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Seminar
SoSe 23: Medea im Prenzlberg - Familienhölle in der Gegenwartsliteratur
Robert Walter-Jochum
Kommentar
„Wer kinderlos ist und erfahren nicht hat / ob Kinder zu Lust uns oder Verdruß / einst werden, er ist, da er ihrer entbehrt, / vielfacher Beschwerniß enthoben.“ – so formuliert der Chor in Euripides’ Medea die Risiken, die es bedeuten kann, eine Familie zu gründen. Das familiäre Unglück – hier ausgelöst durch den fremdgehenden Gatten Iason, der Medea eintauscht gegen die Tochter des Königs Kreon – hat grausige Konsequenzen: Medea nutzt die eigenen Söhne als Überbringer vergifteter Geschenke an die Nebenbuhlerin und entscheidet sich schließlich dazu, ihre eigenen Nachkommen selbst umzubringen, um sie einer möglichen Rache durch die Korinther zu entziehen.
Ganz so dramatisch verhandeln zeitgenössische Texte das Leiden an den Rahmenbedingungen des Familienlebens meist nicht – und doch wimmelt es in der Gegenwartsliteratur von dysfunktionalen Familienkonstrukten, die markanterweise besonders Mütter unter den an sie formulierten Rollenerwartungen leiden lassen. Was, wenn man versucht, alles richtig zu machen – und dennoch untergeht? Die unstillbare „Sehnsucht nach der Kraft, die darin liegt, sich einig zu sein“ treibt die Protagonistin von Anke Stellings „Bodentiefe Fenster“ (2016) fast in den Wahnsinn, aber nicht zum Kindsmord (sondern zur Mutterkur auf Norderney). Helene, die Heldin in Mareike Fallwickls „Die Wut, die bleibt“ (2022), findet keinen derartigen Ausweg – sie erhebt sich vom familiären Abendessenstisch und stürzt sich vom Balkon, um der einengenden Beziehung und den Ansprüchen von Mann und Kindern zu entkommen. Eine dritte Mutter – in Daniela Dröschers „Lügen über meine Mutter“ (2022) – leidet ebenso am Muttersein, erreicht ihr Überleben aber, indem sie ihr „Unglück“ auf die Tochter überträgt, sodass es deren „ganze Kindheit und Jugend über wie Blei“ auf ihren Schultern liegt. Die Erzählerin in Jasmina Kuhnkes „Schwarzes Herz“ (2021) schließlich ist eine Überlebende von Familie und geradezu eine „Anti-Medea“: Von Rassismus und Beziehungsgewalt verfolgt entrinnt sie dem Tod, nicht zuletzt, indem sie ihre Kinder davor rettet, dasselbe Schicksal erneut zu durchleben.
Wir werden in das Seminar mit einigen theoretischen Überlegungen zur jüngeren Literaturgeschichte der Familienkonflikte und der Mutterschaft einsteigen, bevor wir dann die genannten und potenziell weitere geeignete Romane seit 2010 nach den Gefahren und Affekten des Familienlebens durchforsten. In der ersten Sitzung wird ausgehend von den genannten Texten und Vorschlägen aus den Reihen der Teilnehmer*innen der endgültige Seminarplan festgelegt; eigene Textvorschläge sind auch bereits während der vorlesungsfreien Zeit per Mail ausdrücklich erwünscht! Zur Vorbereitung sei die Lektüre (einiger) der genannten Texte empfohlen, um das hohe Lesepensum (6–7 Romane) während des Semesters zu reduzieren.
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12 Termine
Regelmäßige Termine der Lehrveranstaltung
Mo, 17.04.2023 14:00 - 16:00
Mo, 24.04.2023 14:00 - 16:00
Mo, 08.05.2023 14:00 - 16:00
Mo, 15.05.2023 14:00 - 16:00
Mo, 22.05.2023 14:00 - 16:00
Mo, 05.06.2023 14:00 - 16:00
Mo, 12.06.2023 14:00 - 16:00
Mo, 19.06.2023 14:00 - 16:00
Mo, 26.06.2023 14:00 - 16:00
Mo, 03.07.2023 14:00 - 16:00
Mo, 10.07.2023 14:00 - 16:00
Mo, 17.07.2023 14:00 - 16:00