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Wie alles begann

Seit jeher versucht der Mensch, seine Ursprünge
 zu ergründen, er erzählt Geschichten, wie alles entstand und wurde, wie es ist. Eine Forschungsgruppe untersucht die anthropologischen Mechanismen dieser Erzählungen und befragt ihre auratische Macht

03.12.2023

Prometheus ist eine der größten Sagengestalten der griechischen Antike.

Prometheus ist eine der größten Sagengestalten der griechischen Antike.
Bildquelle: http://www.philamuseum.org/collections/permanent/104468.html 

Der Mensch, ein Trockennasenprimat aus der Familie der Hominiden, stammt ursprünglich aus Ostafrika. Von dort aus verbreitete sich Homo sapiens auf dem gesamten Erdball – und überall erzählten und erzählen sich die Vertreterinnen und Vertreter dieser Spezies Geschichten über ihre vermeintliche Herkunft, über den Anfang der Zeit und die Entstehung ihrer Kultur.

Diese Erzählungen sind mehr als nur Fantasie und Fiktion. Sie geben Antwort auf die großen Ur-Fragen: Was ist der Mensch? Woher kommen wir? In jeder Kultur entstanden eigene Mythen und Geschichten, um sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Aber wie funktionieren diese Erzählungen, denen wir auch heute noch allenthalben begegnen? Welchen Zweck erfüllen sie? Wie stiften sie Sinn und Identität? Und vor allem: Warum sind wir so fasziniert von ihnen?

„Seit jeher erzählen sich Menschen solche Geschichten – sie blicken zurück entlang eines imaginären Zeitstrahls, der die Gegenwart an die Anfänge zurückbindet“, sagt Susanne Gödde, Professorin für Religionswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Menschen erklären sich so ihre Gegenwart. Sie erfinden ihre Vergangenheit, wobei gegenwärtige Fakten und retrospektive Fiktion miteinander verschmelzen.

Nicht immer ist klar, wozu ein Gründungsmythos dient: „Welches politische Selbstverständnis vermittelt etwa die mythische und mörderische Geschichte von der Gründung Roms durch Romulus, der seinen Bruder Remus der Sage nach aus Neid tötete?“, fragt Susanne Gödde.

Die Narrative des Anfangs 

Die Wissenschaftlerin analysiert Formen, Funktionen und Bedeutungen solcher Erzählungen. Ihr Forschungsgegenstand: Sagen, Mythen und Legenden der griechisch-römischen Antike. Viele davon werden noch heute erzählt und immer wieder neu gedeutet – in Büchern, Filmen und Serien.

Etwa in der Filmreihe „Percy Jackson“ oder in Erzählungen über den prometheischen Frankenstein und den Vatermörder Ödipus. In den Geschichten geht es um basale Konflikte und Affekte des menschlichen Daseins und Miteinanders. Um philosophische, psychologische, politische und gesellschaftliche Fragen.

Susanne Gödde leitet eine interdisziplinäre Forschungsgruppe, die sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit Narrativen des Anfangs in Wissenschaft und Literatur befasst. Analysiert werden unter anderem Erzählungen über die Entstehung der Welt, über die Ursprünge der Menschheit und der Kultur, aber auch Legitimationsnarrative politischer Konflikte.

All diese Narrative erheben den Anspruch, die Gegenwart – das, was ist – aus der Vergangenheit heraus erklären zu können. Die erzählerische Form, die das Vergangene zur Erklärung der Gegenwart heranzieht, nennt man Aitiologie. Der Begriff leitet sich ab von „Aition“, dem griechischen Wort für Anfang, Grund, Begründung.

Aitiologische Mythen beziehen sich auf eine graue Vorzeit und deren Spuren in der jeweiligen Gegenwart. „Mythologische Erzählungen werden nicht von geheimnisvollen Instanzen erlassen, sondern von Menschen erdacht“, betont Susanne Gödde. Sie seien Formen der Selbstbestimmung und Selbstreflexion, quasi ein anthropologisches Experimentierfeld. Einfach gesagt: Der Mensch denkt darüber nach, wie er in größere zeitliche Zusammenhänge eingebunden ist.

