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Ein Haus wie ein Taubenschlag

Die Entwicklung des ersten Hauptgebäudes der Freien Universität Berlin steht exemplarisch für die Entfaltung der Hochschule in Dahlem – das Haus im früheren Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie in der Boltzmannstraße 3 wird am 29. April 100 Jahre alt

14.04.2016

Hier fing alles an: Blick in den 1960er Jahren von der Empore des Henry-Ford-Baus auf das 1948 übernommene erste Hauptgebäude der Freien Universität Berlin in der Boltzmannstraße 3.

Hier fing alles an: Blick in den 1960er Jahren von der Empore des Henry-Ford-Baus auf das 1948 übernommene erste Hauptgebäude der Freien Universität Berlin in der Boltzmannstraße 3.
Bildquelle: Reinhard Friedrich

„Wir wären Matsch gewesen, wären wir da runtergefallen“, sagt Stanislaw Karol Kubicki. Der fast 90-Jährige kichert verschmitzt, wenn er sich ins Jahr 1948 zurückversetzt und in Gedanken wieder das Fenster im Raum des Instituts für Altertumskunde im dritten Stock der Boltzmannstraße 3 öffnet. Vor seinem inneren Auge balanciert er noch einmal auf dem 50 Zentimeter breiten Sims in fast 13 Metern Höhe um das Gebäude herum und erschreckt mit Freunden von außen durch die Fensterscheiben den Professor der Kunstgeschichte und geschäftsführenden Rektor der Freien Universität Berlin, Edwin Redslob. „Er hat fast einen Herzinfarkt bekommen! Wir mussten dem Archäologen und Dekan der Philosophischen Fakultät Friedrich Wilhelm Goethert versprechen, es nie wieder zu tun.“ Die Hausnummern 3 und 4 in der Boltzmannstraße sind für Karol Kubicki ebenso wie für die Freie Universität keine x-beliebigen Adressen: Hier beginnt im Jahr 1948 das Universitätsleben der neugegründeten Hochschule; Karol Kubicki – später Professor für Klinische Neurophysiologie – setzt an der neuen Universität sein im Ostteil der Stadt unterbrochenes Medizinstudium fort; wie viele andere packt er mit großem Idealismus beim Aufbau der Hochschule mit an.

Erstnutzerin der Boltzmannstraße 3 ist die Universität indes nicht: Als Karol Kubicki im Juli 1926 geboren wird, liegt die offizielle Eröffnung des Instituts, das hier ursprünglich seinen Sitz hatte, gerade zehn Jahre zurück: Der Bau des Kaiser-Wilhelm-Instituts (KWI) für Biologie nach Plänen von Ernst von Ihne und Max Guth wird 1914, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, begonnen und 1915 nach nur zwölf Monaten vollendet – für eine Million Mark. Offiziell eröffnet wird das KWI am 29. April vor 100 Jahren. Das Institut erstreckt sich damals nicht nur auf die 2647,5 Quadratmeter vom Keller über drei Stockwerke bis zum Dachgeschoss: Auf 3,7 Hektar hinter dem Haus breiten sich – zwischen Boltzmannstraße, Van’t-Hoff-Straße, Garystraße und der heutigen Vegetarischen Mensa – Versuchsfelder und Nebengebäude für die Tierzucht aus; forschen können der schon 1914 berufene Erste Direktor Carl Correns und die dort tätigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zudem in Gewächshäusern, Aquarien und an Bienenstöcken.

