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WiSe 23/24: Zeitfragmente. Zu einer historischen Poetik des Films

Tobias Haupts

Kommentar

Hermann Kappelhoff geht in seiner filmwissenschaftlichen Forschung von der Prämisse aus, dass sich die Geschichte der audiovisuellen Bilder nicht als Abfolge von Techniken, Stilen und Konventionen beschreiben lässt, sondern dass die filmischen Bilder durch die Wechselwirkungen des Filme-Sehens, des Filme-Machens und der anderen Formen ihres Gebrauchs und Diskurses die Geschichte als einen Prozess der permanenten (Neu-)Beschreibung geteilter Wahrnehmungswelten hervorbringen. So führt er den zentralen Begriff des Genres heraus aus seiner taxonomischen Gefangenschaft, dem zirkulären Denken und den ahistorischen Aporien. Und er versteht seit jeher die Disziplin der Filmwissenschaft nicht nur als ein ästhetisches (Nach-)Denken über jedwede Form von audiovisueller Inszenierung, sondern auch als ein zugleich medientheoretisches Unterfangen und als eine Frage politischer Gemeinschaften. Ausgehend von seinen Arbeiten zum Weimarer Kino und dem Melodrama, über den gleichfalls historisch zu denkenden Begriff des Realismus hin zum Genre des (US-amerikanischen) Kriegsfilms, versteht Kappelhoff den Film eingebunden in eine genuin historische Formation, in welcher sich das Medium nicht denken lässt, ohne dessen historisches, kulturelles und soziales Eingebundensein genaustens zu rekonstruieren, wenn man es in seinen ästhetischen Erfahrungsdimensionen beschreiben und analysieren will. Hiervon ausgehend postuliert Kappelhoff die Notwendigkeit einer genuinen historischen Poetik des Films, die die Desiderate der filmwissenschaftlichen Theorien der 1980er-Jahre, hier die des Neoformalismus in Anlehnung an Kristin Thompson und David Bordwell, aufnimmt, um nicht nur bei den industriellen oder auteur-theoretischen Parametern der Gemachtheit eines Films zu verharren, sondern diese um ein Verständnis der grundlegenden medienästhetischen Modellierung von Wirklichkeit sowie den Bezug zu anderen Medien, soziokulturellen Strömungen und politischen Gemeinschaftsbildungen zu ergänzen. Die Umsetzung eines solchen Vorhabens ist in seiner Gänze bisher ein unabgeschlossenes Projekt, das sich auch immer nur in je spezifischen Rekonstruktionen der Konstellationen und Formationen eines Diskurses filmischer Bilder realisieren lässt. Eben diese Flanke möchte die (Ring-)Vorlesung des Wintersemesters herausfordernd aufnehmen und in einzelnen Fallstudien in Anlehnung an die Arbeiten Hermann Kappelhoffs die möglichen Parameter einer solchen vorgeschlagenen historischen Poetik abstecken, um die sich aus ihnen entwickelten Vorteilen zu extrapolieren und gegebenenfalls neue Desiderate zu benennen.

Als Einführung sei verwiesen auf: Hermann Kappelhoff & Matthias Grotkopp, Historische Poetik des Films. In: Bernhard Groß/Thomas Morsch (Hrsg.), Handbuch Filmtheorie, Wiesbaden 2018,

S. 305–322, für die lange Herleitung: Hermann Kappelhoff, Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin 2004 sowie ders., Genre und Gemeinsinn. Hollywood zwischen Krieg und Demokratie, Berlin/Boston 2016.

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