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Wissenschaftlich richtig, ethisch falsch?

Nächster Termin: 11. November, 18.15 – eine Vortragsreihe im „Offenen Hörsaal“ beschäftigt sich mit der Ambivalenz der Wissenschaften

09.11.2021

Zwischen Nutzen und Schaden: Wie verhalten sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dazu, dass ihre Forschung nicht nur für gesellschaftlich nützliche Ziele verwendet werden könnte?

Zwischen Nutzen und Schaden: Wie verhalten sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dazu, dass ihre Forschung nicht nur für gesellschaftlich nützliche Ziele verwendet werden könnte?
Bildquelle: Igor Kisselev/Shutterstock

„Dual Use“, duale Anwendung, das klingt technisch nüchtern und beschreibt doch ein dramatisches, manchmal tragisches Verhältnis von wissenschaftlicher Erkenntnis und ihrer Anwendung: Forschungsergebnisse können Leben retten und erhalten – oder aber zur Waffe werden, wenn sie missbräuchlich weiterentwickelt und eingesetzt werden. Wie verhält sich die Wissenschaft dazu, dass Forschungsprojekte nicht nur für gesellschaftlich nützliche Ziele verwendet, sondern auch für politische oder militärische Zwecke instrumentalisiert werden? Die Vorlesungsreihe „Ambivalenz der Wissenschaften – Nutzen und Schaden“ im Rahmen des „Offenen Hörsaals“, die der Biologe Professor Jens Rolff und der Friedens- und Konfliktforscher David Niebauer mit einer interdisziplinären Arbeitsgruppe konzipiert haben, geht diesen Fragen nach und diskutiert Antworten.

Herr Professor Rolff, Herr Niebauer, Sie mussten nicht in die Ferne schweifen, um Anschauungsmaterial für die Frage nach der Ambivalenz der Wissenschaften zu finden.

Jens Rolff: Ja, es gibt hier auf unserem Campus in Dahlem eine erstaunliche Dichte an historischer Grundlagenforschung von globaler Bedeutung, die dualen Nutzen hat. Da ist beispielsweise die Kernspaltung, die 1938 von Otto Hahn in Kooperation mit Lise Meitner erstmalig experimentell durchgeführt wurde. Ein zweites Beispiel ist die Stickstoffchemie von Fritz Haber: Aus ihr wurde der Stickstoffdünger entwickelt, was zu einem enormen Beitrag für die Welternährung geführt hat, und wofür Haber 1918 mit dem Chemie-Nobelpreis ausgezeichnet wurde.

Die Kehrseite ist die Anwendung als Sprengstoff. Die Forschung an Habers Institut floss auch in die Herstellung von Giftgasen und Pestiziden, die im Holocaust eingesetzt wurden. Unser Campus hat eine außerordentliche Bedeutung für die Wissenschaftsgeschichte. Ich denke, wir sollten sie nutzen, um davon ausgehend ein Thema zu verhandeln, das heute alle möglichen Forschungsbereiche betrifft.

Jens Rolff zufolge sind sich immer mehr Forschende bewusst, dass ihre Arbeit zweckentfremdet werden kann, zum Beispiel in der Waffentechnik.

Jens Rolff zufolge sind sich immer mehr Forschende bewusst, dass ihre Arbeit zweckentfremdet werden kann, zum Beispiel in der Waffentechnik.
Bildquelle: privat

David Niebauer: Es soll im Rahmen der Vortragsreihe einerseits darum gehen zu diskutieren, wie wir an diese Entdeckungen und Entwicklungen angemessen erinnern können. Und andererseits darum, zu überlegen, welche Lehren wir für die Gegenwart und die Zukunft ziehen wollen. Es sollte für uns, die wir hier arbeiten, Verpflichtung sein zu überlegen, wie wir Forschung ethisch betreiben können, und welche Verantwortung wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Gesellschaft gegenüber haben.

Wir sprechen hier nicht von fragwürdiger, gefährlicher Forschung etwa an Waffentechnik, sondern – drei Schritte vorher – von Grundlagenforschung, die dann später zu zerstörerischer Anwendung kommt?

