Springe direkt zu Inhalt

„Forschung an Schnittstellen trägt zur Profilierung unserer Universität bei“

Interview mit Politikwissenschaftlerin Marianne Braig, neugewählte Vizepräsidentin der Freien Universität für den Bereich Forschung

13.01.2021

Dem aktuellen Präsidium der Freien Universität gehören nun wieder vier Vizepräsidenten beziehungsweise Vizepräsidentinnen an: Professorin Marianne Braig wurde im Dezember vom Erweiterten Akademischen Senat der Hochschule mit 41 Ja-Stimmen von 47 abgegebenen Stimmen zur Vizepräsidentin für Forschung gewählt. Das Amt war im vergangenen Frühjahr durch den Wechsel von Professor Klaus Mühlhahn an die Zeppelin Universität in Friedrichshafen vakant geworden, der dort zum Präsidenten gewählt worden ist. campus.leben sprach mit Marianne Braig, Professorin für Politikwissenschaft am Lateinamerika-Institut.

Frau Professorin Braig, für welchen Bereich werden Sie als Vizepräsidentin zuständig sein?

Für den Bereich Forschung, darauf freue ich mich sehr. In den nächsten anderthalb Jahren werde ich mich unter anderem mit der Frage beschäftigen, welche Forschungsstrategie und -schwerpunkte die Freie Universität mit, in und neben der Berlin University Alliance weiterentwickeln kann. Das ist eine außerordentlich spannende Aufgabe.

Außerdem fallen in meine Zuständigkeit die Aufgabenbereiche Nachwuchsförderung und Nachhaltigkeit sowie mehrere Fachbereiche: der für Geowissenschaften, für Philosophie und Geisteswissenschaften, für Mathematik und Informatik sowie der Fachbereich Physik. Zugleich bin ich im Präsidium Ansprechpartnerin für die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Gibt es etwas, worauf Sie sich besonders freuen?

Ich möchte daran mitarbeiten, die starken einzelnen Disziplinen und Fächerkulturen, die wir an der Freien Universität haben – und die zum Teil schon gut miteinander kooperieren – über die Forschung an zentralen Problemen noch stärker miteinander zu vernetzen. Mein Ziel wäre es, die unterschiedlichen Perspektiven von Sozialwissenschaftlern, Naturwissenschaftlerinnen und Kulturwissenschaftlerinnen für die Bearbeitung von großen aktuellen Fragen sowohl in der disziplinären Breite als auch in der interdisziplinären Diskussion stärker nutzbar zu machen.

Ein Beispiel dafür ist die gemeinsame Erforschung von Sammlungen in Museen, Archiven und Bibliotheken der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK), an der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Stiftung, der Freien Universität Berlin und anderer Einrichtungen arbeiten. In diesen Zusammenhang gehört auch das gemeinsam von der SPK und der Freien Universität bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft beantragte Graduiertenkolleg „Collections as Contact Zones – Relational Practices in Transregional and Postcolonial Settings”.

Darüber hinaus entstehen an den Schnittstellen von Natur-, Sozial- und Kulturwissenschaften wichtige Erkenntnisbereiche. Das belegt nicht zuletzt die Pandemie-Situation: So ist es natürlich wichtig, exzellente Virologinnen und Virologen zu haben. Aber das naturwissenschaftliche Phänomen „Coronavirus“ ist auch Teil der sozial und kulturell vernetzen Welten; es offenbart Ungleichheiten in Bezug auf Einkommen, Geschlecht, Migration, Generationen.

Auf die daraus entstehenden und damit verbundenen Probleme gilt es, politisch zu reagieren. Es gibt historische und globale Phänomene, aus denen wir für die Gegenwart und die Zukunft lernen können, wie uns Historiker, Altertumswissenschaftlerinnen, Archäologinnen sowie Forscherinnen und Forscher der Regionalstudien aufzeigen.

