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Historische Forschung und politischer Gegenwind

75 Jahre Ende Zweiter Weltkrieg: Der Historiker Grzegorz Rossoliński-Liebe erforscht am Friedrich-Meinecke-Institut die Frage, ob polnische Bürgermeister die deutschen Besatzer bei der Judenverfolgung im Generalgouvernement unterstützt haben

15.05.2020

Warschau 1940: Errichtung der Ghetto-Mauer in der Świętokrzyska-Straße.

Warschau 1940: Errichtung der Ghetto-Mauer in der Świętokrzyska-Straße.
Bildquelle: picture alliance-AKG Images

In Polen herrscht seit Jahrzehnten ein Kampf um die Frage, ob polnische Bürgerinnen und Bürger während des Zweiten Weltkriegs die deutschen Besatzer bei der Verfolgung von Jüdinnen und Juden unterstützt haben. Bisherige Studien belegen, dass es zu umfassender Kollaboration kam. Doch nicht alle in Polen wollen die Ergebnisse der geschichtswissenschaftlichen Forschungsarbeiten wahrhaben. Umso wichtiger ist es, dass Historikerinnen und Historiker weitere Aspekte des Holocaust erforschen und die Ergebnisse ihrer Studien präsentieren.

Der Historiker Grzegorz Rossoliński-Liebe hat an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder studiert und sich an der Universität Hamburg promoviert. Am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin schreibt er derzeit ein Buch über die Frage, welche Rolle den polnischen Bürgermeistern während der Besatzungszeit im Generalgouvernement zukam. Die Arbeit untersucht die Biografien von zwölf polnischen Ortsvorstehern und prüft exemplarisch, in welchem Verhältnis sie zu ihren deutschen Vorgesetzten standen.

Der Historiker hat 60 Prozent seiner Studie bereits abgeschlossen und arbeitet derzeit an dem Kapitel, das die Mitwirkung polnischer Bürgermeister beim Holocaust beleuchtet. „Vor dem Zweiten Weltkrieg war Antisemitismus in Polen weit verbreitet, unter allen Schichten – auch unter Lokalpolitikern“, sagt Grzegorz Rossoliński-Liebe. Dieser Antisemitismus habe dazu beigetragen, dass viele Bürgermeister mit großer Genauigkeit und ohne Widerspruch die antisemitischen Bestimmungen der Deutschen in die Tat umgesetzt hätten. Zu Protesten seitens der Stadtverwaltungen sei es nicht gekommen. „In der Regel haben die Bürgermeister und die Gemeinden die Situation der Juden ausgenutzt und sich an deren Leid bereichert.“ Wohnungen wurden beschlagnahmt, Wertgegenstände konfisziert, jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger nach Treblinka, Bełżec oder Sobibór deportiert – an all diesen Aktionen waren nach Angaben des Historikers die jeweiligen Bürgermeister, Vögte und Stadtverwaltungen beteiligt.

Der Warschauer Bürgermeister Julian Kulski.

Der Warschauer Bürgermeister Julian Kulski.
Bildquelle: Narodowe Archiwum Cyfrowe

Aber nicht nur das: Bürgermeister konnten über die Größe der Ghettos mitentscheiden, über deren Lage und Zustand; welche Stadtteile oder Straßen zu den Ghettos gehörten und welche nicht – und wer die leerstehenden Wohnungen im Anschluss bekam. Auch nutzten sie jüdische Zwangsarbeiter massiv aus, um neue Straßen in ihren Gemeinden bauen zu lassen. Nur in geringem Umfang kam es zu Hilfestellungen und Rettungsversuchen. „Manchmal haben Stadtverwaltungen wie in Warschau Jüdinnen und Juden Kennkarten ausgestellt oder sie in der Gemeindeverwaltung eingestellt, um sie vor den Nationalsozialisten zu schützen. Das passierte allerdings nur selten. Vereinzelte Bürgermeister haben ihren jüdischen Mitbürgern privat mit Hilfe ihrer Familien geholfen. Aber das geschah selten und war kein Massenphänomen.“

Die Studie wird voraussichtlich im nächsten Jahr abgeschlossen sein. Grzegorz Rossoliński-Liebe ist sich bewusst, dass seine Publikation in Polen nicht allen gefallen und auch in Deutschland auf Gegenstimmen stoßen wird. Schon jetzt wird der Wissenschaftler von regierungsnahen Historikern in Polen attackiert. Auch seine Kolleginnen und Kollegen am „Zentrum für die Erforschung des Holocaust“ in Warschau, mit denen er zusammenarbeitet, müssen mit Schikanen leben und auf finanzielle Unterstützung durch die Regierung verzichten. „Langfristig verändert das aber wenig“, sagt der Wissenschaftler. „Die Holocaust-Forschung ist weltweit vernetzt und wird deshalb nicht aufhören. Trotz des politischen Gegenwinds wird der Judenmord in Polen wie in vielen anderen Ländern weiter erforscht werden.“