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Die Coronavirus-Pandemie im Fokus der Statistik

16. Juni, 17 Uhr: Online-Vortragsreihe über die epidemiologische und sozio-ökonomische Forschung zum Coronavirus, zu Therapiemöglichkeiten und zur Impfstoffforschung

16.06.2020

Noch gibt es keine repräsentative Umfrage zur Verbreitung von SARS-CoV-2 in Deutschland. Für September plant das Robert-Koch-Institut eine repräsentative Testung von rund 30.000 Probanden.

Noch gibt es keine repräsentative Umfrage zur Verbreitung von SARS-CoV-2 in Deutschland. Für September plant das Robert-Koch-Institut eine repräsentative Testung von rund 30.000 Probanden.
Bildquelle: Pixabay/B_Me

Seit 45 Jahren treffen sich im Rahmen des Kolloquiums „Statistische Methoden in der empirischen Forschung“ Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Universitäten, öffentlichen Forschungsinstituten und Pharmaunternehmen, um über aktuelle Forschungsfragen in der Statistik zu debattieren. In einer kürzlich gestarteten vierteiligen öffentlichen Veranstaltungsserie, die wegen der Coronavirus-Pandemie online stattfindet, geht es um die sozio-ökonomischen Faktoren und Folgen der Coronavirus-Pandemie.

Bei der Auftaktveranstaltung zum Thema „Planungen für eine deutschlandweite Corona-Testung“ tauschten sich rund 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit Expertinnen und Experten aus: Eingeladen waren der Politikwissenschaftler Stefan Liebig, Direktor des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) und Professor am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität, und Carsten Schröder, Mitarbeiter im SOEP-Team und Professor am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft, sowie Thomas Lampert, Leiter der Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring am Robert-Koch-Institut. campus.leben im Gespräch mit Statistikprofessor Ulrich Rendtel von der Freien Universität, der das Kolloquium mit leitet.

Ulrich Rendtel, Statistikprofessor der Freien Universität Berlin.

Ulrich Rendtel, Statistikprofessor der Freien Universität Berlin.
Bildquelle: Privat

Herr Professor Rendtel, worum ging es in der Auftaktveranstaltung des Kolloquiums?

Es gibt eine Reihe von Fragen, die unsere Veranstaltungsreihe inspiriert haben: Wie viele Coronavirus-Infizierte gibt es eigentlich in Deutschland? Wie groß ist das Risiko, an Covid-19 zu erkranken oder ernsthaft zu erkranken? Wie ansteckend ist SARS-CoV-2?

Da es in Deutschland derzeit keine bevölkerungsstatistischen Studien zur Infektionsrate gibt, lassen sich diese Fragen eigentlich nicht beantworten. Man kann sich lediglich auf das Ergebnis der Gangelt-Studie im Kreis Heinsberg berufen, bei der 600 Haushalte getestet wurden. Doch diese Städtestudie ist natürlich nicht für ganz Deutschland repräsentativ.

Warum gibt es noch keine repräsentativen Ergebnisse zur Verbreitung des Virus?

Ein Problem war die anfangs geringe Testkapazität. Zu Beginn der Pandemie wurden nur Personen getestet, die entweder direkt mit positiv getesteten Personen in Kontakt gekommen waren oder die mehr als zwei Symptome der Corona-Erkrankung zeigten.

Trotz mittlerweile bedeutend ausgebauter Testkapazitäten gibt es leider bis heute in Deutschland keine zufällige Stichprobe, die aussagekräftig für die Gesamtbevölkerung ist. Es wurden Proben von Blutspendern getestet oder Bewohnerinnen und Bewohner einzelner Städte, aber diese Proben lassen sich nicht auf ganz Deutschland übertragen.

Mittlerweile gibt es aber weitaus mehr Testreserven, wodurch eine solche Studie möglich würde. Wichtig wäre auch, sich nicht nur ein Bild davon machen zu können, wer bisher mit dem Coronavirus in Kontakt gekommen ist und Antikörper entwickelt hat. Ebenso wichtig ist es, die Nicht-Infizierten in regelmäßigen Abständen auf eine akute Corona-Infektion zu testen, wie dies beispielsweise bei systemrelevanten Personen gemacht wird. Nur mit einem solchen Studiendesign können Aussagen über Ansteckungsrisiken, zum Verlauf der Krankheit, zum Anteil der Schwererkrankten, zum Anteil der Genesenen oder auch der Verstorbenen gemacht werden.

Wann ist mit einer repräsentativen Studie zu rechnen?

Für Deutschland plant das Robert-Koch-Institut eine repräsentative Testung von rund 30.000 Probanden im September. Andere Länder preschen derzeit vor: Das zentrale italienische Statistikinstitut ISTAT startet jetzt zusammen mit dem italienischen Gesundheitsamt und dem Nationalen Roten Kreuz eine repräsentative Antikörperstudie mit 150.000 Probanden.

In Großbritannien wurden im Zusammenhang mit der Prüfung der Maßnahmen des Lockdowns an 100.000 zufällig ausgewählte Personen sogenannte Testkits versendet. Dies geschah in Zusammenarbeit eines Universitätsinstituts mit einem Umfrageunternehmen. Hier konnten die Probanden selbst testen, ob sie aktuell mit dem Coronavirus infiziert sind.

Wichtig wäre, dass die Tests einfacher handhabbarwerden und ihre Durchführung kein medizinisches Personal mehr erfordert. Testpersonen könnten sich dann beispielsweise selbst auf Corona-Antikörper testen, indem sie einfach mit einem Pikser eine Blutprobe entnehmen – ähnlich wie bei Kontrolluntersuchungen für Diabetiker. Akute Infektionen, die bisher mit einem Rachenabstrich getestet wurden, können in naher Zukunft eventuell zuverlässig mit einer Speichelprobe durchgeführt werden. So etwas ist bereits in der Entwicklung.

