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In weiter Ferne, so nah

10. bis 19. September: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Exzellenzclusters Temporal Communities haben Lesungen und Diskussionen konzipiert für das 20. internationale literaturfestival berlin (ilb)

09.09.2020

Die Schriftstellerin Yvonne Adhiambo Owuor ist Artist in Residence am Exzellenzcluster Temporal Communities.

Die Schriftstellerin Yvonne Adhiambo Owuor ist Artist in Residence am Exzellenzcluster Temporal Communities.
Bildquelle: Alvin Pang

Eine kenianische Autorin unterhält sich mit einem Schriftstellerkollegen aus Singapur. Zu sehen ist das Gespräch zwischen Yvonne Adhiambo Owuor und Alvin Pang als Teil des diesjährigen internationalen literaturfestivals nicht nur für die Berlinerinnen und Berliner, die einen der Spielorte besuchen, sondern im Livestream weltweit. Wegen Corona konnten viele Autorinnen und Autoren nicht anreisen, lesen nicht vor Ort auf der Bühne und signieren Bücher – aber genau aus diesem Grund ist das Festival mit seiner Mischung aus Online- und Präsenzveranstaltungen vielleicht so international vernetzt wie niemals zuvor.

Autorinnen und Autoren der Dialogreihe „Global Encounters“ oder der Lesungsreihe „Literaturen der Welt“ sprechen, obwohl sie sich weit voneinander entfernt zum Teil sogar auf anderen Erdteilen befinden, miteinander. Zuschauerinnen und Zuschauer können sich das Gespräch in ihr Lebensumfeld, in ihre Wohnung holen.

Am Schreibtisch in Nairobi anstatt auf dem Campus in Berlin

Yvonne Adhiambo Owuor etwa, die als Artist in Residence am Cluster „Temporal Communities“ an der Freien Universität an ihrem neuen Romanprojekt arbeiten wollte. „Ich lebe nun an meinem Schreibtisch in Nairobi ein virtuelles Berlin“, sagt die Autorin im Interview via E-Mail. „Das ersetzt natürlich nicht die tiefe körperliche Erfahrung, einen Platz tatsächlich zu bewohnen, aber vielleicht ziehen so die Sehnsucht, das Gefühl der Abwesenheit in mein Werk ein.“

Die Kenianerin, die auf Englisch schreibt, wurde durch ihren Roman „Der Ort, an dem die Reise endet“ 2016 auch in Deutschland bekannt. Ihr neuer Roman „Das Meer der Libellen“ erscheint Ende September auf Deutsch, Lesungen werden jedoch vorerst nicht stattfinden können.

Sie liebe den Austausch mit dem Publikum sehr, schreibt sie in ihrer Mail. In ihrem neuen Buch beschäftigt sie sich mit Kaffee, hier hat sie noch viele Fragen an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland: zu Warenhäusern, Geschäften, Röstereien.

Der reale Austausch fehle, aber das digitale Gespräch schaffe andere Begegnungen. Die Möglichkeiten der digitalen Vernetzung nutzt die Schriftstellerin schon seit vielen Jahren engagiert, unter anderem als Herausgeberin und Redakteurin bei dem englischsprachigen Online-Magazin „The Elephant“.

Einen Dialog über den Indischen Ozean hinweg, der Singapur und Kenia verbindet, führte Yvonne Adhiambo Owuor für das ilb nun mit dem Lyriker und Essayisten Alvin Pang. Das aufgezeichnete Gespräch wird am Sonntag, 19. September, von 14 bis 15 Uhr „gesendet“.

Insgesamt ist der Exzellenzcluster mit elf Veranstaltungen auf dem Festival präsent; die Reihe „Global Encounters“ wurde von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mitgestaltet. Das neue Format spiegelt eine Grundidee des Clusters; im Mittelpunkt der Gespräche stehen, ausgehend von der Literatur, der interkulturelle Austausch und die textuellen Korrespondenzen über Räume und Zeiten hinweg.

Partnerschaft zwischen Cluster und internationalem literaturfestival

Eine Präsenzveranstaltung (mit gleichzeitiger Online-Übertragung) ist die Podiumsdiskussion „Don’t touch!“ im „silent green Kulturquartier“ in Berlin-Wedding, ebenfalls am 19. September. Mit dabei sind die beiden Autorinnen Elisa Aseva und Sarah Berger sowie die Publizistin und Verlegerin Christiane Frohmann.