Einer der fünf designierten Abteilungsleiter des KWI, Richard Goldschmidt, wird erst Spielball, später Opfer der politischen Verhältnisse: Sein Amt in Dahlem kann er erst 1919 antreten – mit viereinhalb Jahren Verspätung –, weil es ihn 1914 nach einer Japan-Reise kriegsbedingt in die USA verschlägt; dort wird er als „gefährlicher Deutscher“ interniert. Am KWI in Dahlem forschen er und andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor allem zur Vererbung und Fortpflanzung von Pflanzen und Tieren. Carl Correns verhilft dabei den 50 Jahre alten und in Vergessenheit geratenen Erkenntnissen der mendelschen Vererbungslehre zu einer wissenschaftlichen Renaissance und begründet die moderne Vererbungslehre. Die Medizinerin, Frauenrechtlerin und später umstrittene „Rassenhygienikerin“ Agnes Bluhm erforscht an Mäusen, ob Alkohol einen schädlichen Einfluss auf das Erbgut der Nachkommen hat. Gleich drei Wissenschaftler des Instituts – Otto Meyerhof, Otto Warburg und Hans Spemann – erhalten während oder nach ihrer Tätigkeit im KWI für Biologie Nobelpreise.

Als Carl Correns 1933 stirbt – zwei Wochen nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler – übernimmt Richard Goldschmidt kommissarisch die Stelle des Ersten Direktors. Doch nur für kurze Zeit: Goldschmidt, jüdischer Herkunft, übergibt das Amt zehn Wochen später an einen Kollegen – nach offizieller Begründung „wegen Behinderung“. Drei Jahre später wird er an die Universität von Kalifornien in Berkeley berufen und verlässt Deutschland für immer. Der Zweite Weltkrieg hat auf das KWI in Dahlem zunächst harmlose, dann drastische Auswirkungen: Die Biologen nehmen Teile des KWI für physikalische Chemie und Elektrochemie auf – und in Baracken gegenüber der Boltzmannstraße 3 werden chemische Kampfstoffe erforscht. Versehentlich ausströmendem Gas fallen die Forschungsarbeit eines ganzen Jahres des Schweizer Wissenschaftlers Jakob Seiler und dessen Schmetterlingszucht zum Opfer. Wegen der Bombenangriffe auf Berlin werden 1943 große Teile des KWI nach Tübingen verlagert. Es wird dort über mehrere Jahrzehnte weitergeführt und 2004 geschlossen.

Über die Nutzung der Boltzmannstraße 3 in den letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren ist wenig bekannt: In dem durch Fortzug des KWI für Biologie leerstehenden Gebäude findet die Abteilung für Geschichte der Kulturpflanzen des aus Wien verlagerten KWI für Kulturpflanzenforschung bis Juli 1945 vorübergehend Unterkunft. Schon drei Monate zuvor, am 22. und 23. April 1945, werden die Dahlemer Kaiser-Wilhelm-Institute zunächst durch die Rote Armee weitgehend beschlagnahmt, anschließend durch die Armee der Streitkräfte der USA, in deren Sektor Dahlem später gehört. Das Gebäude in der Boltzmannstraße 3 ist wie viele andere der KWI trotz einiger Kriegsschäden größtenteils benutzbar.
Drei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wird das Gebäude gemeinsam mit dem Haus Boltzmannstraße 4 für die Wissenschaft wachgeküsst: Als den Studenten Otto Hess, Joachim Schwarz und Otto Stolz im April 1948 an der damaligen Universität Unter den Linden – der früheren Friedrich-Wilhelms-Universität – im Ostteil Berlins die Studiererlaubnis entzogen wird, protestieren rund 2000 Demonstranten vor dem Hotel Esplanade, direkt an der Grenze zum sowjetischen Sektor und fordern „die Gründung einer freien Universität in den Westsektoren der Stadt“.

„Die Relegation der Studenten war ein Fanal“, sagt Karol Kubicki, „so konnte es an der Universität Unter den Linden nicht weitergehen.“ Dank Unterstützung durch US-Alliierte, Politiker und die Bevölkerung West-Berlins wird nur drei Monate später, am 24. Juli 1948, in der Boltzmannstraße 4 das „Sekretariat der Freien Universität Berlin“ eröffnet. Student Karol Kubicki bekommt in dem Gebäude ein Büro als Zulassungsreferent und erhält – nach einem Münzwurf mit seinem Freund Helmut Coper – die Matrikelnummer 1 der jungen Hochschule. Am 15. November wird der Universität auch die Boltzmannstraße 3 zur Nutzung übergeben.