Wie steht es um die statistische Untersuchung der Alltagsbeschränkungen durch die Coronavirus-Pandemie und wie diese sich auf die Bevölkerung auswirken?

Das war der zweite Grund für die Organisation des Kolloquiums: Auf Basis der Heinsberg-Studie wird geschätzt, dass bisher maximal fünf Prozent der deutschen Bevölkerung Kontakt mit dem Coronavirus hatten – und dass die Dunkelziffer der Infizierten das Zehnfache der offiziell gemeldeten Corona-Erkrankten beträgt. Dabei hatten viele Erkrankte wohl keine oder nur geringe Symptome. Hingegen spüren wir alle die Auswirkungen des Lockdowns.

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert nun ein Verbundprojekt zur Corona-Forschung, in dessen Rahmen eine telefonische Befragung zu den Folgen des Lockdowns durchgeführt wird. Diese Befragung wird vom Sozio-ökonomischen Panel (SOEP) – einer unabhängigen forschungsbasierten Infrastruktureinrichtung am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) – in Kooperation mit dem Robert-Koch-Institut und der Universität Bielefeld durchgeführt. Das SOEP führt schon seit 1984 eine repräsentative Langzeitbefragung der deutschen Bevölkerung durch. Durch die Koppelung mit dieser Langzeitbefragung stehen auch individuelle Informationen aus der Vor-Corona-Zeit zur Verfügung. Dieses aktuelle Forschungsvorhaben stellten Stefan Liebig und Carsten Schröder bei der Auftaktveranstaltung vor.

Wie werden in dieser Studie die Auswirkungen des Lockdowns auf die Bevölkerung untersucht?

Über einen Fragebogen mit 100 Fragen werden über einen längeren Zeitraum mehrmals sowohl die gesundheitliche Selbsteinschätzung erhoben als auch die Auswirkungen des Lockdowns. Das passiert in zehn Tranchen mit jeweils 1000 Personen. Am Ende der Corona-Pandemie werden die Personen erneut interviewt.

Gibt es schon erste Ergebnisse?

Uns liegen inzwischen die Ergebnisse der ersten Tranche von April vor: Es verwundert nicht, dass Menschen im unteren Einkommensdrittel weniger häufig Homeoffice machen als Menschen mit höherem Einkommen: Das liegt daran, dass ihre Arbeit oftmals stärker praktisch ausgerichtet ist. Aber auch Menschen in Führungsfunktionen sind weniger zu Hause, da sie in ihrer Einrichtung vor Ort die Verantwortung halten müssen.

Zudem verzeichnen Menschen im unteren Einkommensdrittel stärkere Einkommenseinbußen durch Kurzzeitarbeit – sozialpolitisch ist das natürlich hochrelevant. Es ist auch interessant, dass die Selbsteinschätzung der allgemeinen wirtschaftlichen Sorgen im April stark gestiegen ist – und zwar für alle Gruppen. Fragt man allerdings nach den persönlichen wirtschaftlichen Sorgen, ist der Anstieg deutlich geringer. Das war beim Börsencrash 2008 genauso und lässt auf die Stärke des Sozialstaates schließen.

Worum wird es in den nächsten drei Veranstaltungen gehen?

Beim zweiten Termin am 16. Juni wird eine am Tropeninstitut des Klinikums der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität erhobene Covid-Studie vorgestellt. Dort werden seit April Mitglieder von 3000 Münchener Haushalten auf Antikörper getestet. Zusätzlich führen die Probanden ein Symptom-, Aufenthalts- und Kontakt-Tagebuch per App. Beim dritten Termin geht es um einen Überblick über Klinische Studien in Deutschland zur Therapie von Covid-19-Erkrankungen und damit einhergehenden Problemen. Bei der vierten Veranstaltung soll es um einen Überblick zum Stand der Impfstoff-Entwicklung gegen das Coronavirus gehen und die Überwachung beim Impf-Einsatz.

Die Fragen stellte Leon Holly

Weitere Informationen

www.vetmed.fu-berlin.de/einrichtungen/institute/we16/kolloquium

Die Zugangsdaten für das Kolloquium finden Sie hier.

Weitere Veranstaltungen

  • Dienstag, 16. Juni 2020, 17.00 bis 18.30 Uhr

Gemeinsam gegen Covid: Prospektive COVID-19-Kohorte München (KoCo19) – Michael Hölscher (Ludwig-Maximilians-Universität München)

  • Dienstag, 7. Juli 2020, 17.00 bis 18.30 Uhr

Covid-19 – Klinische Studien zur medikamentösen Covid-19-Therapie – Dr. Thorsten Ruppert (Verband Forschender Arzneimittelhersteller, Berlin)

Klinische Studien zu Zeiten von Covid-19 und biometrische Herausforderungen – Ursula Garczarek (Cytel, Hagen)

  • Dienstag, 28. Juli 2020, 17.00 bis 18.30 Uhr

COVID-19 vaccine development and plans for post-marketing surveillance – Brigitte Keller-Stanislawski (Paul-Ehrlich-Institut Langen)

Abschlussdiskussion mit allen Referentinnen und Referenten

Die erste Veranstaltung ist hier anzusehen.

Prof. (em.) Dr. Ulrich Rendtel, Institut für Statistik und Ökonometrie am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der Freien Universität Berlin, Telefon: 030 / 838-54205, E-Mail: ulrich.rendtel@fu-berlin.de