Sarah Berger etwa hält unter anderem mit ihren „Tinder shorts“ die Absurdität der Verabredungs-Anbahnung auf der Dating-Plattform in kurzen Dialogen fest; Christiane Frohmann kommentiert mit ihren „präraffaelitischen Girls“ das Phänomen des „Mansplaining“ auf wunderbar-ironische Weise. „Sie nutzen die Sozialen Medien als Reflexionsraum über die Grenzen und Möglichkeiten dieser Plattformen“, erklärt Sara Ehrentraut, die am Exzellenzcluster die Partnerschaft mit dem internationalen literaturfestival koordiniert.

Eine andere Nähe zum Text

An der Diskussionsrunde nimmt auch der Literatur- und Medienwissenschaftler Roberto Simanowski teil, der sich in seinen Büchern vielfach mit den Auswirkungen digitaler Technologien auf das soziale Zusammenleben befasst hat und im Wintersemester 2020/21 als Distinguished Fellow am Cluster forschen und eine Masterclass unterrichten wird.

Moderiert wird die Veranstaltung von Nina Tolksdorf, die sich am Exzellenzcluster mit Formen digitaler Autorschaft beschäftigt. Die sozialen Medien könnten einerseits Nähe zu Autorinnen und Autoren herstellen, also dazu führen, dass man sich mit ihnen unterhalten kann und an der Entstehung von Literatur teilhat, sagt die promovierte Literaturwissenschaftlerin. Andererseits werde im digitalen Raum anders gelesen.

„Das permanente Vorhandensein von Texten führt auch dazu, dass man vieles überfliegt. Da stellt sich eine andere Nähe zum Text her.“ Diese „andere Nähe“ sei dabei nicht unbedingt schlechter als das kontemplative Lesen – was lange Zeit Maßstab für das „richtige“ Lesen gewesen sei.

Eine wichtige Diskussion auch für die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen des Clusters „Temporal Communities“, wie Sara Ehrentraut erklärt: In vergangenen Epochen, aber auch in unterschiedlichen Kulturen gebe es verschiedene Arten des Umgangs mit Literatur – „jenseits der vermeintlich klassischen Logik des gedruckten Buches. Dort gibt es andere kulturelle Praktiken, nicht das intensive, immersive und intime Lesen steht im Vordergrund.“

Neues Bedürfnis nach Dialog in Zeiten von Corona

Hat die Corona-Krise die Literatur im digitalen Raum noch einmal verändert, etwa dadurch, dass auch übliche Formen der Auseinandersetzung und Bewerbung mit Literatur – wie Lesungen – im Internet stattfinden mussten? Sara Ehrentraut meint, dass es ein neues Bedürfnis nach Dialog gebe und das klassische Lesungsformat aufgebrochen worden sei. Auch dazu werde am Cluster im Rahmen eines Projekts der Literaturwissenschaftlerin Lena Hintze geforscht.

Die Krise überdauern könnten im gesamten kulturellen Bereich „Wechselwirkungen zwischen analogen und digitalen Räumen“, eine zunehmend „fluide Veranstaltungsarchitektur“. Auch Nina Tolksdorf sieht neue Möglichkeiten für Gruppen, die bislang ausgeschlossen waren, sich zu beteiligen. „Allerdings ist eine stabile Internetverbindung in vielen Bereichen noch nicht garantiert, deswegen greifen auch hier wieder Exklusionsmechanismen.“ Während des Lockdowns hat die Wissenschaftlerin die Rückkehr von Tagebuchformaten beobachtet, Blogs etwa, die bereits in den Hintergrund getreten waren. Wahrscheinlich würden auch viele Bücher geschrieben, sagt sie. „Einige Menschen hatten viel Zeit, sich an ihre Texte zu setzen.“

So wie Yvonne Adhiambo Owuor, die aus Nairobi über ihr asiatisch-afrikanisches „Global Encounter“ auf dem Berliner Literaturfestival schreibt: „Das ist Teil unserer surrealen Zeit. Die Welt ist sehr dali-esk geworden. Alles ist auf einmal möglich, und das Unmögliche wird realistisch. Mit dem Adjektiv ,seltsam‘ lässt sich unser Menschsein nicht mehr richtig beschreiben.“

Das hybride, vernetzte Festival in diesem Jahr, so viel ist klar, sich auf eine ganz neue Art mit Literatur weltweit auseinanderzusetzen.

Weitere Informationen

Bitte beachten Sie, dass Sie sich auch für den Livestream Plätze reservieren müssen. Für die Präsenzveranstaltungen gelten besondere Bedingungen, die Sie auf der Website des internationalen literaturfestivals berlin finden.
Alle Veranstaltungen finden Sie hier.