„Dabei verfolgen diese Narrative immer auch eine gewisse Agenda“, gibt Susanne Gödde zu bedenken. Manche dienten einem politischen, propagandistischen Zweck. Etwa die mythologisch-historischen Ausführungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin über die Ursprünge des russischen Reichs und der Kiewer Rus. Dies zeige, wie Gründungsmythen missbraucht werden können, erläutert die Wissenschaftlerin. Putin rechtfertige damit seinen verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Menschen können sich der Forscherin zufolge durch Mythen eine Identität erschaffen, um die eigenen Ursprünge zu verklären. Die nicht gerade bescheidene Patrizierfamilie von Gaius Julius Cäsar etwa gab vor, vom trojanischen Prinzen Aeneas und von der Göttin Venus abzustammen. „Identitätspolitisch halte ich Mythen für gefährlich, weil sie zum Instrument werden, um einfache Lehren zu vermitteln, auf bestimmte Ideen einzuschwören und Ansprüche zu untermauern“, stellt Susanne Gödde heraus.

Im Vergleich dazu erscheinen Schöpfungsmythen weniger eindimensional. Im Schöpfungsbericht im Alten Testament wird eine dramatische anthropologische Abstiegsgeschichte entworfen: die Verbannung des Menschen aus dem Paradies. Ähnlich in der griechischen Mythologie, in der der Mensch vom Goldenen Zeitalter abgefallen ist und im entbehrungsreichen Eisernen Zeitalter leben muss. Eine Erzählung des Niedergangs und moralischen Verfalls, wie Susanne Gödde konstatiert.

Mythen waren mehr als Fiktion  

Mythen erheben in der Regel keinen Anspruch auf absolute Gültigkeit wie etwa religiöse Lehren, behaupten aber, einen wahren Kern zu besitzen. Zweifel an diesem Wahrheitsanspruch kam schon in der Antike auf. Für griechische Denker – für Platon zum Beispiel – stand der vermeintlich irrationale Mythos im Gegensatz zum Logos, zum Menschenverstand, der Beweise verlange. Mythen seien demnach bloße Erfindungen.

Aber ganz so schlicht war das damalige (wie heutige) Verständnis von Mythen dann doch nicht. Antike Dichterinnen und Dichter wie auch heutige Kulturschaffende schöpften und schöpfen aus der Mythologie. „Die Griechen konstruierten sich eine mythische Frühgeschichte, wohlwissend, dass sie konstruiert ist“, sagt Susanne Gödde. Fiktion besaß somit eine gewisse Form von Gültigkeit. Es gab kein Entweder-Oder zwischen fantastischer Erzählung und Wahrheit. So besuchte Alexander der Große während eines Feldzuges Troja und gedachte seines Idols Achilles. Die Grenzen zwischen Mythologie und Geschichte waren fließend.

Die Gegenwart begreifen

Aber auch moderne wissenschaftliche Erkenntnisse werden in aitiologische Narrationen eingepasst. Die Urknall-Theorie beschreibt den Ursprung des Kosmos, trägt also auch die Merkmale einer Entstehungsgeschichte. Allerdings stützt sich die Theorie auf physikalisch-mathematische Indizien. Auf Evidenz. Auch die mythologischen und religiösen Erzählungen vom Anfang stellen Evidenz her – durch Imagination und Rhetorik.

Solche Narrative ordnen die Vergangenheit und erklären sie. Das verbindet die Genesis, die christlich-jüdische Schöpfungsgeschichte, die Ilias, moderne Troja-Verfilmungen und Big-Bang-Vorstellungen. Menschen erzählen sich Geschichten von den Anfängen, um die Gegenwart zu begreifen. So sagen diese Erzählungen auch mehr über die Erzählenden aus als über die Vergangenheit selbst. Von der Frühzeit über die Antike bis heute: Diese überzeitliche Form des erklärenden und deutenden Erzählens gehört zum Menschsein dazu.