Psychologische Beratung (H. - W. Rückert)
Beate blickt nicht mehr durch: In der Schule, noch vor einem Jahr, hatte sie nie Lernschwierigkeiten gehabt. Jetzt spürt sie schon seit einem Semester Angst, überhaupt zur Uni zu gehen. Manchmal überwindet sie sich, dann sitzt sie im überfüllten Seminar, kennt kaum jemanden. Wenn sie daran denkt, mitzudiskutieren oder eine Frage zu stellen, fürchtet sie, daß sie nur Unsinn äußern, sich blamieren wird. Also schaltet sie immer mehr ab. Einmal hat sie ein Referat gehalten, das ging sogar ganz gut, aber dann sollte sie es schriftlich abliefern, um einen Schein zu bekommen. Seitdem schiebt sie es vor sich her, aus ihren Notizen einen zusammenhängenden Text zu machen. Wenn die Eltern fragen, wie es ihr mit dem Studium geht, sagt sie: Gut, aber es geht nicht wirklich gut. Ob es am Studienfach liegt, für das sie sich entschieden hat? Es ist ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Soll sie wechseln? Sie hat Angst, daß es ihr bei einem anderen Fach wieder genau so gehen könnte, daß es an ihr liegt. Also abbrechen? Aber was dann? Beate wird immer bedrückter und schwankt in ihrem Verhältnis zu sich selbst zwischen Wut und Verachtung. Manchmal hat sie Selbstmordphantasien. Eine Freundin gibt ihr den Tip, zur Psychologischen Beratung der FU zu gehen. Sie verabredet einen Termin und trifft an einem Vormittag in der Brümmerstraße 50 zum ersten Mal die Psychologin in der Zentraleinrichtung Studienberatung und Psychologische Beratung (ZE). Etwas mulmig ist ihr schon vor dem Gespräch. Als sie nach einer knappen Stunde das Büro verläßt, fühlt sie sich erleichtert und hat zum ersten Mal seit langer Zeit wieder das Gefühl, ihr Leben in die Hand nehmen zu können. Die Psychologin hat ihr vorgeschlagen, zu weiteren vier Gesprächen zu kommen. Beate, die als erste und einzige ihrer Familie studiert, und bisher nur die Schule und das Leben in einer Kleinstadt kannte, wird in diesen Sitzungen Ziele für sich entwickeln: Welche Fachinhalte fesseln sie, welches neue Selbstkonzept kann sie für sich finden? Welche Arbeitstechniken muß sie erwerben? Mit welchen Methoden kann sie ihre Rede- und Versagensängste bekämpfen, die neben der Unvertrautheit mit der Situation an der Uni auch auf unrealistisch überhöhten Selbstansprüchen beruhen? Die Gespräche werden ihre Identitätsentwicklung voranbringen.
Anders Benno: Er hat sich aus dem Veranstaltungsprogramm der Psychologischen Beratung, das zu Beginn jedes Semesters im dicken blauen Vorlesungsverzeichnis, aber auch im Kommentierten Vorlesungsverzeichnis seines Fachbereichs veröffentlicht wird, gezielt einen Kurs ausgesucht: Vorbereitung auf das mündliche Examen. Bei der Vorbesprechung hat er erfahren, wie das Trainingsprogramm ablaufen soll: 10 Wochen lang, jede Woche zwei Stunden. Arbeitsplanung, gezielte Verbesserung der eigenen Prüfungsvorbereitung, Entspannungstraining, Einüben von Bewältigungsfertigkeiten auch für schwierige Situationen wie den gefürchteten blackout.
Barbara wird aus einer Klinik an die Psychologische Beratung der FU verwiesen. Sie wurde stationär aufgenommen, weil sie einen "Nervenzusammenbruch" hatte, nachdem sie durch ihre Zwischenprüfung gefallen war. In der Klinik hat man ihr gesagt, sie solle eine ambulante Psychotherapie machen, sich aber auch um ihre Prüfungsängste kümmern, die sich nach dem Mißerfolg erschreckend gesteigert hatten. Der Psychologe in der Zentraleinrichtung informiert sie über die verschiedenen Formen von Psychotherapie, darüber, welche von ihrer Krankenkasse bezahlt werden und welche nicht. Als das Gespräch auf die Prüfungsangst kommt, schlägt er ihr vor, in der ZE an einem Seminar gegen Prüfungsängste teilzunehmen. Dieses Seminar hilft besonders wirksam, wie gerade bei einer Evaluation mit Hilfe von Drittmitteln herausgefunden wurde, erklärt er ihr mit einem gewissen Stolz. Barbara ist es viel lieber, an einer solchen Gruppe teilzunehmen, als etwa die "angstlösenden" Tabletten zu schlucken, die der Arzt in der Klinik in Aussicht gestellt hatte.
