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Entstehen Skorpione aus gemahlenem Basilikum?

Bier, Brot, Wein oder Käse – viele Lebensmittel beruhen auf Fermentation. Über Jahrtausende war dieser Prozess den Menschen ein Rätsel, sie fanden erstaunliche Analogien und Erklärungen

05.07.2023

Christus in der Kelter; in: Kuttenberger Kantionale; Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Musiksammlung

Christus in der Kelter; in: Kuttenberger Kantionale; Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Musiksammlung
Bildquelle: Wikimedia Commons

Bei der Fermentation wandeln Mikroorganismen – Bakterien und Pilze – oder genauer Enzyme organische Stoffe in Säure, Gase und Alkohol um. Diesen Gärprozess haben Forschende aber erst in den vergangenen 150 Jahren weitgehend entschlüsselt. Den wissenschaftlichen Durchbruch brachten unter anderem Louis Pasteur, der Mitbegründer der medizinischen Mikrobiologie, sowie die beiden deutschen Chemiker Justus Liebig und Eduard Buchner. Auf ihren Erkenntnissen baut unser heutiges naturwissenschaftliches Verständnis von der Fermentation auf.

Aber schon in der Antike versuchten Menschen, die Vorgänge zu verstehen. Gelehrte, Alchemisten und Ärzte fanden fantasievolle Erklärungen. „Es entstanden viele unterschiedliche, teils aus heutiger Perspektive kuriose Theorien, die den Welt- und Naturvorstellungen der jeweiligen Zeit entsprachen“, erklärt Carmen Schmechel. Die promovierte Wissenschaftlerin am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin erforscht die Kulturgeschichte der Fermentation. „Dabei handelt es sich auch um eine Geschichte der menschlichen Beobachtungsgabe, der Imagination und des Wissensfortschritts – über Jahrtausende hinweg“, sagt die Philosophin, die unzählige antike, mittelalterliche und frühneuzeitliche Quellen zum Thema Fermentation durchforstet hat.

Eine uralte Kulturpraxis 

Lebensmittel fermentieren zu lassen, ist eine uralte Kulturpraxis. Der Vorteil: Fermentierte Lebensmittel sind haltbarer, bekömmlicher, und manche schmecken besser. Auch Ethanol – also Alkohol – entsteht bei der Gärung vieler organischer Sub­stanzen: ein Umstand, den sich schon Menschen der Frühgeschichte zunutze machten, um sich zu berauschen oder zumindest kein keimbelastetes Wasser trinken zu müssen. Der erste archäologisch nachweisbare „Alkopop“ aus Trauben, Reis, Weißdorn und Honig wurde vor rund 9000 Jahren in China getrunken. 

Die Ursprünge des Weins liegen auf dem Gebiet des heutigen Georgiens. Schon vor mehr als 8000 Jahren fanden erste Traubenlesen statt. Wein wurde gekeltert und kultisch überhöht – etwa im antiken Griechenland, wo der Weingott Dionysos verehrt wurde, oder später im Christentum als Blut Jesu. Auch Bier gehört zu den ältesten verarbeiteten Lebensmitteln der menschlichen Zivilisation: ein Kulturprodukt, das schon im antiken China und Ägypten gebraut wurde. Die Hauptzutaten waren Wasser und Getreide. Das Getreide wurde aber natürlich auch für ein weiteres Grundnahrungsmittel gebraucht – Brot. Auch hier spielt Fermentation eine zentrale Rolle. 

Käse wiederum hat ebenso eine lange Kulturgeschichte hinter sich, wie archäologische Funde bezeugen. Die vermutlich früheste Form des Käsegenusses – laut Emil Hoffmann, Verfasser des „Lexikons der Steinzeit“ – klingt etwas unappetitlich: Jagende Menschen der Frühzeit haben wohl den halbverdauten Mageninhalt von milchsäugenden Kälbern – fermentierten Labquark als Urform des Käses – gegessen.

Die Fermentation gab Rätsel auf 

Carmen Schmechel ist Medizin- und Wissenschaftshistorikerin und forscht am Institut für Philosophie zu chemischen und medizinischen Theorien der Frühen Neuzeit.

Carmen Schmechel ist Medizin- und Wissenschaftshistorikerin und forscht am Institut für Philosophie zu chemischen und medizinischen Theorien der Frühen Neuzeit.
Bildquelle: Erika Borbély Hansen

Die Menschen rätselten lange Zeit, wie die „Verwandlung“ all dieser Lebensmittel durch Gärung zu erklären ist. Die ersten schriftlichen Quellen dazu stammen aus der Antike. „Über Jahrtausende war Fermentation ein höchst umstrittenes Phänomen in der Geschichte des Wissens“, betont Carmen Schmechel. Menschen beobachteten Gärungsprozesse, etwa die Transformation von Traubensaft zu Wein und schließlich zu Essig, und fragten sich, ob es noch weitere ähnliche Naturprozesse gab.

