Springe direkt zu Inhalt

Laudatio von Jutta Limbach

Laudatio für Seyran Ates anlässlich der Verleihung des Margharita-von-Brentano-Preises 2006

von Prof. Dr. Jutta Limbach

Ehre wem Ehre gebührt
Wir sagen gern „Ehre wem Ehre gebührt.“ Das bedeutet: Ehre will durch vorbildliches Verhalten verdient sein. Wir schätzen Seyran Ates wegen ihres selbstlosen und couragierten Handelns, das immer darauf abzielte, das Leben der sozial Schwachen zu erleichtern. Wir bewundern ihr soziales Verständnis und ihren Sinn für Gerechtigkeit.

Seyran Ates hat am eigenen Leibe erlebt, dass muslimische Frauen und Mädchen häufig gegenüber dem männlichen Geschlecht benachteiligt und körperlich bedroht werden. Gewalt und Unfreiheit, die sie schon als Kind erfahren hat, vermochten sie nicht zu zerbrechen oder sie zur passiven Duldsamkeit zu erziehen. Diese bitteren Erfahrungen haben ihren Widerspruchsgeist immer nur bestärkt und früh ihren Entschluss reifen lassen, Jura zu studieren und sich für Frauenrechte einzusetzen.

Als Rechtsanwältin, die sich gern als linke feministische Migrantin bezeichnet, tritt sie für das Recht auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit von Frauen ein, kämpft gegen Kopftuchzwang, häusliche Gewalt, Zwangsverheiratungen und Ehrenmorde.

Der Mythos von der Familienehre

Seyran Ates hat der Maxime der Freien Universität alle Ehre gemacht, indem sie sich stets für Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit eingesetzt hat. Das Wort „Ehre“ dürfte in unserer Preisträgerin allerdings zwiespältige Gefühle wachrufen. Denn mit dem Argument der Familienehre ist ihr die Elternwohnung zum Gefängnis gemacht worden. Töchter verkörperten für ihre Eltern und deren Landsleute die Familienehre. Sie mussten daher vor allen Gefahren der westlichen Gesellschaft, vor allem vor den deutschen Ureinwohnern geschützt werden. Dabei sei nicht verschwiegen, dass zu den Ängsten der Eltern auch die sexuelle Revolution im Deutschland der siebziger Jahre und der mediale Exhibitionismus beigetragen haben. Darum möchte Seyran Ates verständlicherweise auch nicht den Stab über ihre Eltern brechen.

„Mädchen sind so wertvoll wie Gold“, so hat es ihr einmal ein Bekannter gesagt,. „Am schönsten sei es, wenn sie poliert und in die Vitrine gestellt würden, damit sie nicht beschmutzt werden könnten.“ Bei der Vorstellung, sie könnte den Rest ihres Lebens in einer Vitrine verbringen, ist Seyran Ates angst und bange geworden. Und je älter sie wurde, desto weniger war sie bereit, sich „wie Dreck behandeln zu lassen“, nur weil sie „ein Mädchen war und über ein Stück Haut verfügte“, für das die Eltern „bereit waren, die Welt auf den Kopf zu stellen.“ Seyran Ates pfiff darauf, die Ehre der Eltern zu sein. (So S.A., Große Reise ins Feuer, Die Geschichte einer deutschen Türkin, 2006, S.106.)

Die „Vorzeigetürkin“

Dabei gab es viele Gründe für Seyran Ates´ Eltern auf ihre Tochter stolz zu sein. Obgleich aus einem „bildungsfernen“ Elternhaus stammend war sie häufig die beste Schülerin ihrer Klasse, auf dem Gymnasium sogar die Schulsprecherin. Schon frühzeitig zeichnete sie sich durch Wissbegier und Lernfreude aus. Sie lernte die deutsche Sprache so schnell und gut, dass sie schon als Sechsjährige die Eltern bei ihren Behördengängen und Arztbesuchen als Übersetzerin begleiten konnte.

Widersprüchliche ausgrenzende Erfahrungen blieben ihr gleichwohl nicht erspart. So diente sie in der Schule gern als „Vorzeigetürkin“. War sie die Einzige, die sich meldete, hieß es gern: „Nun sagt euch eine Türkin die richtige Antwort.“ Was  - wie sie es so treffend schreibt -  wenig der Völkerverständigung diente. Andererseits veranlasste ihre südländische Erscheinung so manchen unaufgeklärten Bürger dazu, mit ihr ein verkümmertes, auf Indikative verkürztes (Tarzan-)Deutsch zu sprechen.

Die alltägliche Gratwanderung

Seyran Ates hat sich seit ihrer Einschulung zwischen zwei einander fremden Welten bewegen müssen. Sie hat dabei wenig Hilfe aus der Erwachsenenwelt empfangen. Die Vorurteile auf beiden Seiten, die Schwierigkeiten der Eltern, sich in der deutschen Sprache verständlich zu machen, isolierten das  Kind in beiden Bereichen, in der Schule wie im Elternhaus.