Es ist den beengten Verhältnissen geschuldet, dass Medizinstudent Karol Kubicki 1948 – hingerissen auch von Vorlesungen der Archäologie – auf der Brüstung im dritten Stock in nur wenigen Sekunden als Professorenschreck von einem Institut in das andere gelangen kann: Das Gebäude beherbergt im ersten Wintersemester ganze 13 Institute der Philosophischen Fakultät. Das Haus ächzt zudem unter Teilen des Immatrikulationsbüros, einem Schreibwarenladen, einer Schuhmacherwerkstatt, einer Kleider-Ausgabestelle und mehreren Dienstwohnungen. Aufgenommen wird der Betrieb zuerst in nur zwei weiteren Fakultäten – und zwar in solchen, in denen mit vergleichsweise geringem finanziellem Aufwand geforscht und gelehrt werden kann: Es sind die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche sowie die Medizinische Fakultät – hier zunächst nur für das Hauptstudium; die Mediziner können dabei auf die Infrastruktur bestehender Krankenhäuser zurückgreifen. Binnen weniger Monate verdoppelt sich die Zahl der Fakultäten auf sechs, und die Boltzmannstraße 3 kann davon keine weitere aufnehmen.

Ein Forscherhaus mit Versuchsfeldern so weit das Auge reicht

Improvisiertes Immatrikulationsbüro in der Boltzmannstraße.

Improvisiertes Immatrikulationsbüro in der Boltzmannstraße.
Bildquelle: Landesarchiv Berlin/Fotosammlung Spiller

Mit dem raschen Ausbau der Hochschule zur Voll-Universität wachsen auch die Probleme, die Gründungsrektor Friedrich Meinecke und sein geschäftsführender Rektor und späterer Nachfolger Edwin Redslob sowie Kurator Fritz von Bergmann inmitten der Berlin-Blockade lösen müssen. „In unserem ersten Wintersemester war es so kalt, dass wir in Mänteln in den Vorlesungen saßen“, schreibt der 2013 verstorbene Helmut Coper, Student mit Matrikelnummer 2, erster AStA-Vorsitzender der Universität und späterer Professor für Neuropsychopharmakologie, in seinen Erinnerungen. „Die Finger waren so klamm, dass das Mitschreiben schwierig war.“ Immer wieder müssen Veranstaltungen wegen Stromausfällen bei Kerzenlicht fortgesetzt werden. „Das war romantisch, wenn auch etwas unbequem“, erinnert sich Karol Kubicki. Die Nähe zu dem von der US-Armee besetzten und als Offiziersclub genutzten Harnack-Haus – das ehemalige Gästehaus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft – beschert zumindest der Boltzmannstraße vergleichsweise große Stromkontingente. Die wenigen Stühle werden von Vorlesung zu Vorlesung mitgenommen. Das Zurschaustellen von Luxus angesichts materieller Not ist verpönt, und so empört sich im November 1949 der Dekan der Juristischen Fakultät aus der Ihnestraße 22 über etwas, das bis in die 180 Meter entfernte Boltzmannstraße 3 zu hören gewesen sein muss. In seinem Brief an Rektor Redslob heißt es: „Vor dem Hause Ihnestraße 22 ist, soweit ich festgestellt habe, sogar auf Anregung irgendeiner Stelle der Universität, eine Reitschule eingerichtet worden. Bereits im Sommer hat sich herausgestellt, dass durch die Kommandos der Reitlehrerin der Unterricht in den zur Straße gelegenen Hörsälen und die sonstigen Arbeiten in der Ihnestraße 22 empfindlich gestört werden. Im Übrigen wirkt die unmittelbare Nachbarschaft einer auch äußerlich recht feudal auftretenden Reitschule in der Nähe einer Universität, deren Studenten mit den größten materiellen Nöten zu kämpfen haben, geradezu demoralisierend.“ Redslob antwortet, „dass die Reitschule für unsere Universität von größtem Schaden sein“ könne und sorgt für die Schließung. Die Zahl der Studierenden schnellt von 2140 im ersten Wintersemester auf rund 5000 im Jahr 1949 hoch und wächst bis 1963 auf 13.000; die Raumnot wird zunehmend unerträglich. Gleich mehrere Institute in der Boltzmannstraße 3 fordern zusätzliche Räume oder eigene Gebäude, wie Kurator Fritz von Bergmann Schreiben an „Euer Magnifizenz“ Rektor Redslob und seine Nachfolger berichtet. Ohne Räume seien Vorlesungen und Seminare nicht planbar, klagen die Wissenschaftler gegenüber der Leitung der jungen Universität. Untereinander rangeln sie um Räume und Durchgangstüren, wie viele Dokumente aus dem Universitätsarchiv bezeugen. Aller Enge zum Trotz sollen nur wenige Studentinnen und Studenten abgewiesen werden, wie ein Geschichtsprofessor argumentiert: Es sei trotz materieller Schwierigkeiten nicht zu verantworten, „unserer Jugend den Weg zum akademischen Studium gänzlich zu versperren“. Gleichwohl könne es nicht angehen, dass fünf Assistenten und Hilfskräfte nur über ein Nebenzimmer verfügten, in dem sich während der Hauptarbeitszeit „in buntem Wirbel der bibliothekarische, geschäftliche und persönliche Verkehr abspielt“.

