100 Jahre Pflanzengenetik in Dahlem: Mehr auf dem Teller, im Trog und im Tank
Seit 100 Jahren werden auf dem Campus der Freien Universität Berlin die Gene von Pflanzen erforscht. Ein Rundgang im Albrecht-Thaer-Weg 6 führt auf den Spuren der Vergangenheit zur aktuellen Forschung
24.01.2023
Ein langer, massiver Holztisch umgeben von raumhohen Bücherregalen, davor eine grüne Kreidetafel: Eine Kulisse wie aus einem Film, der zu Beginn 20. Jahrhunderts spielt. Doch die Regale sind leer: Bücher und Fachzeitschriften stehen längst in der zentralen Bibliothek, viele erscheinen heute nur noch digital. Der imposante Saal wird nun für Seminare und Besprechungen genutzt. Er ist das Herzstück des Hauses im Albrecht-Thaer-Weg 6, das Teil eines landwirtschaftlich geprägten Ensembles mit Forschungsgebäuden, Gewächshäusern, Feldern und hohen Bäumen ist. Hier werden seit 100 Jahren die Gene von Pflanzen erforscht.
Pflanzenforschung für die Landwirtschaft
„Die Gebäude wurden für das Institut für Vererbungsforschung der Landwirtschaftlichen Hochschule errichtet, das zunächst in Berlin-Friedrichshagen und einer Außenstelle in Potsdam angesiedelt war, und in den Jahren 1922/1923 bezogen“, erzählt Thomas Schmülling; der Biologieprofessor forscht mit seiner Arbeitsgruppe für Molekulare Entwicklungsbiologie der Pflanzen und Angewandte Genetik seit vielen Jahren am historischen Standort in Dahlem. Bis 1925 wurden weitere Institute der Hochschule aus der Invalidenstraße 42 in der Berliner Innenstadt an den Stadtrand verlegt. Das Institut selbst ist noch älter: Erwin Baur, Arzt, Botaniker und Genetiker, hatte es 1914 gegründet, um erstmals in Deutschland Erkenntnisse der Genetik systematisch für die Landwirtschaft zu nutzen.
Die Genetik blühte damals als Forschungsrichtung auf, weil die von Gregor Mendel formulierten Vererbungsregeln wiederentdeckt worden waren: Der Augustinermönch, Lehrer und Wissenschaftler hatte diese Regeln bereits 1865 publiziert, ihre Bedeutung war in Fachkreisen jedoch lange nicht erkannt worden.
Seit den Anfängen des Instituts haben viele Forscherinnen und Forscher ihre Spuren im Hause hinterlassen und Beiträge zur Verbesserung von Nutzpflanzen geleistet. „Am Institut wurde unter anderem Roggen mit Weizen gekreuzt“, sagt Thomas Schmülling. Das Produkt, „Triticale“ genannt, versprach hohe Erträge, hohen Eiweißgehalt und geringe Ansprüche an Standort und Nährstoffversorgung. Heute werden mehr als 30 verschiedene Sorten davon angebaut und vor allem als Tierfutter genutzt. Auch mit Gemüsepflanzen, Erdbeeren, Levkojen und Obstbäumen beschäftigten sich die Genetikerinnen und Genetiker von damals.
Die traditionsreiche Vergangenheit ist noch präsent
In das Erdgeschoss des historischen Gebäudes im englischen Backstein-Stil sind längst moderne molekulargenetische Labore gezogen, in denen bis vor Kurzem Reinhard Kunze mit seiner Arbeitsgruppe für Molekulare Pflanzengenetik an ´Springenden Genen´ (Transposons) forschte. Um mehr Platz zu schaffen, entstand vor 35 Jahren nebenan ein Neubau, in dem die Molekulare Entwicklungsbiologie und Nachwuchsgruppen untergebracht sind. Die traditionsreiche Vergangenheit ist dennoch präsent: In einer Glasvitrine sind historische Fotos und Dokumente ausgestellt. Bei einem Rundgang im Institut zeigt Elke Diederichsen, die in der Angewandten Genetik eine unabhängige Arbeitsgruppe leitet, auf ein Bild von Elisabeth Schiemann.
Die Wissenschaftlerin war viele Jahre Assistentin von Erwin Baur und habilitierte 1931 mit einer Arbeit über die Genetik des Winter- und Sommertypus bei Gerste. An der Landwirtschaftlichen Hochschule hielt sie Vorlesungen über Samenkunde und Fortpflanzungsbiologie, nachdem sie aus politischen Gründen aus dem Hochschuldienst entlassen worden war, beschäftigte sie sich als freie Mitarbeiterin am Botanischen Museum und am Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie vor allem mit der Geschichte der Kulturpflanzen. Nach Elisabeth Schiemann ist der große Hörsaal im Gebäude der Pflanzenphysiologie und Mikrobiologie der Freien Universität in der Königin-Luise-Straße 12-16 benannt.
Der Institutsgründer Erwin Baur gilt als einer der bedeutendsten Genetiker der ersten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts, ein Pionier der Züchtungsforschung. Umstritten ist seine Rolle in der eugenischen Bewegung in Deutschland und seine Beteiligung am ersten deutschen Lehrbuch für Rassenhygiene. „Elisabeth Schiemann setzte sich hingegen für Verfolgte des NS-Regimes ein“, berichtet Thomas Schmülling.