Ihrer Willensstärke und ihrer Reflektion des alltäglichen Geschehens ist es zu danken, dass sie sich als Grenzgängerin zu behaupten lernte. Früh hat sie eine Sensibilität für das Wirken und die Herkunft von Vorurteilen entwickelt. Bald hat sie begriffen, dass sich die Vernunft nicht nur auf einer Seite aufhält. Je älter sie wurde, desto klarer sah sie, dass Integration ein Prozess auf Gegenseitigkeit ist.

Gewalt als Folge einer missglückten Integration

Seyran Ates ist eine mit vielen Preisen ausgezeichnete Frau. Seit sie ihre Zulassung als Rechtsanwältin zurückgegeben hat, zollen ihr die Medien große Aufmerksamkeit. So sahen wir sie jüngst in einer Talkshow, während der sie für den Verfassungspatriotismus eintrat. Die öffentliche Wertschätzung darf nicht darüber hinweg täuschen, dass wir, wo wir loben, eigentlich ein gesellschaftliches Versagen zu beklagen haben:

Wir haben es nicht vermocht, dafür zu sorgen, dass eine sich für muslimische Frauen und Mädchen engagierende Rechtsanwältin unerschrocken ihren Berufspflichten nachgehen kann. Was in einem Rechtsstaat selbstverständlich sein sollte. Dabei geht es nicht so sehr um ein Versagen der Polizei. Dieser dürfte es wohl möglich sein, die Sicherheit von Seyran Ates zu gewährleisten. Zu beanstanden ist, dass ein solcher Personenschutz überhaupt notwendig ist. Die Seyran Ates bedrohende Gewalttätigkeit ist letztlich Resultat der misslungenen Integration muslimischen Zuwanderer und ihrer Nachkommen.

Abgesang auf die multikulturelle Gesellschaft

Die Gewalt gegen muslimische Frauen und Mädchen wie der islamistische Terror in Europa haben zu einem Abgesang auf die Idee einer multikulturellen Gesellschaft geführt. Die bittere Gewalterfahrung türkischstämmiger Frauen und Mädchen sollten uns zwar aus unseren idealistischen Welten herabholen, aber nicht eine gute gesellschaftspolitische Idee zu Grabe tragen lassen. Denn weder die Ehrenmorde und Zwangsheiraten noch der islamistische Terror in Europa sind Resultate der Idee von der friedlichen Koexistenz unterschiedlicher Kulturen. In diesem Punkte bin ich mit Birgit Rommelspacher einer Meinung: Nicht das Konzept einer multikulturellen Gesellschaft ist gescheitert, sondern unsere Integrationspolitik. Sofern es überhaupt eine gegeben hat. Zu beklagen ist unsere Ignoranz und Gleichgültigkeit gegenüber dem durch Gewalt und Ungleichheit geprägten Alltag muslimischer Frauen und Mädchen in unserer Gesellschaft.

Trügerische Frauensolidarität

Offenbar hat auch die von uns so gern gepriesene Frauensolidarität versagt. Selbst in dem Kreuzberger Frauenladen TIO, in dem deutsche und türkische Frauen zusammengearbeitet haben, scheint es keinen Gleichklang im Denken und Handeln gegeben zu haben. Das betrübt mich ungemein, als ich selbst seinerzeit gemeinsam mit Marlies Dürkop diesen Treffpunkt „Berlin-forschend“ begleitet habe. Bekümmert habe ich in Seyran Ates’

Buch „Große Reise ins Feuer“ (S. 148) gelesen:
„Es waren deutsche Frauen, die auf die Idee kamen, Beratungsläden für Frauen aus der Türkei zu eröffnen. Sie waren es auch, die irgendwann Türkisch sprechende Kolleginnen hin zuzogen, weil ihr Türkisch nicht ausreichte oder sie gar kein Türkisch sprachen. Die türkischen Kolleginnen sollten aber lediglich als Sprachmittlerinnen dienen. Migrantinnen, die ebenfalls über eine Qualifikation im sozialen Bereich verfügten und eigene Ansichten über die Arbeit hatten, waren nicht besonders gern gesehen. Die stets geleugnete Macht wollten die deutschen Kolleginnen nicht unbedingt aus der Hand geben.

In einer solchen Situation befanden wir uns auch im TIO. Wobei zu sagen ist, dass bei uns die Atmosphäre ganz erträglich war. In anderen Frauenläden hatten die türkischen und kurdischen Mitarbeiterinnen noch weniger Mitspracherecht.“

Ich möchte heute nicht darauf eingehen, dass meine Erfahrungen sich mit denen von Seyran Ates nur zum Teil decken. Es gab wohl Streit über Macht, Autorität und Kompetenz. Aber ich habe damals nicht verstanden, warum sich diese Auseinandersetzungen entlang ethnischer Bruchlinien abspielten. Haben wir  - die einheimischen Frauenpolitikerinnen -  zuwenig über das Herkommen und Leben unserer türkischen Schwestern gewusst? Haben wir aus Unkenntnis und Mangel an Empathie ohne weiteres unsere Verhaltensstandards angelegt?