Sie brachten den Vorgang mit allen möglichen Wandlungserscheinungen in Verbindung – in der Physiologie und Alchemie – und stellten Hypothesen auf. „Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit vermuteten Gelehrte, dass Metalle im Innern der Erde fermentieren, sich reinigen und so zu reinem Gold werden“, sagt Schmechel. Große Reichtümer vor Augen, versuchten Alchemisten bei Experimenten diese Metall-Gold-Verwandlung nachzuahmen – etwa mithilfe des sagenumwobenen Steins der Weisen.

Andere Gelehrte wollten über Jahrhunderte mit Edelmetallen Krankheiten heilen. Sie verabreichten aurum potabile, „trinkbares Gold“. Alkohol versetzt mit Blattgold sollte als Lebenselixier und Allheilmittel den menschlichen Körper reinigen. „Den Menschen war oft bewusst, dass sich ihre Vorstellungen von Fermentation nicht auf jeden Sachverhalt übertragen ließen, sie sahen aber dennoch ähnliche Transformationsprozesse am Werk – im menschlichen Körper, in Weinfässern oder im Inneren der Erde“, sagt Schmechel. Sie erkannten dabei ein Grundprinzip des Werdens und Wandelns, das die Natur bestimmt.

Die Fermentation wurde im Zuge dieser Überlegungen mit Verwesung verknüpft – und dadurch mit Krankheiten. In der griechischen Antike entwickelte sich etwa die Miasma-Theorie: Demnach entstünden bei Gärungen im Innern der Erde Metalle. Zugleich bildeten sich aber auch giftige Gase, die an der Erdoberfläche austräten oder direkt von Lebewesen aufgenommen würden. Diese Giftstoffe seien für verschiedene Krankheiten verantwortlich. Auf diese Weise erklärten sich Gelehrte im Mittelalter Epidemien, etwa den Ausbruch der Pest im 14. Jahrhundert. 

Lange wurde auch über die „spontane Generation“ diskutiert – die Idee, durch Fermentation entstünden kleine Tiere oder Ungeziefer. Jan Baptista van Helmont, ein Alchemist des 17. Jahrhunderts, vertrat etwa die Vorstellung, dass sich aus einem dreckigen Hemd mit Weizen durch Putrefaktion, also Verwesungsprozesse, Mäuse bilden könnten. Oder dass aus Basilikum, zermahlen zwischen zwei Ziegelsteinen, mit der Zeit Skorpione entstünden. Seine Theorie wurde dann empirisch entkräftigt. Die Grundidee, der zufolge Fermentation Stoffe verwandelt, erschafft und Lebewesen hervorbringt, hielt sich in ähnlicher Form von der griechisch-römischen Antike bis in die europäische Neuzeit.  

Heute voll im Trend

Die Kulturgeschichte der Fermentation zeigt, wie Menschen Naturphänomene beobachten, analysieren und deuten. Sie berufen sich dabei auf ihr eigenes Vorwissen, auf ältere Quellen, auf religiöse Vorstellungen und nicht zuletzt auf ihren großen Einfallsreichtum – die wissenschaftliche Kreativität. Der Einsatz der Fermentation, um Lebensmittel herzustellen, ist genauso Teil der menschlichen Kultur wie die Ideengeschichte, die Welt- und Naturvorstellungen mit der Fermentation verknüpft. Bei all ihren Hypothesen beschritten die Menschen früherer Zeiten oft Irrwege – etwa in der Alchemie oder in der Medizin. 

Neuerdings ist ein regelrechter Hype um die Fermentation ausgebrochen: Kimchi, Kombucha, Brottrunk, Milch- oder Wasserkefir. Fermentierte Lebensmittel sollen eine positive Wirkung auf das Mikrobiom haben. In Maßen genossen, können sie die Darmgesundheit fördern und das körperliche und seelische Wohlbefinden steigern. Damit beginnt ein neues Kapitel in der Kulturgeschichte der Fermentation.

Das alles im Hinterkopf behaltend blicken wir jetzt vielleicht mit anderen Augen auf unser nächstes Käsebrot oder Glas Wein – und auf das inzwischen gelöste Rätsel ihrer Herstellung, das Menschen so lange beschäftigt hat.