Jens Rolff: Ja. Ein aktuelles Beispiel: In der ersten Vorlesung der Reihe hat Johannes Fritsch von der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina berichtet, wie beim Einsatz von Kampfdrohnen in Schwarmformation auf Erkenntnisse aus der Verhaltensforschung zurückgegriffen wird, also darüber, wie Vogel- oder Fischschwärme sich bewegen. Niemand in der Verhaltensforschung hat wohl damit gerechnet, dass sie in der Waffentechnik derart angewendet wird.

Nimmt das Phänomen zu? Sind neue Wissenschaftsbereiche wie Nanotechnologie, Genetik, Künstliche Intelligenz gefährlicher als Forschung zu anderer Zeit?

Jens Rolff: Es ist heikel zu sagen, dass das Schadenspotenzial von Wissenschaft heutzutage größer ist als früher, wenn man an die Kernforschung und die Atombombe denkt. Aber mir scheint, dass das Bewusstsein unter den Forschenden, dass ihre Forschung auch zweckentfremdet werden könnte, steigt. Es wird stärker und früher darüber diskutiert, welchen dualen Nutzen ein Forschungsbereich haben könnte.

"Als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen wir uns fragen, wie wir Forschung ethisch betreiben können", sagt David Niebauer.

"Als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen wir uns fragen, wie wir Forschung ethisch betreiben können", sagt David Niebauer.
Bildquelle: privat

David Niebauer: Ich denke, dass diese Fragen die Wissenschaft schon immer begleitet haben. Manche unserer Beispiele sind älter, man denke an die Stickstoff- oder Kernforschung. Aber natürlich kommen immer wieder neue Wissenschaftsbereiche in den Blick, die sich der Diskussion stellen müssen.

Gibt es Bereiche aus der Grundlagenforschung, in denen Sie sagen würden: Hier sollte Forschung begrenzt werden?

David Niebauer: Welche Forschung gar nicht erst umgesetzt werden soll, kann nicht von einzelnen Personen entschieden werden. Das sollte immer Gegenstand und Ergebnis einer wissenschaftsinternen, interdisziplinären Debatte sowie einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion sein. Auch dazu will unsere Vortragsreihe anregen.

Jens Rolff: Auch eine Prognose, welches Wissen gegebenenfalls negativ verwendet werden kann, ist sehr schwierig, wie das Beispiel der Fischschwärme zeigt. Natürlich wird schon länger diskutiert, ob es beispielsweise ethisch vertretbar ist, Viren im Labor gefährlicher zu machen, als sie sind…

… ein hochaktuelles Beispiel, die sogenannte „gain of function“-Forschung!

Jens Rolff: Dahinter steckt natürlich die Idee, sich auf diese Weise auf den Fall vorzubereiten, dass die Natur das Virus gefährlicher macht. Das ist aber nicht Grundlagenforschung im Sinne der reinen, von Neugier getriebenen Wissenschaft. Bei letzterer, würde ich sagen, gibt es wenige Bereiche, bei denen man im Voraus sagen kann: Das sollten wir nicht machen. Eher geht es darum, wenn Ergebnisse vorliegen zu erkennen, welchen Schaden und welchen Nutzen sie haben könnten. Um dann Vorkehrungen zu treffen, damit sie nicht destruktiv angewendet werden.

Der Virologe Professor Christian Drosten spricht am 16. Dezember mit der Journalistin Julia Vismann über „Wissenschaftskommunikation und ihre Fallstricke“. Moderiert wird das Gespräch von Jens Rolff und der Pharmazeutin Charlotte Kloft.

Der Virologe Professor Christian Drosten spricht am 16. Dezember mit der Journalistin Julia Vismann über „Wissenschaftskommunikation und ihre Fallstricke“. Moderiert wird das Gespräch von Jens Rolff und der Pharmazeutin Charlotte Kloft.
Bildquelle: Nina Diezemann

Im Rahmen der Vortragsreihe wird es im Dezember auch ein Gespräch mit dem Virologen Christian Drosten und der RBB-Wissenschaftsjournalistin Julia Vismann geben.

