bereits die Hälfte der Juden ultraorthodox sein, sagte Engelbrecht.

Fehlende Trennung von Staat und Religion

Wenn religiös-konservative Gruppen an die Macht kämen – ganz gleich in welchem Land – führe das zu „Problemen mit den Menschenrechten“, sagte Rainer Kampling. Derzeit sind in Israel keine ultraorthodoxen, wohl aber nationalreligiöse Gruppen an der Regierung beteiligt. Jahrzehntelang seien die Orthodoxen in Israel dafür kritisiert worden, sich zu wenig gesellschaftlich zu beteiligen, sagte Kampling. „Jetzt beteiligen sie sich, und man betrachtet auch das als Problem.“

Auch 67 Jahre nach seiner Gründung hat Israel noch keine endgültige Verfassung. Das Verhältnis von Staat und Religion ist deshalb nicht gesetzlich geregelt. Eheschließungen und Scheidungen etwa werden von den unterschiedlichen Religionsgemeinschaften geregelt. Für das Judentum hat das orthodoxe Oberrabbinat dieses Privileg.

„Wir leben in einem 'overpromised land'"

Nach Ansicht Micha Brumliks müsse sich Israel endlich eine säkulare Verfassung geben, weil nur diese einen wirklich demokratischen Staat erlaube. Der liberale Reformrabbiner Ben-Chorin hingegen argumentierte, Israel brauche noch Zeit. Er fürchtet, in der gegenwärtigen politischen Situation könne eine Verfassung den jüdischen Nationalstaat festschreiben, der Sicherheit dadurch gewinnen wolle, dass er die Palästinenser kontrolliere, anstatt sich mit innergesellschaftlichen Problemen zwischen den Religionen auseinanderzusetzen. „Wir leben in einem ‚overpromised land‘“, sagte Ben-Chorin, und bezeichnete damit ein mit Verheißungen und Erwartungen überladenes Land. Damit müsse sich Israel viel intensiver beschäftigen.

Der eigentlich kritische Faktor für die Beziehungen zwischen Israel und Deutschland sei aber nicht die Religion, sondern die deutsche Haltung zur Siedlungs- und Sicherheitspolitik Israels, darin waren sich die Diskutanten einig.

Wenn Israel, wie vom nationalreligiösen Minister Naftali Bennett gefordert, weite Teile des Westjordanlands annektieren würde, wäre dies ein „völkerrechtswidriger Akt“, sagte Micha Brumlik, den Deutschland nicht akzeptieren könne und der eine diplomatische Krise verursachen würde.

Plädoyer für Kirchen: „stabilisierend für die Gesellschaft"

Grundsätzlich haben Deutsche und Israelis der Bertelsmann-Studie zufolge ein positives Bild vom jeweils anderen Land. Dennoch seien jüngere und konservative Israelis stärker deutschlandkritisch, fanden die Autoren heraus. Gleichzeitig habe der Gaza-Krieg im Sommer 2014 die Meinung der Deutschen gegenüber Israel verschlechtert. Hinzu komme, dass vor allem immer mehr junge Deutsche einen Schlussstrich unter den Holocaust ziehen wollten und sich für Israel in keiner besonderen Verantwortung mehr sähen.

Während Brumlik die Schlussstrichdebatte als nationales Problem der deutschen Identität interpretierte, betonte Ellen Ueberschär, dass der Verlust von christlichem Wissen einhergehe mit dem Verlust von Wissen um die jüdischen Wurzeln des Christentums. Kirchen hätten eine „stabilisierende Funktion in der Gesellschaft“, sagte Ueberschär. Sie seien Orte, an denen die Menschen über ihre Ängste sprechen könnten. In Ostdeutschland, wo die Säkularisierung zu Zeiten der DDR erzwungen worden sei, „wandern die Ängste auf die Straße“, wie die Pegida-Bewegung deutlich gemacht habe, so Ueberschär. Theologieprofessor Rainer Kampling ergänzte, dass religiöse Institutionen das „Einüben einer Erinnerungspraxis“ ermöglichten.

Vom Ziehen eines Schlussstrichs unter den Holocaust und die Schulddebatte hält der Theologe nichts. Schließlich hätten durch die Enteignung jüdischer Eigentümer durch die Nazis „nicht wenige Deutsche von der Shoa profitiert“. In der „massenhaften Bereicherung nicht-jüdischer Deutscher am Eigentum ihrer jüdischen Nachbarn“ sieht Kampling eine „Schuldübertragung durch Grundbucheintrag". Die Forderung nach einem Schlussstrich sei deshalb nicht nur in der wachsenden Säkularisierung Deutschlands begründet, sondern auch Ausdruck „menschlicher Habgier“.

Aus vergangenem Leid lernen

Ben-Chorin forderte eine Erinnerungskultur, die aus vergangenem Leiden lerne und positive Erinnerungen an gemeinsam zurückgelegte Wege schaffe. Dies sei besonders gut möglich in Berlin – „Stadt des Leidens und Stadt der Wunder“ –, wo einerseits die Vernichtung des jüdischen Volks auf der sogenannten Wannsee-Konferenz im Januar 1942 geplant und organisiert worden sei und es andererseits seit den 1950er Jahren Jugendaustausch-Programme zwischen Israelis und Deutschen gegeben habe. Zu diesen positiven Erinnerungen gehört auch eine strategische Partnerschaft zwischen der Freien Universität Berlin und der Hebrew University of Jerusalem. Erste Kontakte wurden bereits in den 1950er Jahren geknüpft.

Dieser Text wurde ursprünglich am 24.02.2015 in campus.leben, dem Online-Magazin der Freien Universität Berlin, veröffentlicht.