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Pflanzen berühren und verstehen

Forschungsprojekt im Botanischen Garten untersucht die Alltagsbegegnung zwischen Menschen und Pflanzen auf ihr affektives Potenzial hin

30.09.2020

Das Verhältnis zwischen Mensch und Pflanzen wird in einem neuen Forschungsprojekt im Botanischen Garten untersucht.

Das Verhältnis zwischen Mensch und Pflanzen wird in einem neuen Forschungsprojekt im Botanischen Garten untersucht.
Bildquelle: Ch. Hillmann-Huber

„Wir Menschen denken anthropozentrisch, also vom Menschen aus und auf den Menschen bezogen und berücksichtigen dabei selten andere Lebensformen“, sagt Sozial- und Kulturanthropologin Sandra Calkins von der Freien Universität Berlin. „Gerade Pflanzen, die aus unserer Sicht passiv erscheinen und deren Ausdrucksformen wir nicht gut lesen können, nehmen wir nicht als empfindsames Gegenüber wahr.“ Vor dem Hintergrund von Klimawandel, Artensterben und der fragilen Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt könne es aber hilfreich sein, diese auf den Menschen zentrierte Haltung zu hinterfragen. In einem interdisziplinären Forschungsprojekt, unter Leitung von Sandra Calkins und Albert-Dieter Stevens, Leiter der Biologischen Sammlungen des Botanischen Gartens und Botanischen Museums Berlin (BGBM), wird die Alltagsbegegnung zwischen Menschen und Pflanzen im Botanischen Garten auf ihr affektives Potenzial hin untersucht.

Sinnliche Erfahrungen herausarbeiten

„Wir möchten insbesondere die Rolle sinnlicher Erfahrung in dieser Interspezies-Begegnung herausarbeiten und ihr Potenzial erforschen, um institutionelle Ordnungen, die Mensch und Pflanze kategorisch trennen, zu bestätigen oder zu transformieren“, sagt Sandra Calkins.

Das Projekt ist eingebettet in den Sonderforschungsbereich „Affective Societies“ der Freien Universität, der Affekte und Emotionen als grundlegende Momente des sozialen Miteinanders begreift. Ein Affekt sei eine spontane körperliche Reaktion, die in einer Begegnung reziprok zwischen Akteuren hervorgerufen wird. Von Emotion spreche man hingegen generell, wenn solche affektiven Dynamiken in kulturell etablierte Bahnen gelenkt werden: „Bei Affekten und Emotionen denkt man bislang vor allem an die Beziehungen zwischen Menschen und viel seltener an Beziehungen zwischen den Spezies“, sagt Sandra Calkins. Die Beschäftigung mit affektiven Dynamiken über die Speziesgrenzen hinweg rücke damit auch gesellschaftliche Fragen über den Umgang mit und die Verantwortung für nichtmenschliche Lebewesen in den Vordergrund.

Interviewen und beobachten

Die Forscherinnen und Forscher arbeiten dabei mit drei Gruppen von Menschen, die sich im Botanischen Garten und Botanischen Museum mit Pflanzen befassen: mit Botanikerinnen und Botanikern, mit Gärtnerinnen und Gärtnern sowie mit Besucherinnen und Besuchern. „Wir gehen davon aus, dass wir insbesondere von den Beschäftigten im Museum und Garten viel darüber lernen können, wie wir Pflanzen als andersartigen Wesen begegnen können.“

Zum einen gehe es dabei darum, von Alltagspraktiken der kenntnisreichen, routinierten Pflanzensorge sowie der geschulten Wahrnehmung von Pflanzenforscherinnen und -forschern zu lernen, und zum anderen um Erfahrungen, wie sie Menschen, die mit Pflanzen arbeiten, angesichts des weltweiten Artensterbens machen. „Gerade Botanikerinnen und Botaniker haben in ihrer Arbeit die Vielfalt der Spezies vor Augen und erleben ihr Schwinden teilweise als konkreten Verlust“, erläutert Sandra Calkins.

Die Untersuchungsmethoden der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind dabei facettenreich. „Wir führen Interviews, vor allem aber arbeiten wir mit der sogenannten teilnehmenden Beobachtung und begleiten die Beschäftigten in ihrem Arbeitsalltag und lernen ebenso im Tun“, erklärt Sandra Calkins. Für die Zeit nach der Coronavirus-Pandemie seien außerdem interaktive Ausstellungsformate wie ein haptic hortus im Botanischen Museum geplant, in dem Besucherinnen und Besucher Exponate durch Berührungen erfahren können.

Wie wollen wir mit unserer Umwelt umgehen?

Die Analysen von Sandra Calkins und ihren Kolleginnen und Kollegen konzentrieren sich auf die Mensch-Pflanzen-Beziehungen im institutionellen Rahmen des BGBM. Perspektivisch soll ihre Forschung aber zu größeren Überlegungen beitragen, etwa den theoretischen und politischen Konsequenzen, die sich ergäben, wenn Pflanzen als nichtmenschliches, aber empfindsames Gegenüber betrachtet würden.

„Diskussionen über Pflanzenrechte und was diese für unser gesellschaftliches Miteinander bedeuten könnten, stecken noch in ihren Anfängen“, erklärt Sandra Calkins. Der jüngste Diversitätsreport der Vereinten Nationen belege aber, dass in den kommenden Jahren rund eine Million Pflanzen- und Tierarten unwiederbringlich verloren gehen werden.

„Alle Lebensformen sind ökologisch miteinander verbunden – menschliches Leben ist ohne pflanzliches Leben nicht denkbar“, sagt sie. „Ich gehe davon aus, dass wir durch eine Veränderung unserer Wahrnehmung wichtige Erkenntnisse für diese politisch und gesellschaftlich relevanten Zusammenhänge gewinnen können. Es sind letztlich die Fragen des Umgangs mit der Umwelt, die unsere Zukunft als Spezies bestimmen.“