An der Freien Universität gibt es viele Schnittmengen zwischen den Disziplinen, die es erlauben, die grundlegenden Fragen unserer Zeit aus verschiedenen disziplinären Perspektiven zu betrachten und sie interdisziplinär zu bearbeiten und somit das besondere Profil der Freien Universität zu schärfen.

Wenn Sie in die Zukunft blicken: Was möchten Sie am Ende Ihrer Amtszeit erreicht haben?

Ich würde gern die Nachwuchsförderung stärker in die Forschungsstrategie integriert wissen. Sowohl diejenigen Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, die an der Freien Universität beschäftigt sind, als auch die, die hier promovieren, sollten noch intensiver in eine Forschungsstrategie einbezogen werden.

Darüber hinaus möchte ich daran mitwirken, fächerübergreifende Forschungsperspektiven wie etwa im Kontext von Nachhaltigkeit und Biodiversität entstehen zu lassen, an denen Sozial-, Natur- und Kulturwissenschaften zusammenwirken. Die Voraussetzungen dafür sind gut, wenn wir da noch weiter vorankommen würden, wäre ich sehr froh. Dies sollte nicht durch Vorschriften „von oben“ gefördert werden, sondern durch die Unterstützung von Forschungsinitiativen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftern.

Ich würde mich auch freuen, wenn wir es schaffen würden, einen der wenigen positiven Aspekte der Corona-Pandemie beizubehalten: Wir haben gelernt, dass wir in der Forschung und Lehre durch Videokonferenzen oder ähnliche Kommunikationsformate auf Distanz jeden Tag Internationalität erleben können, ohne dafür reisen zu müssen. Zwar weiß ich als Lateinamerika-Expertin, dass wissenschaftlicher Austausch auf die direkte Interaktion angewiesen ist und dass Forschung ohne gemeinsames Forschen nicht produktiv werden kann. Gerade auch in Hinblick auf den Klimawandel aber sollten wir eine kluge Verbindung zwischen unterschiedlichen Begegnungsformaten entwickeln.

Wie erleben Sie die aktuelle Situation als Hochschullehrerin – und wie privat?

Als Hochschullehrerin bin ich sehr besorgt um die Studierenden meiner Lehrveranstaltungen. Sie haben sehr viel mehr Gesprächsbedarf, dem ich gerecht werden möchte. Ich versuche auch über meine Online-Vorlesungen und -Seminare hinaus ansprechbar zu sein. Im Sommer habe ich zum Beispiel Beratungsgespräche in Form von gemeinsamen Spaziergängen durch Dahlem angeboten.

Den Zuspruch und die Neugier auf ein Thema, die ich sonst durch mein persönliches Auftreten oft in Kooperation mit Gastwissenschaftlern und Gastwissenschaftlerinnen aus anderen Kontexten vermitteln konnte, muss ich jetzt einfach verstärkt sprachlich artikulieren und durch Einladungen von lateinamerikanischen Kolleginnen und Kollegen zu virtuellen Lehrveranstaltungen ergänzen.

Privat erlebe ich durch die Pandemie natürlich wie alle auch Einschränkungen. Ich gehe normalerweise in meiner Freizeit gerne in die Oper, ins Theater, in Konzerte und ins Kino. Das fehlt mir sehr. Stattdessen laufe oder jogge ich derzeit viel und plane bewusst längere Spaziergänge am Tag ein. Mir persönlich fehlen die direkten Begegnungen und spontanen Besuche, gemeinsam essen zu gehen und vor allem sich umarmen zu können. Mit Freunden und Kollegen kommuniziere ich jetzt sehr viel mehr digital.

Bitte vervollständigen Sie folgende Sätze:

Nach meinem Amtsantritt …

… hätte ich Lust, mit den Kollegen und Kolleginnen im Präsidium essen zu gehen.

Eine gute Vizepräsidentin….