Redslob sucht mit einer Liste von Wunsch-Immobilien der Umgebung Hilfe beim Bürgermeister von Zehlendorf, Werner Wittgenstein, und gibt zu bedenken, dass dies nur der Anfang sein könne: „Unser Raumhunger ist damit leider noch nicht gestillt. Die Hörsäle und Institute sind jetzt schon überfüllt und reichen nicht mehr aus.“ In der West-Berliner Bevölkerung sind die in einer wachsenden Zahl von Villen lernenden und lehrenden Studenten und Professoren sehr beliebt. Karol Kubicki erinnert sich: „Es gab eine Vertrautheit und innige Beziehungen zu den Menschen West-Berlins, die man an anderen Universitäten nicht erleben konnte.“ Hin und wieder seien Institute der Freien Universität zunächst als Gast bei einer anderen Institution untergekommen – und „manchmal wurden diese schließlich zu Gästen der Universität“.

Edwin Redslob wendet sich auch an die US-Alliierten und den Oberbürgermeister West-Berlins, Ernst Reuter. Hin und wieder lassen die Amerikaner die von den Besitzern gewünschte Vermietung oder den von diesen angebotenen Verkauf beschlagnahmter Privatvillen an die Universität zwar nicht zu, doch die Erfolge der Universität bei der Raumsuche überwiegen: So ermächtigt der Kommandant des US-amerikanischen Sektors von Berlin, General Frank L. Howley, den Magistrat von Groß-Berlin im April 1949, alle in dem Sektor liegenden wissenschaftlichen Institutionen mitsamt Einrichtungen zu übergeben. Die Liste umfasst auch Gebäude der früheren Linden-Universität – die inzwischen Humboldt-Universität heißt – im Westsektor. Howley legt zwar nicht fest, wer die Liegenschaften bekommen soll, lässt aber durchblicken, dass er an die Freie Universität denke.

Ein weiterer dicker Fisch geht der Hochschule ganz in der Nähe der mittlerweile mit einer „automatischen Fernsprechanlage“ ausgestatteten Boltzmannstraße 3 ins Netz und sorgt auch dort für Entlastung: Noch der Magistrat von Groß-Berlin überträgt – vor dessen Zerbrechen infolge der wachsenden Spannungen zwischen Ost und West – der Freien Universität alle Grundstücke zwischen Thielallee und Ihnestraße auf der nördlichen Seite der Garystraße. Die Vereinbarung wird zum 1. Januar 1951 wirksam; als bisherige Nutznießerin stimmt die Deutsche Forschungshochschule Dahlem – eine nur zwischen 1947 und 1953 bestehende Auffang-Einrichtung für die Berliner Kaiser-Wilhelm-Institute – der Bewirtschaftung durch die Freie Universität zu. Hier entstehen wenig später unter anderem das Hörsaalgebäude Henry-Ford-Bau und die Universitätsbibliothek.

