Französische Revolution oder "globale Sattelzeit"? Maßstäbe des Umbruchs von 1789
Prof. Dr. Daniel Schönpflug
Die Französische Revolution wurde schon von ihren Zeitgenossen als ein tiefer Einschnitt wahrgenommen – nicht nur, weil sie rapide Veränderungen mit sich brachte, sondern auch, weil mit den Ereignissen von 1789 ein neuer Modus politischer Veränderung entstanden zu sein schien. Die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts übernahm diese Umbruchserzählung der zeitgenössischen Akteur*innen. Das Jahr 1789 wurde zur Zäsur von Periodisierungen, zum Organisationsprinzip von Lehrbüchern und Studiengängen, von Publikationsorganen und Lehrstühlen an historischen Instituten, vielfach gar zum Inbegriff und Modell des historischen Umbruchs schlechthin.
Erst in den 1960er Jahren begann eine breitere kritische Reflexion über den Umbruch von 1789 und grundsätzliche Fragen wurden formuliert: War die Revolution wirklich ein Neuanfang oder überwogen die Kontinuitäten? Waren die dramatischen politischen Ereignisse 1789 wirkungsvoller als die allmählichen wirtschaftlich-gesellschaftlichen Veränderungen der Zeit? Wie weit reichte der französische Veränderungsimpuls – erfasste er Europa, gar die ganze Welt? War Frankreich überhaupt Auslöser von Veränderung oder selber nur Glied in einer Kette von Ursache und Wirkung? Reinhart Kosellecks Konzept der "Sattelzeit" muss als Versuch einer Synthese der von diesen Fragen ausgelösten Kontroversen gelesen werden. Doch seine Deutung war ihrerseits auch Ziel von Kritik – vor allem von Seiten der postmodernen Philosophie und der Mikrogeschichte. Was sind aus mehr aus zweihundert Jahren der Reflexion über das Thema im Jahr 2021 für Schlüsse zu ziehen, in einem Moment, wo die Welt von einer Pandemie in Atem gehalten wird, die man als einen "Umbruch im Umbruch" lesen kann?