Jens Rolff: Dann wird es um Fragen der Wissenschaftskommunikation gehen. Vor allem darum, wie wir mit Open Science und dem Publizieren von wissenschaftlichen Erkenntnissen etwa auf Pre-Print-Servern umgehen, wenn sich damit – wie sich in der Corona-Pandemie häufig gezeigt hat – das Risiko verbindet, dass Forschungsergebnisse falsch genutzt oder missverstanden werden.


Die Fragen stellte Pepe Egger

Weitere Informationen

Programm „Ambivalenz der Wissenschaften – Nutzen und Schaden“

  • 11. November 2021, 18.45 – 19.45
    Die Entdeckung der Kernspaltung, Atomenergie und die Bombe
    Vortrag von Prof. Dr. Dieter Hoffmann, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin
  • 18. November 2021, 18.15 – 19.45 Uhr
    Zwischen internationaler Anerkennung und Verbrechen: Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik
    Vortrag von Dr. Manuela Bauche, Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft, Freie Universität Berlin
  • 25. November 2021, 18.15 –19.45 Uhr
    Verantwortung für die eigene Forschung
    Vortrag von Prof. Dr. Joachim Heberle, Arbeitsbereich Experimentelle Molekulare Biophysik und Ombudsman für die Wissenschaft, Freie Universität Berlin
  • 2. Dezember 2021, 18.15 – 19.45 Uhr
    Rechtliche Aspekte der „Dual Use“-Forschung
    Vortrag von Prof. Dr. Heike Krieger, Arbeitsbereich Öffentliches Recht und Völkerrecht, Freie Universität Berlin
  • 16. Dezember 2021, 18.15 – 19.45 Uhr
    Wissenschaftskommunikation und ihre Fallstricke
    Prof. Dr. Christian Drosten (Institut für Virologie) im Gespräch mit der Journalistin Julia Vismann (Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb), moderiert von Prof. Dr. Charlotte Kloft (Freie Universität Berlin) und Prof. Dr. Jens Rolff (Freie Universität Berlin)
  • 6. Januar 2022, 18.15 – 19.45 Uhr
    Gentechnik: Das Beispiel CRISPR/Cas
    Vortrag von Prof. Dr. Theodor Dingermann, Institut für Pharmazeutische Biologie, Goethe-Universität Frankfurt am Main
  • 13. Januar 2022, 18.15 – 19.45 Uhr
    Daten, Datenproduktion und Big Data
    Vortrag von Prof. Dr. Eirini Ntoutsi, Arbeitsbereich Künstliche Intelligenz und Maschinelles Lernen, Freie Universität Berlin
  • 20. Januar 2022, 18.15 – 19.45 Uhr
    Machine Learning und Künstliche Intelligenz
    Vortrag von Prof. Dr. Toby Walsh, Department of Computer Science and Engineering, University of New South Wales Sydney, Australien
  • 27. Januar 2022, 18.15 – 19.45 Uhr
    Citizen Science im Spannungsfeld von „Dual Use“
    Vortrag von Dr. Michael Weber, Rechenkraft.net e. V., Marburg
  • 3. Februar 2022, 18.15 – 19.45 Uhr
    Counter-forensics as Political Intervention
    Vortrag von Dimitra Andritsou, M.A., Forensic Architecture,Goldsmiths, University of London
  • 10. Februar 2022, 18.15 – 19.45 Uhr
    Ethik in den Wissenschaften: Was das Bildungssystem leisten müsste/ Resümee und zukünftige Perspektiven
    Vortrag von Dr. Julia Dietrich, Arbeitsbereich Didaktik der Philosophie und Ethik, Freie Universität Berlin / Prof. Dr. Jens Rolff und Mitglieder der Arbeitsgruppe „Dual Use“, Institut für Biologie, Freie Universität Berlin