Um die 800 Studierende, zwei Drittel von ihnen Studentinnen, suchen jedes Jahr mit ähnlichen Anliegen und Problemen die Psychologischen Beratung an der FU auf. 1996 kamen 450 zu einer Einzelberatung, die anderen nahmen an Gruppen teil. Die Nachfrage, die dreimal so groß ist, kann damit nicht befriedigt werden, schon gar nicht, nachdem 1,5 Stellen in den letzten Jahren weggekürzt wurden. Neben denjenigen, die bereits ernsthafte Probleme haben, möchten immer mehr Studierende an präventiven Angeboten teilnehmen, wie z.B. Kursen in der Technik systematischen Studierens, Rhetorikübungen oder Seminaren zum wissenschaftlichen Schreiben. Diese Angebote bieten studienbegleitend die Möglichkeit, Kompetenzen aus- oder aufzubauen. Andere helfen bei der Bewältigung akuter Schwierigkeiten, z.B.bei der Überwindung von Redeängsten oder dem "ewigen Aufschieben". Es gibt semesterbegleitende Trainingsgruppen für diejenigen, die Prüfungsängste abbauen, sich auf ein Examen vorbereiten oder Schreibhemmungen loswerden wollen. Am Ende des Studiums sind Bewerbertrainings durch die ZE besonders gefragt.
In den Einzelberatungen geht es am häufigsten um Lern- und Leistungsstörungen, um Motivationsprobleme und Prüfungsängste. Immer öfter ist auch eine "Therapieberatung" gefragt: Eine längerfristige psychotherapeutische Behandlung findet an der Universität nicht statt. 10% der Studierenden benötigen aber eine Behandlung und 5% nehmen sie auch auf. Angesichts des für Außenstehende unüberschaubaren seriösen und grauen "Markts" an Psychotherapie in Berlin ist es nur zu sinnvoll, sich vorher zu informieren. Die Psychologen/innen in der ZE, alle auch ausgebildete Psychotherapeuten/-innen, erörtern die Frage der Behandlungsbedürftigkeit und das Für und Wider von Behandlungsformen, ohne dabei die zentrale Bedeutung der persönlichen Identitätsbildung im Studium aus dem Auge zu verlieren.
Denn das Studium fällt in die Phase der Spätadoleszenz, die mit besonderen Anforderungen und entwicklungsbedingt mit einer erhöhten Krisenanfälligkeit einhergeht: sich endgültig von den Eltern zu trennen, gleichzeitig erwachsen und noch unfertig zu sein. Die Situation des Studierens verändert die Identitätsentwürfe, simultan aber sind schon als endgültig erscheinende Lebenswegentscheidungen (Beruf, Partnerschaft) zu treffen, was ohne Ertragen und Bewältigen von Angst und (Selbst-) Zweifeln nicht möglich ist.
Im ungünstigen Fall schaukeln sich die aus der Lebensgeschichte mitgebrachten Konfliktpotentiale, noch ungenügend entwikelte Bewältigungsfertigkeiten und Belastungsfaktoren aus der universitären Situation (z.B. Anonymität, Leistungs- und Prüfungsdruck, Unterforderung und Unverbindlichkeit, finanzielle Sorgen) so auf, daß schließlich Störungen entstehen können, die ohne professionelle Hilfe nicht angemessen oder gar nicht gemeistert werden. 58% der Studierenden geht es phasenweise während des Studiums "sehr schlecht". Auch nur vorübergehend auftretende psychische Störungen führen im Studium fast zwangsläufig zu einer Einschränkung der Leistungsfähigkeit und lösen schnell Angst und Depressivität aus, über die 20% derjenigen klagen, die die Psychologische Beratung aufsuchen. Studienabbrüche, unerwünschte Studienzeitverlängerungen bzw. Fachwechsel können Folgen solcher Störungen sein. Dabei ist zu beachten, daß es in der Regel gerade die "guten" Studierenden sind, die aufgrund ihrer Selbstansprüche konfliktanfälliger sind. Schnelle psychologische Hilfe unterstützt sie darin, ihre Begabung möglichst bald wieder ungestört zum Tragen zu bringen.
Die geglückte Bewältigung von Krisen, stellt eine wesentliche Voraussetzung für persönliche Weiterentwicklung, insbesondere hinsichtlich Leistungsbereitschaft und Selbstvertrauen, dar. Oft erfordert sie nur eine kurze, aber entscheidende professionelle Hilfe. Deswegen zeigt sich die Verantwortung, die die Universität für ihre Studierenden übernimmt, auch darin, daß weltweit jede angesehene Hochschule über eine Psychologische Beratungsstelle verfügt.