… sollte gut kommunizieren können und Entscheidungen vom Ende her denken. Sie sollte ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und ihren Kolleginnen und Kollegen mit Respekt begegnen. Sie sollte offen für internationale und interkulturelle Kommunikation sein und sich für sie einsetzen. Sie sollte ihrer Universität und den dort engagierten und beschäftigten Menschen verbunden sein.

Die Freie Universität ist für mich…

… eine internationale und interdisziplinäre Netzwerkuniversität, die unterschiedlichste Grenzen überschreiten kann.

Am Ende meiner Amtszeit möchte ich, ….

… dass Fragen der Nachhaltigkeit und der Digitalisierung im Alltag, in der Lehre und in der Forschung an der Freien Universität noch stärker verankert sind, dass kein Zweifel daran besteht, dass sich die globale Welt nicht ohne regionale, lokale und kulturelle Kompetenzen verstehen lässt und wir dafür auf weltweite Kooperation angewiesen sind. Und dass die Freie Universität ihre vielschichtigen regionalen und internationalen Verflechtungen klug zu verbinden weiß. Persönlich hoffe ich, dass ich dazu beitragen kann.

Die Fragen stellte Melanie Hansen

Weitere Informationen

Zur Person:

Prof. Dr. Marianne Braig forscht und lehrt am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin. Sie studierte von 1972 bis 1977 Wirtschaftswissenschaften und Soziologie an der Freien Universität Berlin. Nach dem Diplom studierte sie Politikwissenschaft, Anthropologie und Geschichte an der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM), Mexico City, Mexiko. Von 1978 bis 1983 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Freien Universität und wechselte bis 1984 als Junior Fellow an das Colegio de México und an das Colegio de Jalisco in Mexiko.

In den Jahren 1984 bis 1988 war Marianne Braig wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekt „Labour Market and Gender in Mexico and Nigeria“. Von 1988 bis 1997 war sie am Lateinamerika-Institut als Hochschuldozentin tätig. Im Jahr 1989 promovierte sie im Fach Soziologie; ihre Dissertation wurde mit der Note „summa cum laude“ bewertet. Von 1997 bis 2002 war Marianne Braig Professorin für Politikwissenschaft am Institut für Vergleichende Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Im Jahr 1999 habilitierte sie sich am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin. Seit 2002 ist Marianne Braig Universitätsprofessorin an der Freien Universität mit dem Schwerpunkt Politik Lateinamerikas. Dort war und ist sie an der Entwicklung und Leitung großer internationaler Forschungsverbünde beteiligt, wie dem ersten von der DFG in Lateinamerika geförderten internationalen Graduiertenkolleg „Zwischen Räumen“, oder dem Forschungsverbund „desiguALdades.net“ oder trAndeS, die sich in Forschung und Nachwuchsförderung mit Fragen interdependenter Ungleichheiten befassen. Zugleich hat sie auch immer zu spezifischen Forschungsthemen im Rahmen von Einzelprojekten gearbeitet, etwa derzeit in dem von der DFG finanzierten Projekt: „Der globale Wandel der Kategorie ,Zwangsarbeit‘“.

Die Wissenschaftlerin war von 2008 bis zu ihrer Wahl zur Vizepräsidentin Mitglied im Kuratorium und seit 2009 Mitglied im Exzellenzrat der Freien Universität; sie gehört zahlreichen anderen Gremien und Organisationen innerhalb und außerhalb der Hochschule an. Als Gutachterin tätig ist Marianne Braig für eine Vielzahl von Ministerien, Stiftungen und Institutionen im In- und Ausland, darunter die United Nations Industrial Development Organization, das Bundesministerium für Bildung und Forschung, die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Alexander von Humboldt-Stiftung. Im Jahr 2013 erhielt sie den Margherita-von-Brentano-Preis der Freien Universität für herausragende Leistungen bei der Förderung von Frauenstudien und Genderforschung. Gastprofessuren führten Marianne Braig nach Mexiko, Brasilien, Kolumbien, Chile und Peru.