In den Monaten, die auf die Gründung der Universität folgen, werden aus allen Teilen der Stadt auf Handwagen Bücher in die Boltzmannstraße 3 geschafft – diese Spenden verschärfen, bei aller Freude der Universitätsmitglieder, die Raumprobleme. „Viele ältere Frauen, deren Männer im Krieg gefallen waren, saßen auf großen Bibliotheken“, sagt Karol Kubicki. „Die fragten sich: Was soll ich allein mit einer Bibliothek? – Und spendeten sie der Universität.“

Die Juristische Fakultät hebt 1949 – mit einem kleinen Taschenspielertrick – in Correns’ ehemaliger KWI-Direktorenvilla in der Boltzmannstraße 1 einen Schatz. Dort lagern die 1947 zurückgebrachten Restbestände des 1924 gegründeten KWI für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht. Die immerhin 5000 Bände sind der Rest der Bibliothek, die zum Schutz während des Krieges in die Mark Brandenburg gebracht worden war. Als das Institut nun in Süddeutschland unter dem Dach der KWG-Nachfolge-Organisation, der Max-Planck-Gesellschaft (MPG), neu gegründet werden soll, fordert der Dekan der Juristischen Fakultät der Freien Universität, Wilhelm Wengler, Rektor Redslob in einem Vermerk zu schnellem Handeln auf. Es sei zwar nicht sicher, „ob die Bibliothek unmittelbar für Lehrzwecke der Freien Universität“ verwertbar sei, schreibt er. Doch es müsse alles getan werden, „um die Verschleppung dieser wertvollen Bücher von Berlin nach Heidelberg zu verhindern“. „Energischer Protest“ des Rektors mithilfe der Presse scheine „wünschenswert“. Zudem müssten die „zuständigen Stellen der Militärregierung darauf aufmerksam gemacht werden“, dass ein Abtransport der Bücher „einen sehr schlechten Eindruck auf die Berliner Bevölkerung machen“ würde.

Die Universität bekommt die Bücher schließlich zugesprochen, muss sie aber getrennt von ihren eigenen Beständen aus- und einen Bibliothekar der MPG einstellen. 1960 wird der Universität auch die frühere Direktorenvilla in der Boltzmannstraße 1 übertragen. Der heutige Leiter des Studien- und Prüfungsbüros des Fachbereichs Rechtswissenschaft, der promovierte Jurist Andreas Fijal, sieht den Fachbereich in seiner internationalen Ausrichtung noch heute geprägt durch das früher in Dahlem angesiedelte KWI für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht. Fijal führt „die starke völkerrechtliche Aufstellung des Fachbereichs“ darauf zurück. Den Studierenden stehe somit „die Weltkarte des Rechts“ mit mehr als 50 europäischen und zahlreichen weiteren Partnern in aller Welt offen.

Gipfeltreffen USA-Berlin: Am 12. Oktober 1949, kurz nach seinem Amtsantritt als Hoher Kommissar der amerikanischen Besatzungszone, besucht John Jay McCloy (vorne 2. v. l.) die Freie Universität. Links neben ihm Oberbürgermeister Ernst Reuter.

Gipfeltreffen USA-Berlin: Am 12. Oktober 1949, kurz nach seinem Amtsantritt als Hoher Kommissar der amerikanischen Besatzungszone, besucht John Jay McCloy (vorne 2. v. l.) die Freie Universität. Links neben ihm Oberbürgermeister Ernst Reuter.
Bildquelle: SLUB/Deutsche Fotothek/Fritz Eschen