Wir kennen dieses Problem aus der Frauenforschung. Mit diesem haben sich wiederholt jene Wissenschaftlerinnen auseinandersetzen müssen, die sich in ihren wissenschaftlichen Projekten von der Absicht leiten ließen, Frauen auf dem Weg zur Selbständigkeit zu unterstützen. Sie haben in der alltäglichen Praxis lernen müssen, dass Parteilichkeit mit einer gehörigen Portion von Feinfühligkeit und Selbstzweifel geübt werden muss, soll sie nicht in Bevormundung ausarten. Heute vor diese Aufgabe gestellt, würde ich vorher die Bücher von Seyran Ates und viele Texte ihrer türkischen Leidens- und Kampfgefährtinnen lesen. Übrigens hat der Fachbereich Rechtswissenschaft hat zu Recht ihre literarische Produktivität und ihre gesellschaftspolitische Beredsamkeit gelobt. Sie schreibt und spricht ein gleichermaßen luzides wie schönes, schlichtes Deutsch.

Was zu tun ist

Die taz titelt heute „Starke Mädchen leben gefährlich“. Seyran Ates hat es als Mitarbeiterin des Kreuzberger Frauenladen TIO am eigenen Leibe erlebt. Sie wurde dort im Jahre 1984 so schwer verletzt, dass sie erst nach mehreren Jahren ihr Rechtsstudium wieder aufnehmen konnte. Die Frau, die sie gerade beraten hatte, überlebte das Attentat nicht.

Aber nicht nur das Schicksal dieser beiden Frauen belegt jene Behauptung von der Lebensgefahr starker Mädchen. Die Zeitung erinnert daran, dass heute vor zwei Jahren Hatun Sürücü von ihrem Bruder erschossen wurde, weil sie sich die Freiheit herausgenommen hatte, ein selbst bestimmtes Leben zu führen. Das Ausbrechen aus familiären Zwangsverhältnissen erfordert Kraft und Beistand.

Seyran Ates hat beides bewiesen. Den Beistand schulden auch wir, nicht nur die frauenpolitisch engagierten Geschöpfe, sondern die Gesellschaft und die Politik. Der Mord an Hatan Sürücü hat seinerzeit „Empörung in Orkanstärke“ (taz) ausgelöst. Doch den Worten sind kaum Taten gefolgt. Die wenigen Initiativen, ob gesetzliche oder praktische, sind im Sande verlaufen, an der Bürokratie oder an finanziellen Engpässen gescheitert. Liebe Ladies, nicht nur die Frauenforschung hat nach wie vor zu tun. Vor allem die Frauen- und Gleichstellungspolitik hat die hehren Ideen in die Wirklichkeit umzusetzen.

Gewiß ist der heutige Preis ein sichtbares Zeichen der Unterstützung für das gesellschaftspolitische Denken und Handeln von Seyran Ates. Doch das darf nicht alles gewesen sein. Jede und jeder von uns sollte darüber nachdenken und entscheiden, wo und wie sie oder er gegen die Gewalt und Ohnmacht wie gegen den Zwang angehen kann, die muslimische Frauen und Mädchen in unserer Gesellschaft erfahren. Ich gehöre als Juristin nicht zu jenen, die angesichts eines gesellschaftlichen Missstands gleich nach dem Gesetzgeber rufen. Gleichwohl werde ich eine Initiative von Seyran Ates aufgreifen und unterstützen. Ich meine die Schaffung einer eigenständigen Norm, die Zwangsheiraten unter Strafe stellt. Seyran Ates hofft mit einem solchen Straftatbestand Zwangsehen gesellschaftlich zu ächten und das Unrechtsbewusstsein  - vor allem der unmittelbar beteiligten -  Verwandten zu sensibilisieren. Sie vertraut hier auf den Obrigkeitssinn traditioneller türkischstämmiger Menschen.

Vorne an Juristinnen und Juristen finden, was die falsche Rücksichtnahme auf kulturelle Eigenheiten in der Rechtsprechung angeht, viele Möglichkeiten der Rechtskritik. Die Rechtsberatung sei nicht vergessen.

Der Margherita-von-Brentano-Preis 2006 sollte von der Universität und der Zivilgesellschaft nicht nur als Anerkennung für Zivilcourage verliehen werden. Er sollte darüber hinaus als eine Herausforderung begriffen werden, dem Beispiel von Seyran Ates zu folgen. Getreu der Devise: jeder einzelne Mensch und jede integrationsträchtige Tat zählen.

7.02.2007