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Stonewall ist überall

Die kanadische Historikerin und Sexualforscherin Jennifer Evans hielt einen inspirierenden Vortrag zu queerer Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut

28.06.2023

Jedes Jahr fordern Menschen weltweit mehr LGBTQ+ Rechte beim Christopher Street Day. Die Paraden erinnern an den Stonewall-Aufstand 1969 in der Christopher Street, New York.

Jedes Jahr fordern Menschen weltweit mehr LGBTQ+ Rechte beim Christopher Street Day. Die Paraden erinnern an den Stonewall-Aufstand 1969 in der Christopher Street, New York.
Bildquelle: flickr: Vollformat Berlin (CC BY-SA 2.0)

Nach einer Polizei-Razzia brachen am 28. Juni 1969 Proteste vor der Bar Stonewall Inn in der New Yorker Christopher Street aus – ein Schlüsselmoment der modernen LGBTQ+-Bewegung. Was und wie von queerer Geschichte erzählt werden kann, war das Thema der Midterm Lecture im Sommersemester 2023 am Friedrich-Meinecke-Institut. Gehalten wurde die Vorlesung von der renommierten kanadischen Historikerin und Sexualforscherin Jennifer Victoria Evans.

Eine queere Geschichtserzählung – jenseits konventioneller Narrative, dafür plädiert Jennifer Evans. Die Professorin für Geschichte an der Carleton University in Ottawa, Kanada, ist eine Koryphäe. Ihre Forschung zu „Queer History“ und Solidarität wird weltweit in Wissenschaft und Kultur diskutiert. Sie untersucht die vielschichtigen Beziehungen zwischen queeren und trans Menschen, dem Staat und der Gesellschaft als Ganzes. Dabei schaut sie oft auch auf Deutschland, vor allem auf Berlin, und porträtiert queere Lebenswelten in ihrer Vielfalt.

Aber was lässt sich überhaupt über queere Erfahrungs- und Lebenswelten sagen? Wie lassen sich Erkenntnisse gewinnen? Diese beiden Fragen standen im Mittelpunkt der Vorlesung „The Queer Art of History: Queer Kinship After Fascism“, die Jennifer Evans am 21. Juni als Midterm Lecture am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität gehalten hat. 

Das englische Wort „queer“ wurde früher als Schimpfwort gebraucht für alle Menschen, die nicht heteronormativen Vorstellungen entsprechen. „Sonderbar“, „eigenartig“, „pervers“ – so die Übersetzung, bis sich die Beschimpften das Wort selbst aneigneten und es positiv umdeuteten. So wurde es zum Ausdruck von Selbstbehauptung und Stolz: ein Trotzwort, dessen Bedeutungswandel selbst Teil der queeren Geschichte ist. 

Die Geschichte queerer und trans Menschen sei in der Geschichtswissenschaft in Deutschland allerdings für lange Zeit ein kaum beachtetes Kapitel gewesen, stellt Jennifer Evans fest. Anders im angelsächsischen Raum, wo es deutlich mehr Forschungsinitiativen gibt als hierzulande. 

Die New Yorker Bar "Stonewall Inn" in der Christopher Street ist heute zum Erinnerungsort der LGBTQ+ Bewegung geworden.

Die New Yorker Bar "Stonewall Inn" in der Christopher Street ist heute zum Erinnerungsort der LGBTQ+ Bewegung geworden.
Bildquelle: flickr: NicestGuyEver, (CC BY-NC-ND 2.0)

Einige Kapitel queerer Geschichte – Wendepunkte, rechtliche Fortschritte und soziale Proteste – sind aber im kollektiven Gedächtnis der Deutschen durchaus präsent, trotz vieler Leerstellen. Die Stonewall-Unruhen 1969 in der New Yorker Christopher Street etwa. Das sei aber nur ein Teil der Geschichte, merkt Jennifer Evans an, in dem die Historikerin ein bestimmendes Narrativ erkennt, das queere Geschichte (zumindest aus westeuropäisch-amerikanischer Perspektive) auf eine einfache Erzählung herunterbricht: die Erzählung eines Befreiungskampfes. Ein Siegeszug, von der Unterdrückung und Illegalität, etwa während des Nationalsozialismus, hin zu gesellschaftlicher Anerkennung und rechtlicher Gleichstellung.