In den Vermerken und Briefen, die Fritz von Bergmann in den 20 Jahren als Kurator – zuletzt und nach der Umbenennung seines Amtes im Juli 1969 als Kanzler – aus der Boltzmannstraße 3 erhält, spiegelt sich die offenbar wachsende finanzielle Absicherung der Freien Universität durch den Bund und durch West-Berlin wider: So muss noch 1954 die Reparatur einer Fensterklappe für 40 Deutsche Mark zurückgestellt werden, weil das Geld in dem Haushaltsjahr nicht mehr verfügbar ist. In finanzieller Hinsicht eher bescheiden ist auch der Wunsch, der den Kurator im September 1960 erreicht, weil die in der Nähe der Boltzmannstraße 3 „befindliche Klopfstange entfernt“ worden sei: „Da es jedoch unbedingt notwendig ist, die diversen Teppiche von Zeit zu Zeit zu klopfen, bitte ich um baldige Errichtung einer neuen Klopfstange“, heißt es in dem Brief. 1963 dagegen – 25 Jahre nach Gründung der Universität – mutet der Wunsch eines Professors in der Boltzmannstraße 3 nach einem neuen Schild für die von ihm geführten zwei Institute geradezu luxuriös an: „Ich kann nicht, wenn alles von der Ausführung der Tische bis zur Platzierung einer Tafel sorgfältig durchdacht ist, ‚irgendein‘ Schild anbringen. Es handelt sich schließlich um das Haus, das die Urzelle der Freien Universität war. Die Fragestellung meiner Wissenschaft, in der nicht zu wenigsten auch moderne künstlerische Gestaltung einen Platz hat, legt mir auf, auch diesen letzten Einrichtungsgegenstand sorgfältig durchzuführen.“ Derselbe Wissenschaftler fordert die Bauabteilung kurze Zeit später – eine Woche vor Winteranfang – dazu auf, nach der abgeschlossenen Anlage des Parkplatzes „den Vorgarten unseres Instituts in Ordnung“ zu bringen.

Der Parkplatz war schon zwei Jahre zuvor Gegenstand eines Schriftwechsels gewesen, den das Universitätsarchiv in seinen Bauakten hütet. Er illustriert den wachsenden Wohlstand auch der Studierenden: Ein Philosophie-Professor wendet sich 1961 an den Dekan seiner Fakultät mit den Worten: „Eurer Spektabilität wäre ich zu außerordentlichem Dank verpflichtet, wenn durchgesetzt werden könnte, dass für den Lehrkörper vor dem Hause in der Boltzmannstraße 3 Parkplätze zur Verfügung gehalten werden könnten. Es wird immer schwieriger, in der Nähe des Hauses einen Parkplatz zu finden, da die meisten offenbar von Studenten beansprucht werden, obwohl ihnen doch an der Mensa große Parkmöglichkeiten gegeben wurden.“ Die Antwort aus der Verwaltung fällt knapp aus – und ist ohne Anrede verfasst: Dies sei „eine Angelegenheit der Verkehrspolizei“, doch es sei nicht bekannt, „dass zugunsten von Einzelpersonen jemals Parkplätze auf öffentlichen Straßen freigehalten worden sind“.

Wie innig in den 1940er und 1950er Jahren – und wohl bis heute unübertroffen eng – die Beziehung der Gründungsstudenten zu ihrer Hochschule vielleicht gerade angesichts materieller Not und des täglichen Zwangs zur Improvisation war, zeigt sich etwa im August 1951: Als anlässlich der Weltfestspiele der Jugend in Ost-Berlin kommunistische Studenten aus der DDR auch am Dahlemer Thielplatz agitieren, befürchten Studenten der Freien Universität eine Besetzung des nur 400 Meter entfernten Hauptgebäudes in der Boltzmannstraße 3 – und bewachen es die ganze Nacht hindurch: Was gemeinsam mit Professoren und mithilfe der US-Alliierten, der Berliner Politiker und der West-Berliner Bevölkerung geschaffen worden ist, wollen sie den Kommunisten noch nicht einmal symbolisch in die Hände fallen lassen.