Verschollende Dokumente im Keller
Er erinnert an eine abenteuerliche Entdeckung: Vor einigen Jahren fand die technische Assistentin Cordula Braatz in einem vergessenen Winkel des Instituts Hunderte Dokumente aus dem wissenschaftlichen Nachlass von Elisabeth Schiemann. Sie lagerten in einem Verschlag, dessen Zugang seit Jahrzehnten nicht geöffnet worden war. Der historische Fund wird nun in der Bibliothek am Botanischen Garten und Botanischen Museum aufbewahrt und bearbeitet.
Im Keller des Hauses, der früher auch als Eislager und Luftschutzraum diente, keimen heute Pflanzensamen in Petrischalen mit einem Nährmedium, Lampen simulieren das Tageslicht. Elke Diederichsen zeigt auf winzige grüne Keimlinge: Hybride, die aus einer Kreuzung von Raps mit Senf oder Rucola entstanden sind.
Raps hat weltweit Bedeutung als Quelle für Speiseöl, Tierfutter und Biodiesel. Dennoch sind solche Nutzpflanzen heutzutage nur noch selten in den Laboren und Gewächshäusern von Forschungseinrichtungen zu sehen, weil dort inzwischen überwiegend Grundlagenforschung an Modellpflanzen wie der Acker-Schmalwand (Arabidopsis thaliana) betrieben wird.
Elke Diederichsen arbeitet jedoch an der Entwicklung von Rapspflanzen, die resistent gegen den Rapsglanzkäfer sind, den häufigsten Schädling von Raps. „Er geht auf alles, was gelb ist, erst Raps, später im Jahr auch Löwenzahn. Wenn Sie in einem gelben T-Shirt am einem Rapsfeld vorbeigehen, lernen Sie ihn kennen.“ Auch Senf und Rucola, zwei dem Raps ähnliche Arten, haben gelbe Blüten, werden jedoch von dem Schädling gemieden. Die Biologin sucht nach Genen, die für diese Resistenz verantwortlich sind, und möchte sie durch Einkreuzung auf den Raps übertragen.
Einkreuzungen von Senf und Rucola sollen Schädlinge abwehren
Zusammen mit dem Dahlemer Julius-Kühn-Institut für Pflanzenforschung, das auf Inhaltsstoffe von Pflanzen spezialisiert ist, wird geprüft, ob etwa Glukosinolate dabei eine Rolle spielen. Diese sind für den scharfen Geschmack von Senf und Rucola verantwortlich, die Pflanzen produzieren sie zur Abwehr von Schädlingen und Krankheitserregern.
Im Gewächshaus erfasst die studentische Mitarbeiterin Carla Breitenreiter die Fruchtbarkeit der Hybridpflanzen – sie schaut nach, ob sie blühen, Pollen haben und Schoten mit Samen bilden. Die Samen will Elke Diederichsen wieder aussäen, um zu prüfen, wie gut sich die neuen Pflanzen gegen den Rapsglanzkäfer behaupten können. Sie arbeitet mit Züchtungsbetrieben zusammen, die aus ihren Pflanzen eigene Sorten entwickeln. Bis eine neue Sorte für den kommerziellen Anbau verfügbar ist, können viele Jahre vergehen.
Mehr Blüten, mehr Schoten, mehr Samen
Ireen Schwarz, Postdoktorandin in der Arbeitsgruppe von Thomas Schmülling, arbeitet daran, Ergebnisse aus der Grundlagenforschung an Arabidopsis auf Nutzpflanzen zu übertragen. Ihr Ziel ist es, Raps ertragreicher zu machen. Die Arbeitsgruppe hat in Arabidopsis Gene identifiziert, die den Hormonhaushalt steuern und auf diese Weise das Wachstum von Blüten und Wurzeln regeln. Ireen Schwarz konnte zeigen, dass diese Gene in Raps die gleiche Funktion ausüben. Mehr Blüten, mehr Schoten, mehr Samen – so lautet die Devise der Forscherin.
Ihre Rapspflanzen stehen in einer anderen Abteilung des Gewächshauses. Sobald sich Blüten ankündigen, wird eine durchsichtige, luftdurchlässige Haube aus Plastik über die Pflanze gestülpt, um unkontrollierte Bestäubung zu verhindern. Blüten, Stängel und Schoten werden akribisch gezählt und vermessen, denn nur so lassen sich die Ergebnisse statistisch auswerten. Am Ende werden von jeder Pflanze tausende kleine, braune Samen in einer Pergamenttüte gesammelt und auf einer empfindlichen Waage gewogen. Im Frühjahr möchte Ireen Schwarz die Samen im Freiland aussäen, um auch unter praxisnahen Bedingungen zu testen, ob die Ernte tatsächlich ertragreicher ausfällt.
„Vor einhundert Jahren konnte man nur die morphologischen, also mit bloßem Auge sichtbaren, Merkmale einer Pflanze untersuchen und daraus auf ihre Gene schließen“, sagt Thomas Schmülling. „Heutzutage können wir die Gene im Genom lokalisieren und verändern.“ Dennoch sei es keineswegs einfach herauszufinden, welche Kombination von Genen zu einer optimalen Ausprägung eines bestimmten Merkmals und damit beispielsweise zu höheren Ernteerträgen führen kann.