Eine vermeintliche queere Erfolgsgeschichte als Beweis für die Läuterung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg? In einer solchen Erzählung kämen viele Perspektiven zu kurz, betont Jennifer Evans. Der Fokus liege allzu oft ausschließlich auf schwulen Männern, auf legislativen Errungenschaften und auf Protesten. Das könne der Komplexität queerer Lebens- und Erfahrungswelten kaum gerecht werden. Deshalb fordert die Geschichtswissenschaftlerin eine intersektionale Betrachtungsweise: Menschen, die von mehreren Formen der Diskriminierung betroffen sind und die Entwicklungen der vergangenen Jahre unterschiedlich erfahren haben, sollten mehr Beachtung und Unterstützung finden. Lesbische Frauen, Transpersonen, LGBTQ+ Menschen mit Migrationsgeschichte etwa. Welche Formen von Identität werden vom Staat und von der Gesellschaft wertgeschätzt, welche nicht? „Es gilt, Rechte und Privilegien zu hinterfragen“, meint Jennifer Evans. Und es sei wichtig, den Fokus auf bisher Unbeachtetes zu richten. Die Geschichtswissenschaft müsse andere Fragen stellen und unterschiedliche Perspektiven dadurch sichtbar machen. Komplexe Mehrdeutigkeit und Subjektivität ergänzen das einfache Emanzipationsnarrativ. 

Was bedeutet es, in Deutschland queer zu sein? Auf diese Frage kann es Jennifer Evans zufolge keine einfachen Antworten geben. Die Historikerin erkennt hier eine Diskrepanz: zwischen dem Bedürfnis dazuzugehören und der Grundeigenschaft von Queerness, nämlich anders zu sein und heteronormativen Lebensentwürfen Alternativen gegenüberzustellen. Diese Alternativen müssten mehr Anerkennung erhalten.

Neuerdings werden queere und trans Menschen immer stärker zum Feindbild rechtskonservativer Menschen, eine Strömung, die bis in die Mitte der Gesellschaft dringt. Lang erkämpfte Rechte werden wieder in Frage gestellt. Das Narrativ einer queeren Erfolgsgeschichte stellt sich so als trügerisch heraus.  

Umso wichtiger ist die Solidarität mit queeren und trans Menschen. Auch innerhalb der LGBTQ+ Gemeinschaft braucht es mehr Zusammenhalt. Nur so kann das nächste Kapitel in der queeren Geschichte von Solidarität, Gemeinschaftssinn und Verbundenheit erzählen.

Jennifer Evans gilt als eine der wichtigsten Historiker*innen im Forschungsfeld der "Queer History" weltweit.

Jennifer Evans gilt als eine der wichtigsten Historiker*innen im Forschungsfeld der "Queer History" weltweit.
Bildquelle: Luther Caverly

Jennifer Evans ist seit 2017 Professorin an der Carleton University in Ottawa und seit 2016 Mitglied der Royal Society of Canada. Auf der Grundlage von Kultur- und Sozialtheorien untersucht die Historikerin die Beziehungen zwischen queeren und trans Personen, dem Staat und gesellschaftlichen Vorstellungen von Gemeinschaft. Ihr Forschungsfokus ist breit: von der transnationalen Geschichte der Sexualität, des täglichen Lebens und der visuellen Kultur über Formen des Populismus bis hin zur Geschichte der Homosexualität im Nachkriegsdeutschland. Die Alexander von Humboldt-Stiftung zeichnete Jennifer Evans mit dem Konrad Adenauer-Forschungspreis 2023 aus. Der Preis ist auch mit einem Forschungsaufenthalt verbunden – Jennifer Evans wählte dafür das Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin aus. Dort befasst sie sich zum einen mit der Rolle des Drag in der queeren Geschichte Deutschlands ab 1945, zum anderen mit dem Medium der Fotografie und der sexuellen Revolution.