Knapp 17 Jahre später sieht es anders aus: Schauplatz der Studentenunruhen im Mai 1968 wird auch die Boltzmannstraße 3. Aus Protest gegen die in Bonn geplante Verabschiedung der Notstandsgesetze wird am 27. Mai das Germanische Seminar besetzt und in „Rosa-Luxemburg-Seminar“ umbenannt, wie der Experte für die Geschichte der Freien Universität, der promovierte Germanist und Politologe Jochen Staadt berichtet. Auf dem Dach der Boltzmannstraße 3 wird die rote Fahne gehisst, und im Germanischen Seminar mahnen Plakate mit den Worten „Bücherklau ist konterrevolutionär“ und „Bücher sind kollektives Eigentum“. Aus Lautsprechern in den Bibliotheksfenstern dröhnen Hits der Beatles und der Rolling Stones. Die Germanistikstudenten und Provokationsexperten der Kommune I Fritz Teufel und Rainer Langhans agieren dabei als Diskjockeys, wie Jochen Staadt ausführt, der die Chronik der Freien Universität mitverantwortet. Weniger zimperlich indes gehen die Besetzer mit dem Gebäude um: Anfang Juni listet die Bauabteilung minutiös Schäden in Höhe von 19.000 D-Mark auf – vom zerstörten WC-Deckel bis zum abgerissenen Telefon ist alles dabei –, und Rektor Ewald Harndt denkt in einem vertraulichen Papier an die Bauabteilung darüber nach, ob bei künftigen Besetzungen in den Gebäuden nicht einfach die Stromversorgung gekappt werden könne. Karol Kubicki sagt über seine damaligen Empfindungen: „Wir hatten das Gefühl, das Erbe der Studenten von 1948 wird kaputtgemacht.“

Fast 60 Jahre lang gleicht die Boltzmannstraße 3 fast einem Taubenschlag: Institute kommen und gehen. Erst seit 2007 nutzt der Fachbereich Rechtswissenschaft das Gebäude allein. Das Treppenhaus wurde in jüngerer Zeit aufwendig restauriert, die Räume sind modern ausgestattet – lange vorbei ist die Zeit, in der ein Hörsaal-Mikrofon „bald zu leise, bald zu laut“ ist und ein Vortrag „trotz besten Willens akustisch nicht aufgenommen werden kann“, wie ein Germanistik-Professor 1958 beklagt.

„Als letzte fachfremde Nutzerin hat 2007 die Linguistin und ehemalige Vizepräsidentin der Freien Universität, Gisela Klann-Delius, ihr Dienstzimmer aufgegeben“, erinnert sich Andreas Fijal. Der Jurist hat sein Büro im Erdgeschoss der Boltzmannstraße 3, ganz in der Nähe der Räume, in denen er sich 1976 immatrikulierte. Sein Lieblingsort „in der Urzelle der Freien Universität“ ist das Dienstzimmer des Völkerrechtlers Philip Kunig: Wegen vieler Gespräche habe ihn der Raum oft beflügelt. Fijal und Kunig können sich in dem Büro ganz sicher sein, dass der Student mit Matrikelnummer 1, Karol Kubicki, nicht wie 1948 „seine eigenen Wege“ geht: Vor dem Fenster verläuft keine Balustrade.

Weitere Informationen

Festakt für den Gründungsbau

Zu einem Festakt und einer Fotoausstellung am 29. April lädt der Fachbereich Rechtswissenschaft aus Anlass der Eröffnung des Gebäudes Boltzmannstraße 3 vor 100 Jahren. Das als Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie errichtete Haus wurde von diesem bis 1943 genutzt und 1948 zum ersten Hauptgebäude der Freien Universität. Seit 2007 dient es allein dem Fachbereich. 

Nach dem Festakt (Beginn 11 Uhr) bietet um 12.30 Uhr die Max-Planck-Gesellschaft eine wissenschaftshistorische Führung an. Anmeldung bis 20. April möglich unter der E-Mail-Adresse: einladung@rewiss.fu-berlin.de 

Wie gut wissen Sie über die Anfänge der Freien Universität Bescheid? Beantworten Sie die Fragen in unserem Quiz zum Jubiläum der Boltzmannstraße 3 und gewinnen Sie Büchergutscheine.